1986 bis 1999: Vom friedlichen Widerstand zur UCK: Die Gewalt eskaliert

Slobodan Milosevic, der seine politische Karriere in den 70er Jahren begann, wurde zunächst Chef der Kommunistischen Partei (KP) Belgrads und dann KP-Chef Serbiens und trat damit im Jahr 1986 die Nachfolge seines Mentors Ivan Stambolic an, der zum Präsidenten der Republik Serbiens gewählt worden war. Milosevic baute sich gezielt einen Machtapparat innerhalb der Partei auf, indem er enge Verbündete um sich scharte. Durch die Aufstände in Kosovo Anfang der 80er Jahre forderte man vom Präsidenten Stambolic eine schnelle Lösung in der Kosovo-Frage, die für nationalistische Kräfte die Abschaffung von Kosovo und Vojvodina bedeutete. Stambolic arbeitete jedoch zusammen mit den anderen Republiken an einer Verfassungsänderung, die die Stellung von Kosovo und Vojvodina innerhalb Jugoslawiens sowie innerhalb Serbiens neu regeln sollte. Die Änderungen, denen das Zentralkomitee zustimmte, sahen keinesfalls einen Verlust der verfassungsmäßigen Stellung der beiden autonomen Provinzen vor; stattdessen ging es vielmehr darum, gemeinsame, z. B. wirtschaftliche Interessen besser abstimmen zu können. Dadurch sollte den Provinzen die Möglichkeit genommen werden, für Serbien dringliche Entscheidungen einfach zu blockieren. Stambolic war sich also der Kosovo-Problematik durchaus bewusst und beauftragte die Serbische Akademie der Wissenschaften und Künste, eine Art Lagebericht über die aktuellen Herausforderungen und Lösungsansätze für Serbien zu verfassen. Im Jahr 1986 kam es zur inoffiziellen Veröffentlichung dieses sog. SANU-Memorandums, das von einer Kommission bestehend aus führenden Wissenschaftlern erarbeitet worden war.155 Während der erste Teil sich der aktuellen kriselnden Wirtschaftslage und den gesellschaftlichen Problemen widmete, wartete der zweite Teil mit Fragen zum Status und zur Nation Serbien auf.156

„Ihre Ausführungen waren ein Musterbeispiel für ‚nationale Metaphorik', für Larmoyanz, Selbstgerechtigkeit und nationalen Autismus: kein Wort über Versäumnisse und Fehler der serbischen Politik in Kosovo seit 1913, kein Wort über die Problematik ‚historischer Rechte', kein Wort über die Rechte anderer Nationen in Jugoslawien, stattdessen nur ein stupender Ethnozentrismus! Das verantwortungslose Gerede vom ‚Genozid' und vom ‚totalen Krieg' in Kosovo, die These von einer antiserbischen Verschwörung, die Behauptung, dass nur die Serben keinen Nationalstaat besäßen, die gebetsmühlenartig wiederholten Klagen über Serbenfeindlichkeit und die Beschwörung von Bedrohungsängsten auf der einen sowie auf der anderen Seite die unverhohlenen Aufforderungen an die Politiker Serbiens, ihre bisherige

‚Passivität' aufzugeben, legten das ideologische Fundament für den grundlegenden Wandel der serbischen Politik und des öffentlichen Diskurses in der zweiten Hälfte der 80er Jahre.“157

Stambolic verurteilte das Papier, wohlwissend, dass es gegen die Erfolge seiner offenen Politik arbeitete und dem nationalistischen Lager seiner Partei Auftrieb gab. „Das SANU-Memorandum hatte das zerstörerische nationalistische Feuer entfacht, in dem Jugoslawien brennen sollte.“158 Milosevic war bereit, Öl in dieses Feuer zu gießen, wenn es denn zum Nutzen der eigenen Karriere war. Er bekannte sich später offen zu dem Papier und nutzte es für politische Zwecke.

Als Meilenstein seiner Karriere wird oftmals Milosevics Auftritt am 24. April 1987 genannt: Als es bei einem Parteitreffen in Kosovo vor dem Gebäude zu Ausschreitungen kam, trat der bis dahin als unscheinbar wahrgenommene Politiker vor die Menge und beruhigte sie mit den später viel zitierten Worten „Niko ne sme da vas bije“, also „Niemand darf auch schlagen/prügeln“. Von da an wurde er als Nachfolger Titos gehandelt und als serbisches Idol gefeiert.159 Im selben Jahr schaffte er es, in der achten Plenumssitzung des Zentralkomitees der Serbischen Kommunistischen Partei die Macht seines Ziehvaters Stambolic sowie des liberalen Parteiflügels, der sich für eine „jugoslawische Perestrojka“ eingesetzt hatte, zu brechen. Von nun an kontrollierte er den Parteiapparat.160 Die gleichgeschalteten Massenmedien nutzte er als Propagandamaschine, mit der er die Massen mit seinen Parolen erreichen, manipulieren und mobilisieren konnte.161 Er ließ alte Mythen wiederbeleben, die seine feindlich-pathetische Rhetorik („Serbien wird groß sein oder es wird gar nicht sein.“162) unterstützten. 1989 trieb er dies auf die Spitze, indem er zur 600-Jahr-Feier der Schlacht auf dem Amselfeld163 vor einer Million Menschen mit der Unterstützung der serbisch-orthodoxen Kirche das serbische Volk auf erneute Kämpfe für das serbische Territorium einschwor. Im selben Jahr übernahm er das Präsidentenamt. In dieser Position setzte er durch das serbische Parlament eine Verfassungsänderung und damit die faktische Aufhebung der Autonomie der Provinz Kosovo durch.

„Once he had achieved his aim of abolishing provincial autonomy, he came to believe he could dominate the rest of Yugoslawia.“164 Laut Sundhaussen hätte dieser Schachzug von Milosevic – und nicht die zwei Jahre später erfolgte Unabhängigkeitserklärung Kroatiens und Sloweniens – die Demontage des jugoslawischen Staates eingeläutet. Milosevic veränderte die Stimmengewichtung durch die serbische Übernahme Kosovos und der Vojvodina sowie den erzwungenen Machtwechsel in Montenegro erheblich zu seinen Gunsten. Dies – und nicht etwa die jugoslawischen Völker, die nach Wegfall der titoistischen Repression nicht mehr hätten zusammen leben wollen – hätte die Föderation ins Wanken gebracht. Im April 1992 begründete sich als selbst ernannter Rechtsnachfolger des ehemaligen Jugoslawien die „Bundesrepublik Jugoslawien“ (BRJ) aus Montenegro und Serbien – einschließlich der Regionen Kosovo und Vojvodina – unter der Präsidentschaft Milosevics. Mit Erfolg, denn 1996 erkannten die ersten EU-Staaten die neue BRJ an, obwohl seitens des Europäischen Parlamentes die Voraussetzung einer Anerkennung die Beilegung des Konfliktes in Kosovo hätte sein müssen.165

Laut Hajrullahu nahmen die anerkennenden Staaten diese Empfehlung nicht ernst und die Eskalation der Lage in Kosovo in Kauf. Eine friedliche Lösung sei dadurch unmöglich geworden.166 Durch die Anerkennung wurde Belgrad indirekt zugestanden, dass das Kosovo-Problem eine innere Angelegenheit

sei, und eine Internationalisierung des Konflikts war somit schwierig geworden.167

Um grundsätzlich den Umgang mit den Nachfolgestaaten zu untersuchen, war bereits 1991 die sog. Badinter-Kommission von der Europäischen Gemeinschaft eingesetzt worden; sie sollte alle Rechtsfragen in Zusammenhang mit dem Zerfall Jugoslawiens klären. In ihrem Bericht im Januar 1992 entschied die Kommission, dass die aus den ehemaligen Teilrepubliken hervorgehenden Staaten das Recht als Nachfolgestaat geltend machen und somit auch die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen wahrnehmen können – Bosnien und Herzegowina vorerst ausgenommen. Ohne den Bericht abzuwarten, hatte Deutschland wenige Wochen vorher im Alleingang Slowenien und Kroatien anerkannt und damit für Verwunderung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft gesorgt, die sich gerade in der Etablierung einer Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik befand.168 Keine Beachtung fand die Anfrage Rugovas, auch den Status Kosovos in der Kommission zu behandeln. Alex J. Bellamy führt dies darauf zurück, dass es hier keinen bewaffneten Konflikt gegeben hatte und ein solcher auch nicht erwartet wurde sowie zudem den Beteiligten klar war, dass die Frage für Serbien besonders sensibel sei. Ferner wird hier ein weiteres Mal auf die Unterscheidung zwischen den Nationen und Nationalitäten hingewiesen: Letztere, zu denen auch die Kosovo-Albaner gehören, hätten bereits eigene Nationalstaaten (Albanien), während die Nationen wie bspw. die Kroaten kein Heimatland hätten.169 So wurde trotz der bereits offenkundig angespannten Situation in Kosovo die Möglichkeit eines eigenen Nationalstaates Kosovos in der Badinter-Kommission nicht näher in Erwägung gezogen.

In Kosovo wurde die Beschneidung der Rechte zunächst mit friedlichen Protesten und Streiks der albanischen Bevölkerung begleitet, während Truppen der Bundesarmee sogleich in den Kosovo verlegt wurden. Jegliche gewalttätige Aufstände konnten damit sofort niedergeschlagen werden. Demonstranten wurden zu Haftstrafen verurteilt, Intellektuelle in Isolationshaft genommen. Sämtliche Institutionen wurden „serbisiert“: Das kosovarische Parlament wurde aufgelöst, aus der Verwaltung wie auch den medizinischen und Bildungseinrichtungen sowie den öffentlichen Fernsehund Rundfunkanstalten wurden Kosovo-Albaner ausgeschlossen. Neue, von Belgrad erlassene Gesetze regelten ab jetzt das Zusammenleben. Gleichzeitig wurden Anreize zur Ansiedlung für Serben in Kosovo geschaffen und Serbokroatisch wurde zur einzigen Amtssprache erklärt. Dieses „Apartheid-System“170 beschreibt Petritsch wie folgt:

„Die informelle, institutionelle und ideologische Diskriminierung der Albaner wurde von Anfang an von Gewaltmaßnahmen gegen die Zivilbevölkerung begleitet. Neben den Einheiten der serbischen Sonderpolizei, die die Kontrolle über die Provinz übernommen hatten, waren es vor allem gewaltbereite Freischärlerverbände, die in Kosovo aktiv wurden.“171

Eine anfänglich bewaffnete Verteidigung der Kosovo-Albaner mündete schnell in einer organisierten, friedlichen Widerstandsbewegung. Als Gründe für den jahrelangen Gewaltverzicht wird zum einen die Aussichtslosigkeit des Kampfes mit Waffengewalt genannt. Grundsätzlich wollte sich Kosovo auch vor einem Krieg wie in Bosnien und der Gefahr vor einer ethnischen Säuberung entziehen. Zum anderen war es die Suche nach Aufmerksamkeit und Sympathie und letztlich Unterstützung der internationalen Gemeinschaft – die ihnen erst nach der späteren Gewalteskalation gewährt werden sollte. Die Anerkennung einer Republik Kosovo schien wahrscheinlicher, solange sich der „phantom state“ friedlich gab.172 Durch den Ausschluss der kosovoalbanischen Bevölkerung am öffentlichen Leben etablierte sich ein Parallelsystem, ein kosovo-albanischer Schattenstaat: Im Jahr 1991 ging Kosovo aus einem Referendum als unabhängiger und souveräner – jedoch international nicht anerkannter – Staat hervor. Ein Jahr später wurden von Serbien als illegal betrachtete Parlamentswahlen abgehalten. Die LDK-Partei, die Demokratische Liga des Kosovo, holte die meisten Stimmen. Gleichzeitig wurde Ibrahim Rugova zum kosovarischen Präsidenten gewählt. Das Schattendasein ging jedoch über die politische Ebene hinaus. Auch der Alltag wurde parallel organisiert; so wurde bspw. versucht, die medizinische Versorgung sowie die Schulbildung privat bereitzustellen.173 Mit dem Aufbau dieser parallelen Strukturen ging der Boykott „alles Serbischen“ einher. Oschlies gibt zu bedenken, dass diese Verweigerungshaltung Milosevic den Weg zu

einer Diktatur erleichtert hätte. Durch die Wahlboykotts gingen der Opposition Stimmen verloren; Milosevic konnte dadurch wiederum leicht Mehrheiten in Kosovo gewinnen.174 Der Wahlboykott war – so könnte man unterstellen – sicherlich von Milosevic einkalkuliert worden, der Kosovo demnach nicht nur als Propagandainstrument, sondern auch zur eigenen Machterlangung nutzte.175

Das Dayton-Abkommen ließ die Kosovo-Problematik weitestgehend außen vor. Die Kosovo-Albaner waren darüber in zweierlei Hinsicht enttäuscht: Erstens war kein Vertreter ihrer Regierung zu den Verhandlungen in Dayton eingeladen worden und zweitens sahen sie ihre „defensive Politik des zivilen Ungehorsams“176 nicht honoriert.

„Die zahlreichen Berichte über Menschenrechtsverletzungen wurden zwar international verurteilt, hatten aber keinen entscheidenden Einfluß auf die Politik des Westens gegenüber Jugoslawiens. Die große Anzahl an Stellungsnahmen, öffentlichen Erklärungen, Positionspapieren u. ä. der Internationalen Gemeinschaft trug nicht zu einer Lösung bei, sondern verstärkte den Eindruck der inkonsistenten politischen Einstellung gegenüber der Krise im Kosovo.“177

Es wurde der Eindruck erweckt, als hätte Dayton zwar ein Friedensabkommen mit Milosevic für Bosnien erreicht, dafür aber Kosovo verkauft, indem man ihn dort nahezu frei walten ließ.178 Während die internationale Gemeinschaft also mit Milosevic verhandelte, vermochte man die friedvolle Bewegung Rugovas nicht zu unterstützen, was den Eindruck für Oppositionelle erweckte, „westliche Regierungen schafften Stabilität auf dem Balkan lieber mit totalitären Führungspolitikern“179. Somit wurden andere Kräfte auf den Plan gerufen, die sich der steten Unterdrückung und der kosovo-albanischen

Bevölkerung annahmen und eine wirksamere Alternative zu den bis dato friedlichen Protesten anboten. Bereits 1993 hatte sich die UCK als kosovarische Befreiungsarmee gegründet, wurde jedoch von Präsident Rugova bis 1998 geleugnet. Rüb schätzt diese Vertuschungsversuche von Rugova als realitätsfern ein und zeigt auf, wie dessen Legitimität mit der Zeit ins Wanken geriet: Das Parlament hatte bisher nur einmal getagt, seine Amtzeit war theoretisch längst abgelaufen, Neuwahlen wurden nicht angesetzt.

„Es ist kein Zufall, dass der Prozeß der politischen Erosion um den zunehmend selbstherrlichen Präsidenten Rugova (…) mit der Herausbildung einer radikalen Widerstandsbewegung gegen das serbische Gewaltregime im Kosovo einherging. Die beiden Strömungen waren sich von Beginn an so fremd, dass daraus eine tiefe Feindschaft entstehen musste und eben keine gemeinsame politische Kraft erwachsen konnte.“180

Als sich die Situation 1997 nach einer gewaltsamen Auseinandersetzung mit der serbischen Polizei verschärft hatte, trat die UCK auf der Beerdigung eines der Opfer erstmals öffentlichkeitswirksam in Erscheinung, indem einige Kämpfer eine Art Kriegserklärung an die serbische Besatzungsmacht verlasen. Loquai identifiziert dies als Beginn des Bürgerkriegs.181 Im gleichen Jahr hatte die UCK durch die Unruhen im benachbarten Albanien profitiert: Die bisher fehlenden Waffen konnten nun vermehrt über die Grenzen geschmuggelt werden. Über die große Zustimmung in der eigenen Bevölkerung, einschließlich freiwilliger Rekruten, war die Befreiungsarmee selbst überrascht.182 In der Begründung dafür nennt Rüb die „verlorene Generation“, die herangewachsen war und

„in nicht anerkannten Schulen in ihrer Muttersprache ausgebildet, des Serbischen kaum mehr mächtig, ohne jede Aussicht, in dem Staat, dessen Bürger sie waren, jemals irgendein geregeltes Berufsleben führen zu können.“183

Die folgenden zwei Jahre waren geprägt durch gewaltsame Auseinandersetzungen, die viele Opfer forderten und Flüchtlingsströme in verschiedene europäische Staaten nach sich zog. Oft werden diese Flüchtlingsströme als Anstoß für die späte, aber dann aktive internationale Aufmerksamkeit für den Kosovo-Konflikt und den militärischen Aktionismus genannt. Zumindest war es „einmal mehr Gewalt – und nicht etwa der friedliche Widerstand –, der die Aufmerksamkeit der Großmächte auf die Kosovo-Problematik lenkte“.184

 
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