1912 bis 1945: Die Balkankriege: Kosovo wird Teil Serbiens – unruhige Zeiten im Ersten Weltkrieg folgen
Den Balkankriegen war der schrittweise Zusammenbruch des Osmanischen Reiches vorangegangen, der von nationalstaatsbildenden Prozessen begleitet wurde. Während dieser die Staaten Montenegro, Rumänien sowie Serbien hervorbrachte, deren Souveränität 1878 auf dem Berliner Kongress anerkannt wurde, blieben die albanischen Unabhängigkeitsbestrebungen zunächst ungehört.115 Die Außenpolitik der neuen Balkanstaaten bezeichnet Edgar Hösch als „nationalistischen Irredentismus“116, dessen Traum vom nationalen Großreich sich im „Wettlauf um die Aufteilung der osmanischen Restgebiete auf europäischem Boden“117 ausdrückt. Als Rechtfertigung für die jeweilige Inbesitznahme eines Territoriums als eigenes Staatsgebiet dienten entweder der Verweis auf das neue Selbstbestimmungsrecht oder der Verweis auf historische Rechte. Wie Holm Sundhausen anmerkt, sei diese Argumentation eine eher „unheilvolle Mixtur“ gewesen: „Wo die Anwendung des Selbstbestimmungsrechts versagte (weil die Angehörigen der eigenen Nation in der Minderheit waren), klammerte man sich an ‚historische Rechte'.“118
Zwei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg brachen dann in Südosteuropa die Balkankriege aus, die abermals eine neue Grenzziehung forderten und dabei dem steten Wunsch der Anhänger eines souveränen Albaniens Rechnung trugen. Die Unabhängigkeitserklärung Albaniens Ende 1912 wurde vor allem von Wien und Rom unterstützt, da man sich somit einerseits eigene Optionen offenhielt und andererseits die serbische Expansionspolitik eindämmen sowie den Serben ihren Zugang zur Adria versperren konnte. Nichtsdestotrotz ging Serbien als Gewinner aus der Botschafter-Konferenz der Großmächte (Österreich-Ungarn, Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Italien und Russland) in London 1913, also den Verhandlungen zur Beendigung des Ersten Balkankrieges, hervor. Mit russischer Unterstützung durfte Serbien Kosovo in sein Königreich eingliedern.
„Seit 1913 gehört dieses überwiegend albanisch besiedelte Land zu Serbien. Dieser rein diplomatische, territoriale ‚Kompensationsakt', den Petersburg für seinen Schützling Belgrad erzwungen hat, wird eine der gefährlichsten Brandregionen des Balkans begründen!“119
Des Weiteren wurde Montenegro mit stark von Albanern besiedelten Gebieten bedacht, sodass insgesamt etwa ein gutes Drittel der Albaner außerhalb des neu gegründeten Staates Albanien lebte. Die Frage, wie man mit den Albanern in Serbien umgehen würde, soll der damalige serbische Ministerpräsident folgendermaßen beantwortet haben:
„Wir werden sie serbisieren, und wenn sie sich nicht serbisieren lassen, werden wir sie vertreiben, und wenn sie sich nicht vertreiben lassen, werden wir sie umbringen.“120
Tatsächlich proklamierte Serbien, man habe Kosovo befreit, während gleichzeitig serbische Truppen und paramilitärische Einheiten gegen die kosovoalbanische Bevölkerung vorgingen. Es kam zu Massenfluchten, Vertreibungen, Morden und Zwangsbekehrungen in großem Stil.121 In seinen Aufzeichnungen bezeichnet der zeitgenössische österreichische Sozialist Leo Freundlich die Gräueltaten gar als „albanisches Golgatha“122. Ein Grund für die Feindseligkeit war, dass Albaner mit Türken gleichgesetzt wurden, die es zu bekämpfen galt. „Schließlich hielten sie den Albanern vor, sich nicht am Krieg gegen die Türken beteiligt, sondern bis zuletzt am Osmanischen Reich festgehalten zu haben.“123 Ein anderer Grund war es schlichtweg, statistisch die serbische Bevölkerung zu stärken, um einen besseren Standpunkt in der Rechtmäßigkeitsfrage bezüglich der Einnahme der genannten Landstriche zu haben.124
Noch im selben Jahr der Londoner Verhandlungen wurde der Zweite Balkankrieg geführt, angezettelt von Bulgarien, das sich unter anderem von seinem schnellen Eingreifen die Eroberung Makedoniens erhoffte. Der Plan scheiterte und bereits einen Monat nach dem Angriff kam es zu einem Friedenschluss, der vorsah, dass Makedonien geteilt würde: Serbien und Griechenland waren die Begünstigten. Doch auch Rumänien sowie das einst bekämpfte Osmanische Reich und der Kriegstreiber Bulgarien gingen nicht leer aus. Letzterer hatte mit tiefgreifender Unterstützung Russlands gerechnet – die wieder einmal Serbien zuteil wurde –, wurde jedoch enttäuscht und suchte daher im Folgenden Verbündete in Wien.
Als Ergebnis der Balkankriege resümiert Weithmann, die Balkanstaaten seien Objekte, nicht Subjekte der großen Politik. Kein einziges Problem sei gelöst worden; stattdessen wären Feindschaften aufrechterhalten worden, die je nach Interessenslage von den Großmächten genutzt werden konnten.125
Im Ersten Weltkrieg wurden daraufhin die deutschen und habsburgischen Truppen enthusiastisch in Kosovo empfangen. Das Gebiet wurde der Verwaltung Österreich-Ungarns bzw. Bulgariens unterstellt und die Mittelmächte diskutierten sowohl eine Annexion Kosovos als auch den Anschluss an Albanien. Gegen Ende des Krieges zeichnete sich jedoch eine Wende ab und Serbien konnte die besetzten Gebiete wiedererlangen. Kosovo gehörte von nun an zum im Dezember 1918 neu gegründeten jugoslawischen Staat, in dem Kosovo als von den Serben „befreites“ Gebiet galt. Es folgten Jahre der Zurückdrängung und Unterdrückung der albanischen Bevölkerung, die mit einer serbischen Kolonialisierungskampagne einhergingen. Durch diese Politik provozierte albanische Widerstandsbewegungen waren nur wenig erfolgreich.126 Stattdessen führte die Repression und Marginalisierung der KosovoAlbaner zu deren Abschottung gegenüber den staatlichen Organen. Man organisierte sich vielmehr in „patriarchalen Haushalte(n), die in ausgeprägte verwandtschaftliche Netzwerke eingebunden“127 waren.128 Für Serben war es derweil nicht sonderlich attraktiv, in die ökonomisch rückständige Region, die mit schlechter Infrastruktur, Mangel an Bildungseinrichtungen und Gesundheitsversorgung aufwartete, abzuwandern. Die Kolonialisierungspolitik scheiterte, sodass ein Abkommen mit der Türkei geschlossen wurde, das die Umsiedlung der kosovo-albanischen Bevölkerung in die Türkei forcieren sollte.129
Der Zweite Weltkrieg brachte nochmals Änderungen für die kosovo-albanische Bevölkerung mit sich: Ein großer Teil ihrer Siedlungsgebiete wurde mit Albanien zu einem Großalbanien zusammengeschlossen, dass zunächst unter italienischer, später unter deutscher Herrschaft stand. Während sich die Albaner relativer Autonomie erfreuten und sogar eine eigene albanische Verwaltung etablierten, wurden die einstigen serbischen Kolonisten gewaltsam vertrieben.
„Und wiederholt haben albanische Nationalisten mit den Gegnern ihrer Gegner zusammengearbeitet (…)! Ohne Zweifel, nicht wenige Albaner waren Kollaborateure und Sympathisanten der Nazis.“130
Die Logik, der die deutsche Neuordnung der Gebietszuteilung folgte, war laut Weithmann dieselbe, wie sie bisher stets in der Region von den Großmächten angewandt wurde: Die regionalen Konflikte wurden geschürt und für die Erreichung eigener Ziele genutzt; dazu gehörte auch die „wehrwirtschaftliche Ausbeutung“ wie bspw. der Trepca-Mine, die zu einer der wichtigsten Rohstoffquellen der Militärindustrie in der Region geworden war.131
Währenddessen formierten sich die Widerstandskämpfer zum einen in der kommunistischen Befreiungsarmee mit Josip Broz alias Tito an der Spitze, zum anderen in den nach Großserbien strebenden Tschetniks. Die beiden Partisanengruppen sagten nicht nur den Besatzungsmächten, sondern auch sich gegenseitig den Kampf an. Titos Militäroperation war in beiderlei Hinsicht erfolgreich. Zudem konnte er sich bei den Alliierten als provisorischer Regierungschef Jugoslawiens etablieren. Diese erneute Wende bedeutete den Abzug zunächst der italienischen wie dann auch den Abzug der deutschen Truppen. Lendvai bemerkt dazu, dass Jugoslawien im Zweiten Weltkrieg und danach als das erste Land galt, „das sich aus eigener Kraft befreit und
durch eine mächtige Partisanenbewegung mehr als jeder andere besetzte Staat zum Sieg über Hitler-Deutschland beigetragen hat“.132 Weithmann bilanziert die Kriegsjahre derweil folgendermaßen:
„Ein Vernichtungsund Vergeltungssturm ohne Beispiel ist in den Jahren von 1941 bis 1945 über Jugoslawien hinweggefegt und hinterlässt ein ruiniertes Land. Man schätzt den Gesamtverlust an Menschen auf etwa zwei Millionen. Der größere Teil davon verlor an den innerjugoslawischen Bürgerkriegsfronten sein Leben.“133