Exkurs: Der Mythos der Amselfeldschlacht

„Das serbische Volk verlor seinen Namen und Ruhm, Löwen wurden zu Bauern,

Die Feigen und die Habgierigen vertürkten sich, Was dem Türkensäbel entging,

Was den wahren Glauben nicht lästerte,

Was sich nicht in Ketten versklaven lassen wollte, Das flüchtete in diese Berge,

Zu sterben und das Blut zu vergießen,

Das Vermächtnis heldenhafter Ahnen zu wahren:

Den herrlichen Namen (Ruhm) und die heilige Freiheit. (…) Oh, Kosovo, schreckliche Schädelstätte,

Ein Sodom sollst du in Feuer aufgehen.“185

Der hier von einem montenegrinischen Bischof niedergeschriebene Schmerz drückt die gefühlte Niederlage der Serben bei der Schlacht auf dem Amselfeld bzw. dem Kosovo Polje im Jahr 1389 aus. Im Folgenden sollen die damaligen Geschehnisse kurz nachgezeichnet, die Rolle der Schlacht im historischen Kontext beleuchtet und deren Aufstieg zum serbischen Mythos erklärt werden.

Während der Herrschaft des 1331 gekrönten Zar Dusan erlangte das mittelalterliche serbische Reich seine größte Ausdehnung. Nach dessen Tod 1355 schafften es seine Nachfolger jedoch nicht, einen Zerfall des Reiches aufzuhalten. Die osmanischen Truppen waren in dieser Zeit hingegen sehr erfolgreich und eroberten auf ihrem Feldzug im 14. Jahrhundert zunehmend balkanische Gebiete. Der Grund für den Erfolg der Osmanen war laut Hösch nicht nur deren militärische Überlegenheit, sondern auch die oftmals mangelnde Zusammenarbeit der christlichen Fürsten im Widerstand.186 Als sie die Gefahr durch die fremden Krieger letztendlich realisierten, koalierten sie jedoch unter der Führung Fürst Lazars und nahmen gemeinsam den Kampf gegen das Heer von Sultan Murad I. am 28. Juni 1389187 auf dem Amselfeld auf. Unter den Kämpfenden sollen auch viele Kosovaren unter der Führung Gjergi II. Balsha, Fürst der Albaner, gewesen sein. Sowohl der serbische als auch der osmanische Heerführer ließen in der Schlacht ihr Leben. Ein Sieger ging nicht eindeutig hervor, sodass Serbien zunächst nicht vollends unter die Herrschaft des Osmanischen Reiches fiel. Petritsch merkt an, dass die folgende, lediglich „lose Abhängigkeit“ zu wenig erscheine, um später den Amselfeld-Mythos entstehen zu lassen;188 und auch Sundhaussen schätzt die Schlacht als eine von vielen ein, deren „militärund politikgeschichtliche Bedeutung (…) vergleichsweise gering“189 sei. Nichtsdestotrotz reifte sie zu einem sagenumwobenen Mythos heran, der über Jahrhunderte tradiert wurde. Maßgeblich trug die serbisch-orthodoxe Kirche dazu bei, die Schlacht zu einem denkwürdigen Tag in der Geschichte der Serben zu machen: Sie stilisierte den Fürsten Lazar zum Märtyrer, der sich für das serbische Volk geopfert hätte und den sie sogar heilig sprach.190 Sie deutete „das serbische Sterben auf dem Amselfeld als Heimgang in das Himmelreich“191 und reicherte damit den irdischen Heldenkult um den tapferen Kämpfer um eine geistliche Verehrung an.192 In diesem Zusammenhang ist wichtig zu erwähnen, dass in dieser Zeit Kosovo das Zentrum serbischer Orthodoxie war. Neben den zahlreichen Klöstern und bedeutsamen Kirchen beherbergte Kosovo seit dem 14. Jahrhundert auch das Patriarchat in Pec. Darüber hinaus kam ihm auch politische Bedeutung zu, da nicht etwa Belgrad das Zentrum des serbischen Reiches darstellte, sondern bereits unter Zar Dusan Prizren serbische Hauptstadt war.193

Deschner und Petrovic zu Folge wurde jedoch erst gut vierzig Jahre nach der Schlacht die Mythenbildung angeheizt, indem man erstmals von einer serbischen Niederlage sprach194 und zudem Spekulationen über mögliche Verräter von Fürst Lazar nannte, wie Vuk Brankovic. Zu dieser Zeit befanden sich die serbischen und ungarischen Städte inzwischen in türkischer und ungarischer Hand, sodass man im Nachhinein den Tod Lazars als Beginn des Untergangs interpretiert:

„Da Lazar fiel, ging auch die Schlacht verloren. Die Identifizierung seines Todes mit der Niederlage auf dem Amselfeld und dieser mit dem Untergang des Serbenreichs wurde zu einer der Grundlagen des Kosovo-Mythos.“195

Im 19. Jahrhundert lebte dieser Mythos auf. Er inspirierte Künstler für ihre Arbeiten und diente gleichzeitig den politischen Führern dazu, gegen das Osmanische Reich zu mobilisieren und in die Schlacht zu ziehen. Im Jahr 1889 feierten schließlich Serben den 500. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld, teils in dem seit 1882 bestehenden Königreich Serbien, teils noch unter osmanischer oder österreichisch-ungarischer Fremdherrschaft stehend. Die Schlacht von Kosovo sollte nun jährlich zelebriert werden und mit ihr die Märtyrer. „An jedem dieser Gedenktage erinnerten orthodoxe Priester und Politiker ihr Volk an seine Pflicht, Rache für Kosovo zu nehmen und Serbien zu vereinigen.“196 Besondere Bedeutung erlangte der Mythos erneut rund 100 Jahre später, nach Titos Tod. Sowohl in dem Memorandum der Serbischen Akademie der Wissenschaften von 1986 als auch auf dem 600. Jahrestag der Schlacht wurde er für die Zwecke der damaligen politischen Elite missbraucht:

„Nicht dass Milosevic aus religiösen Gründen ein Interesse an den ‚heiligen Städten' der Serben in Kosovo oder am ‚serbischen Jerusalem' gehabt hätte (seine Kirchenpolitik widerlegt dies eindeutig); es ging ihm allein um Eroberung und Erhalt politischer Macht einer Blutund Boden-Ideologie.“197

Diese Eroberung schloss die Vision eines Großserbiens ein, für dessen Erlangung bzw. für dessen Vermarktung ihm der Kosovo-Mythos in die Hände spielte. So resümiert Holm Sundhaussen, dass der Kosovo-Mythos sich zwar nicht von anderen Mythen anderer Nationen unterscheide, sehr wohl jedoch

„die handlungsleitenden Auswirkungen, die der Mythos noch Ende des 20. Jahrhunderts entfalte“198. Gleichzeitig verhinderte er „bei vielen Serben das Aufkommen eines modernen, rationalen Geschichtsbewusstseins“199. Somit war der Mythos selbst zum Nährboden geworden, auf dem er über Jahrhunderte gedeihen konnte. In den zweitausender Jahren findet sich der direkte Verweis auf die Amselfeldschlacht und die damit einhergehende Nutzung des Kosovo-Mythos nicht mehr wie in den 1980er und 1990er Jahren. Sicherlich ist einer der Gründe, dass sich Politiker wie beispielsweise der serbische Präsident Boris Tadic bewusst von der Politik Milosevic abgrenzen und nicht durch ähnliche Rhetorik an diese erinnern wollen. Gleichzeitig ist es unter Umständen inzwischen jedoch auch nicht mehr notwendig, den Mythos so explizit anzusprechen: wie oben geschildert, hatte dieser sich bei großen Teilen der serbischen Bevölkerung über die Jahre manifestiert und eine Barriere für die differenzierte Betrachtung der Vergangenheit errichtet. Diese ist in den Statusverhandlungen durchaus von Bedeutung, beschränkt sie von Vorneherein den Korridor, in dem mögliche Zukunftsalternativen für Kosovo angedacht werden.

 
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