Kompromissorientierung
Die Bereitschaft, sich auf die andere Partei einzulassen, deren Sichtweisen zu hören, mit dem Ziel, einen für beide Konfliktparteien akzeptablen Kompromiss zu finden, ist in hohem Maße förderlich für eine friedliche Konfliktbearbeitung.
Kompromissorientierung spiegelt sich sowohl in den EU-Verträgen als auch an vielfachen Beispielen von Konfliktsituationen zwischen Mitgliedsstaaten der EU wider. Axt/Schwarz/Wiegand führen dafür zum einen den „Luxemburger Kompromiss“ an, der das Streben nach Konsens auch für Entscheidungen bekundet, die vertraglich eigentlich als Mehrheitsentscheid zu treffen wären. Des Weiteren weisen sie auf den Vertrag von Amsterdam hin, der sich in Fragen der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik die Möglichkeit des Verzichts auf eine Mehrheitsentscheidung vorbehält, wenn ein Staat höhere nationale Interessen vorbringt. Als drittes Beispiel für die „feinnervige Struktur der elitären Verhandlungsprozesse und Kompromissbildungen“75 wird der „Kompromiss von Ioannina“76 genannt, der bei Ablehnung einer Mehrheitsentscheidung des Rates durch eine Gruppe von Staaten vorsieht, dass der Rat alles daran setzen muss, um innerhalb einer angemessenen Frist zu einer für alle zufrieden stellenden Lösung zu gelangen.77 Diese Regelungen zeigen, dass es in Konflikten innerhalb der Europäischen Union stets darauf ankommt, einen Konflikt zu de-eskalieren und Kompromissbereit zu verhandeln, um dabei die Interessen aller zu wahren, sodass sich möglichst keine Lager der Gewinner und Verlierer formieren.
Somit sollen im Rahmen dieser Variable die Konfliktparteien auf ihre Kompromissbereitschaft geprüft werden. Diese konstituieren sich aus verschiedenen Akteursgruppen: zum einen den politischen Playern, die in den meisten Fällen auch die Verhandlungspartner darstellen werden. Dies können zum einen Mitglieder der Regierung, evtl. das Staatsoberhaupt selbst sein, aber auch Angehörige des Parlaments oder anderer politischer Institutionen, Oppositionelle, politische Gruppierungen oder Ähnliches. Dies hängt auch von der Verfasstheit der Konfliktparteien ab, denn nicht immer bilden diese einen Staat mit Staatsgewalt; vor allem dann nicht, wenn es sich um einen innerstaatlichen Konflikt handelt und die Konfliktparteien sich als sehr asymmetrisch zueinander darstellen. Ferner ist bei der Beurteilung besonderes Augenmerk auf die Bevölkerung zu richten, denn nicht zwangsläufig ist das Tun der Verhandlungspartner an die Öffentlichkeit gebunden: Eine Regierung beispielsweise handelt in dem Interesse, wiedergewählt zu werden, und versucht u. U. deshalb im Sinne der Mehrheitsbevölkerung zu handeln, sofern sich eine Mehrheit für eine bestimmte Position findet. Darüber hinaus ist auch die Rolle der Medien zu beachten; diese stellen zum einen einen demokratischen und damit auch europäischen Grundwert dar:
„Informationen sind der erste Schritt zu Veränderungen (…). Wo Medien nicht über Unrecht, Machtmissbrauch oder Korruption berichten können, findet auch keine öffentliche Kontrolle statt, keine freie Meinungsbildung und kein friedlicher Ausgleich von Interessen. Pressefreiheit ist die Basis einer demokratischen Gesellschaft.“78
Zum anderen kommt ihnen darüber hinaus auch besondere Geltung in der Transformation von Gesellschaften als auch in Konfliktsituationen zu:
„Da die Art und Weise, wie informiert wird, Konflikte mit konstituiert, bedient sich die organisierte Gewalt auf dem ‚battlefield of meaning' der Medien, um den Gegner anzugreifen, Desinformation zu verbreiten und unangenehme Tatsachen zu verschleiern. Dem entspricht das Gewicht der Medien in der konstruktiven Konfliktbearbeitung.“79
Daher ist es von Interesse, bei der Untersuchung der Europäischen Konfliktregelungskultur auch die Medienlandschaft zu betrachten und zu hinterfragen, welche Inhalte sie präsentieren, wie sie diese präsentieren und unter welchen Bedingungen sie arbeiten: Können die Reporter frei und unabhängig berichten oder werden sie in ihrer Berichterstattung über den Konflikt unter Druck gesetzt, möglicherweise sogar bedroht? Stehen hinter ihren Agenturen politische Auftragund Finanzgeber?
Medien, die zwar von ihrer Freiheit Gebrauch machen, unabhängig über den Konflikt zu berichten, dabei aber eigene Sympathien in der Weise darstellen, dass sie den Konflikt anheizen, anstatt zu regeln und Kompromissbereitschaft auszuweisen, können auch kontraproduktiv wirken. Insofern reicht eine Medienfreiheit allein nicht aus, sondern erforderlich ist auch ein verantwortungsvoller Umgang der Journalisten mit ihrer Macht, nicht nur zu informieren, sondern auch Meinungsbildung betreiben zu können.
Insgesamt können angelehnt an Glasl, der hinsichtlich des Konfliktgegenstands von issues spricht, bei der Variable Kompromissorientierung folgende Fragen als Orientierung gelten: Welche issues bringen die Konfliktparteien vor und wie decken sich diese? Wie weit sind die jeweiligen issues der Gegenseite bekannt? Wie weit sind die Konfliktparteien auf ihre issues fixiert? Gibt es Kompromissbereitschaft? Findet sich eine Möglichkeit, die issues zu verknüpfen, also einen Kompromiss einzugehen?80 Für diese Untersuchung ist es hilfreich, als Maßstab ein Konzept einer idealtypischen Beilegung des Konflikts anzulegen, also eine Lösung des Konflikts, mit der alle Konfliktparteien einen zumutbaren Kompromiss eingehen würden. Oftmals liegt ein solches Konzept bereits in Form eines Entwurfs vor, wie beispielsweise der von dem UN-Generalsekretär Kofi Annan aufgezeigte Plan zur Lösung des Zypernkonflikts.81 Anderenfalls sollte versucht werden, solch einen Vorschlag, welchem die Parteien – eine entsprechende Kompromissorientierung vorausgesetzt – zustimmen würden, zu konstruieren.