1945 bis 1986: Hoffnung und Ernüchterung: Von Kosovo in Titos Jugoslawien bis Milosevics Machtergreifung
Dass in den Nachkriegsjahren die Idee eines „ethnisch gereinigten“ Großserbiens nicht weiterverfolgt wurde, war somit der kommunistischen Widerstandsbewegung zu verdanken, die nach Kriegsende als Kommunistische Partei Jugoslawiens mit Tito als gewähltem Ministerpräsident an der Spitze regierte. Gleichzeitig versiegte aber auch der Wunsch mancher nach einem Großalbanien.134 Wie aus Aufzeichnungen Enver Hoxhas135 hervorgeht,
nannte Tito damals folgende Begründung dafür:
“Kosovo and the other Albanian regions belong to Albania and we shall return them to you, but not now because the Great Serb reaction would not accept such a thing.”136
Dieses Zitat spiegelt wider, was Tito oftmals in der Literatur unterstellt wird: Er hielt die Föderation nicht aus einer Ideologie heraus oder dem Glauben an den Vielvölkerstaat zusammen, sondern durch pragmatische, wenn auch teils brutale Entscheidungen. Mazedoniens als auch Montenegros Ansprüche auf Kosovo wurden nicht weiter ernsthaft verfolgt, sodass sich nach Gefechten zwischen albanischen Nationalisten und den serbischen Kräften in Verhandlungen Kosovo als autonomes Gebiet innerhalb Serbiens durchsetzte. Somit bestand das neue, föderale Jugoslawien nun aus sechs Teilrepubliken137 sowie der autonomen Region Kosovo-Metohija138 und der autonomen Provinz Vojvodina. Der Unterschied zwischen dem Status einer Region und Provinz wurde rechtlich nicht näher definiert, jedoch mutmaßt Malcolm, dass die Provinz etwas höher in der Rangordnung stand, womit Kosovo den untersten Rang im neuen Staatsgebilde eingenommen hatte.139 Unter Tito erlangten die Kosovo-Albaner weitgehende Minderheitenrechte und territoriale Autonomie, die jedoch mehr theoretischer Natur waren.140 Schlüsselpositionen in der öffentlichen Verwaltung wie beispielsweise dem Gerichtswesen wurden vornehmlich mit Serben besetzt. Dies führte dazu, dass die albanische Sprache – nun offiziell gleichgestellt mit Serbisch – oft tatsächlich nicht als
Amtssprache genutzt wurde. Teilweise fehlte schlichtweg kosovo-albanisches Personal. Dies stellte auch die Bildungseinrichtungen vor ein großes Problem: Zwar durften nun Schüler in Albanisch unterrichtet werden, was aber aufgrund von Lehrermangel nicht immer möglich war – bei einer geschätzten Analphabetenrate von 74 Prozent der über Zehnjährigen bedenklich. Des Weiteren blieb die wirtschaftliche Lage in Kosovo hinter den anderen jugoslawischen Regionen zurück. Das Durchschnittseinkommen in Slowenien betrug das Dreifache dessen in Kosovo. Die wenigen sich entwickelnden Industriezweige boten zu wenige Arbeitsplätze für die am schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe in Jugoslawien. Vor allem aber hatten die Kosovo-Albaner unter einem wachsenden Misstrauen der jugoslawischen Geheimpolizei zu leiden, die ebenso zum Großteil aus serbischen Offizieren bestand. Malcolm bezeichnet deren Vorgehen als Obsession, Kosovo-Albaner des Waffenbesitzes zu beschuldigen. Dabei wurden ganze Dörfer abgeriegelt, die Bewohner verhört und misshandelt.141 Erst nach dem Sturz des machtvollen Geheimdienstchefs Aleksandar Rankovic142 1966, der maßgeblich für die Unterdrückung verantwortlich war, verbesserte sich der rechtliche Status der Region Kosovo.143 Nachdem die „Kosovo-Republika“Rufe immer lauter geworden waren, wurde Kosovo in einer Verfassung – wie auch die Provinz Vojvodina – 1974 mit den anderen jugoslawischen Republiken weitgehend gleichgestellt und erhielt dadurch einen eigenen Sitz im Staatspräsidium.144 Die Kosovo-Albaner wurden damit zwar als Nationalität anerkannt, der Status als Nation blieb ihnen jedoch verwehrt. Es wurde unterschieden zwischen Völkern ohne Nationalstaat außerhalb der jugoslawischen Föderation, denen eine Republik zugestanden wurde, und jenen mit Nationalstaaten – wie den Tschechen, Ungarn und auch Albanern.145 „(…) this de facto status was not good enough for Kosovo Albanians.“146
Seit Ende der 60er Jahre hatte es bereits Verbesserungen auf dem Bildungssektor gegeben. Durch ein Abkommen mit Albanien wurde die Lehrerausbildung unterstützt; ferner wurden albanische Lehrbücher übernommen. Im Jahr 1969 wurde des Weiteren die erste kosovarische Universität eröffnet, in der sowohl in Albanisch als auch Serbisch unterrichtet wurde. Das neue Institut für Albanalogie sowie neue Kultureinrichtungen, das Aufstreben kosovo-albanischer Intellektueller – die zuvor unter Rankovic meist inhaftiert worden waren – und die Etablierung einer albanischsprachigen Elite in Wirtschaft, Verwaltung und Politik förderten ein neues nationales Selbstverständnis zutage, das „eine tiefgreifende Entfremdung und Polarisierung zwischen den Völkern“147 erreichte. Weithmann spricht von einer Albanisierung, die ebenso in Belgrad mit Argwohn betrachtet wurde wie die gleichzeitig zunehmende Korruption, Cliquenwirtschaft bei immer noch niedriger wirtschaftlicher Produktivität.148 Derweil konnte ein steter kosovo-albanischer Geburtenüberschuss mit einer damit einhergehenden Abwanderung von Serben verzeichnet werden.149
Die neu gewonnenen Rechte sollten bereits nach Titos Tod 1980 wieder in Frage gestellt werden.
Die Proteste dagegen begannen in Kosovo mit einem Studentenaufstand im Frühjahr 1980. Es waren weniger politische Forderungen, die die Studenten in Pristina auf die Straßen trieben, sondern vielmehr die Beklagung der schlechten wirtschaftlichen und sozialen Lebensbedingungen. „Die einen sitzen in Lehnstühlen während die anderen kein Brot zu essen haben“, sollen ihre Parolen gelautet haben. Schon nach wenigen Wochen mischten sich diese jedoch mit Rufen nach einer Republik Kosovo oder der Vereinigung mit Albanien. Der Aufstand schwappte auf andere kosovarische Städte über und wurde nicht länger nur von Studenten, sondern nunmehr auch von Arbeitern unterstützt. Die Polizei versuchte die Proteste gewaltsam niederzuschlagen; der Ausnahmezustand wurde verhängt, Panzer fuhren vor, Demonstranten wurden verhaftet und kamen zu Tode. Auch wenn das Anliegen der Akteure lediglich Kosovo betraf, so hatte ihr Protest doch Bedeutung für ganz Jugoslawien:
“The psychological impact of these events, in a country where such forms of open protest were virtually unknown, was enormous. Had the rioting been fully reported in the yugoslaw media it would have been even greater, but the fact that much information about the demonstrations was suppressed is itself a sign of how worried the governing circles were.”150
Auch Tim Judah versteht Kosovo als die größte Quelle der politischen Instabilität in Jugoslawien und sieht die Proteste 1981 als einen Anstoß für das erneute Aufflammen des Konfliktes zwischen Serben und Kosovo-Albanern. Den Protesten folgte eine vermehrte Abwanderung serbischer Bewohner aus Kosovo. Während auf der einen Seite ökonomische Beweggründe dafür verantwortlich gemacht wurden, wurden auf der anderen Seite Nachrichten über die Verfolgung von und Verbrechen an Serben in Kosovo sowie die Verwüstung von serbischen Kirchen und Grabstätten dafür verantwortlich gemacht.
„For every real incident, though, the rumour mill could fabricate a thousands more.“151 Petritsch kommt zu dem Schluss, dass es zweifellos durch politische und soziale Diskriminierung zu einer Verschlechterung der interethnischen Beziehungen Anfang der 80er Jahre gekommen war und diese neben
den wirtschaftlichen Problemen zu höheren Abwanderungen geführt hätten. Von einer gezielten Vertreibung bzw. einem Genozid zu sprechen hält er jedoch für abwegig. Diese Worte hätten damals lediglich dazu gedient, Stimmung gegen die kosovo-albanische Bevölkerung zu machen.152
Zwar stabilisierte sich nach den Protesten 1981 die politische Situation in den Folgejahren zunächst, verschärfte sich dann aber ab Mitte der 80er Jahre durch einen zunehmend nationalistischen Tonfall – sowohl auf serbischer als auch auf kosovo-albanischer Seite. Monnesland merkt an, dass kulturelle Unterschiede zuvor in Jugoslawien kaum eine Rolle für Serben außerhalb Kosovos gespielt haben und die neuerlichen Ressentiments gegenüber den Kosovo-Albanern größtenteils auf Unkenntnis basierten. Diese, mutmaßt er, hätten in den frühen 80er Jahren durch eine Versöhnungspolitik ausgeräumt werden und dadurch zu einer Beruhigung führen können.
Stattdessen wurden die Differenzen für die nationalistische Anheizung genutzt, um den persönlichen (macht)politischen Bestrebungen nachzugehen. Vor allem der Shootingstar der kommunistischen Partei Slobodan Milosevic erkannte das ungeheure Potenzial, das er aus dem Kosovo-Thema für seine eigene Sache nutzte.
„(…) der latente antialbanische Rassismus in der serbischen Gesellschaft wurden dann seit Mitte der 80er Jahre von Intellektuellen systematisch geschürt und seit 1987 vom neuen Präsidenten der Republik Serbien, Slobodan Milosevic, politisch instrumentalisiert.“154
Diese nationalistische Mobilisierung versprach ihm Machtergreifung und
-erhalt in Zeiten einer miserablen und sich stetig verschlechternden wirtschaftlichen Situation.