1999: Der NATO-Einsatz: Der Krieg ist zurück in Europa

Die internationale Gemeinschaft bemühte sich auf verschiedenen Wegen, der Gewalteskalation in Kosovo diplomatisch Einhalt zu gebieten. Während die Kontaktgruppe200 mit bilateralen Dialogversuchen scheiterte, versuchte der UN-Sicherheitsrat 1998, den Bürgerkrieg durch Resolutionen einzudämmen.

Bereits die Resolution 1160 des Sicherheitsrates vom 31. März 1998 verurteilte die Ausübung von Gewalt und terroristischen Handlungen aller Parteien und mahnte an, Verhandlungsgespräche über die politische Lösung der Kosovo-Frage aufzunehmen. Ferner wurde der Internationale Gerichtshof für das ehemalige Jugoslawien aufgefordert, mit der Sammlung von Informationen bezüglich der Gewalttaten in Kosovo zu beginnen, und er wies die BRJ zur Zusammenarbeit an.201 Doch sowohl die UCK als auch die serbischen Sicherheitskräfte und die jugoslawische Bundesarmee kämpften „mit nicht zu rechtfertigender Gewaltanwendung“202 weiter, sodass ein halbes Jahr später in der Resolution 1199 die Sorge um die anhaltenden Flüchtlingsströme ausgedrückt und vor einer humanitären Katastrophe in Kosovo gewarnt wurde. Da der Sicherheitsrat die Lage als Bedrohung für die Sicherheit der ganzen Region identifizierte, wurden die Parteien zu einer sofortigen Waffenruhe aufgerufen. Ferner wurde an den Bundesstaat Jugoslawien sowie die kosovo-albanische Führung appelliert, die humanitäre Situation zu verbessern und – erneut – einen konstruktiven Dialog zu führen, um eine politische Lösung des Konflikts herbeizuführen.203 Der russische Botschafter bei den Vereinten Nationen stellte klar, dass beide Seiten für die Gewaltanwendungen verantwortlich gemacht werden müssten und Unterstützung von außen für die kosovo-albanischen Kämpfer verurteilt werden müsste, während von amerikanischer Seite ausschließlich der serbischen Partei die Schuld zugeschoben wurde.204 Dies spiegelte die unterschiedlichen Fronten der Staaten wider: Während Russland und China beide auch hinsichtlich ihrer eigenen Minderheitenprobleme und separatistischen Bewegungen ein Eingreifen von außen verhindern wollten, waren die USA nicht bereit, die Gewalthandlungen, vor allem gegen die Zivilbevölkerung, länger zu tolerieren. Deutschland konnte eher aufgrund der eigenen Vergangenheit eine militärische Intervention nicht in Betracht ziehen. Für andere europäische Staaten spielten Gründe wie die eigenen Investitionen in Serbien eine Rolle oder – wie auch für Deutschland – die drohenden Flüchtlingsströme aus Kosovo. Ebenso wurden die politischen Kosten kalkuliert: Politik auf amerikanischer Linie widersprach der Stimmung in weiten Teilen der europäischen Bevölkerung, die von der Ablehnung US-amerikanischer Interventionspolitik bis hin zu einem allgemeinen, indifferenten Antiamerikanismus reichte.

Trotz der Zurückhaltung der europäischen Staaten wurde nur einen Tag nach Verabschiedung der Resolution 1199 die BRJ seitens der NATO eindringlich zur Einhaltung ermahnt. Ferner drohte das Bündnis als Konsequenz der BRJ einen möglichen Luftangriff an.206 Forderungen an die kosovo-albanische Seite blieben derweil dezent, sodass die NATO vollends die amerikanische Sicht der Dinge vertrat.207 Russland protestierte gegen die Mobilisierung der NATO und auch innerhalb des Bündnisses herrschte teilweise Skepsis über eine mögliche Militärintervention ohne UN-Mandat. Anfang Oktober traf der US-amerikanische Sondergesandte Richard Holbrooke auf Milosevic und forderte ihn, unterstützt von der Kontaktgruppe, zum sofortigen Ende der Kampfhandlungen, dem Rückzug der serbischen Truppen, dem uneingeschränkten Zugang von humanitären Hilfsorganisationen sowie der Ermöglichung der Flüchtlingsrückkehr auf. Des Weiteren sollten Verhandlungen auf Grundlage des Hill-Plans208 über eine Interimslösung für Kosovo beginnen.209 Milosevic stimmte den Forderungen zunächst zu und die beidseitigen Vereinbarungen über eine NATO-Luftüberwachung zur Kontrolle des Abzugs der serbischen Streitkräfte sowie über die Versendung einer OSZE-Mission bekamen durch die folgende Resolution 1203 am 24. Oktober 1998 zusätzlich Gewicht.210 Mitte Januar 1999 wurde durch das serbische Massaker von Racak jedoch deutlich, dass trotz teilweisem Abzug serbischer Sicherheitskräfte sowie des Militärs und der Stationierung von OSZE-Beobachtern das Milosevic-Regime keine ernsthaften Schritte zur Befriedung der Region unternommen hatte.

Die Verhandlungen von Rambouillet stellten einen letzten diplomatischen Versuch dar, den Präsidenten der BRJ zum Einlenken zu zwingen. Laut Giersch kennzeichneten vor allem drei Elemente die Gespräche: Erstens drohte die NATO mit Luftschlägen, falls die BRJ nicht dem Autonomieentwurf für Kosovo zustimmen sollte. Zweitens sollte diese Autonomie von NATO-Truppen militärisch überwacht werden und drittens saßen nicht mehr nur politische Vertreter Kosovos, sprich Ibrahim Rugova, sondern auch Vertreter der UCK und damit Hashim Thaci, am Verhandlungstisch.211

“Western Diplomats were exasperated at the extraordinary difficulties they encountered when trying to get the Kosovars to put together a single negotiating team. They thought that it stood to reason that, whatever the means they chose to imply, passive resistance or violence, all the Albanian political leaders wanted the same then, independence, and equally were all being asked to make the same sacrifice, that is to say, to accept autonomy.”212

Indes gab es keine Fassung eines möglichen Autonomieplans, dem sowohl die serbische als auch die albanische Seite gleichsam zugestimmt hätten. Die Taktik der internationalen Vermittler, die Statusfrage grundsätzlich auszuklammern und auf die Zukunft zu verschieben, war weder im serbischen noch im kosovo-albanischen Interesse. Die vorgeschlagene Stationierung von NATO-Truppen betrachtete Serbien als Angriff auf seine territoriale Integrität und als einen Verlust über Kosovo. Serbien verspielte „durch Starrsinn und Unbeweglichkeit eine an sich vorteilhafte Position“213, denn ebenso wie Serbien war die internationale Gemeinschaft nicht bereit, Kosovo in die Unabhängigkeit zu verhelfen. Die Kontaktgruppe, also das internationale Vermittlerteam, inzwischen bestehend aus dem EU-Vertreter Wolfgang Petritsch, dem russischen Beauftragen Boris Majorski und dem US-Botschafter Christopher Hill, konnte die Differenzen zwischen den Konfliktparteien nicht überwinden. Vielleicht auch deshalb, weil sie selbst keine einheitliche Strategie verfolgten. Den westlichen Vermittlern wurde ein Verlust von Neutralität vorgeworfen, da sie mit dem sog. Anhang B des entworfenen Abkommens von Rambouillet die Stationierung der 30.000 Mann starken NATO Friedenstruppe in Kosovo vorsahen und somit in den Augen Serbiens die Kosovo-Albaner übervorteilten. Dieser Truppe werden im Anhang weitgehende Rechte eingeräumt und sie konnte somit als weitgehende Einschränkung der Souveränität verstanden werden:

“NATO personnel shall enjoy, together with their vehicles, vessels, aircraft, and equipment, free and unrestricted passage and unimpeded access throughout the FRY including associated airspace and territorial waters. This shall include, but not be limited to, the right of bivouac, maneuver, billet, and utilization of any areas or facilities as required for support, training, and operations.”214

Die russische Seite hingegen unterstützte keine Version eines Autonomieabkommens, dem von serbischer Seite nicht zugestimmt wurde, da sie kein Eingreifen der NATO tolerierte.215 Russland lehnte jegliche Militäraktionen gegenüber der BRJ ab und versuchte auf diplomatischem Wege Sichtbarkeit

in den internationalen Verhandlungen zu zeigen, um „wenigstens Restbestände vergangener Größe zu retten“216. Die Rambouillet-Verhandlungen waren als zweites Dayton angedacht, unterschieden sich davon aber in deren Voraussetzungen wie folgt:

„Damals bestand ein labiles Kräfteverhältnis zwischen drei kriegsmüden Parteien innerhalb Bosnien-Herzegowinas selbst und ebenso zwischen dem von Izetbegovic repräsentierten Gesamtstaat Bosnien-Herzegowina, Serbien unter Milosevic und Kroatien unter Tudjman. Hingegen im Moment der Verhandlungen von Rambouillet sah sich die serbische Seite unabhängig von der bestehenden Androhung von Luftangriffen durch die NATO in einer klar überlegenen Position gegenüber den Albanern und war daher desinteressiert an äußerer Vermittlung oder gar internationalen

Truppen.“217

Entsprechend glaubte der damalige NATO-Generalsekretär Javier Solana, dass seitens Milosevics überhaupt kein Interesse an einer politischen Lösung bestand: Denn während der Gespräche postierte sich die serbische Armee und bereitete sich damit seiner Ansicht nach bereits auf eine großangelegte Offensive vor.218 Während die Kosovo-Albaner das Abkommen unterschrieben, willigte die serbische Seite nicht ein. Die Verhandlungen scheiterten nach 17 Tagen. Die NATO hatte sich derweil in eine Zwickmühle manövriert: Auf der einen Seite wollte sie ihre Glaubwürdigkeit nicht in Frage gestellt wissen, auf der anderen Seite waren jedoch Angriffe angedroht, die immer noch nicht durch eine Resolution legitimiert waren und völkerrechtlich nur auf tönernen Füßen standen. Sie würde den politischen Kredit verspielen,

„den sie nach dem Versagen der Europäischen Union (EU), des Europarates, der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und der Vereinten Nationen (UN) in Bosnien-Herzegowina durch ihre militärischen Maßnahmen erlangt hat, wodurch die Voraussetzungen für jene Verhandlungen geschaffen wurden, die zum Abkommen von Dayton führten.“219

Ein Krieg war ihr als einzige Option geblieben, um einen Gesichtsverlust zu vermeiden. Dies führt auch Jens Reuter als einen der drei Gründe für das Scheitern der Konferenz an. Ein weiterer sei der Irrglaube gewesen, dass die serbischen Vertreter einer NATO-Truppen-Stationierung in Kosovo und damit der Beschneidung ihrer Souveränität hätten zustimmen können, was aufgrund der immensen politischen Kosten einem politischen Selbstmord für jeden serbischen Politiker gleichgekommen wäre. Drittens zweifelt er das Konzept der westlichen Staaten an, weil diese nicht die Verfasstheit Serbiens mitbedacht hätten: Das Land glich einer Diktatur. Wie aber hätte ein autonomes Kosovo innerhalb eines diktatorischen Serbiens funktionieren können?220 Die Gewalttaten in Kosovo nahmen weiter ihren Lauf und zwangen 850.000 Menschen in die Flucht. Schmitt resultiert, Serbien hätte Anfang des Jahres 1999 kurz vor seinem Ziel „Kosovo ohne die Kosovo-Albaner“ nahezu verwirklicht.221 Die USA entsendeten als letzte Warnung den Diplomaten Richard Holbrooke, der Milosevic jedoch ebenso wenig von einem sofortigen Waffenstillstand sowie einer internationalen Militärpräsenz zu überzeugen vermochte.222 Am 24. März 1999 begannen die Luftangriffe der NATO – mit der Erwartung, Milosevic in höchstens zwei Wochen zur Aufgabe zu zwingen.223 In den nächsten 11 Wochen waren zu Lasten der serbischen Bevölkerung zivile Opfer zu beklagen und große Teile der Infrastruktur zerstört worden. Milosevic lenkte jedoch nach dem überraschend langen Zeitraum schließlich weniger aufgrund dieser Tatsache ein, sondern mutmaßlich aus Respekt vor den angekündigten NATO-Bodentruppen. In der Folge zogen erstens die serbischen Truppen aus Kosovo ab, während zweitens eine internationale Friedenstruppe stationiert wurde. Drittens unterstützte die internationale Gemeinschaft die Rückkehr der kosovo-albanischen Flüchtlinge. Damit waren die drei Hauptkriegsziele erreicht worden. Der Bürgerkrieg sollte damit jedoch noch nicht beendet sein. Die Gewaltspirale drehte sich in die andere Richtung weiter: Trotz der internationalen Militärpräsenz wurden in den ersten Monaten nichtalbanische Bewohner vertrieben oder fielen Racheakten wie Mord, Brandstiftungen und Entführungen zum Opfer.224

Die Intervention als solche sowie ihre Erfolgsbewertung war sowohl in der Politik und in der Bevölkerung als auch in der wissenschaftlichen Debatte extrem umstritten. Dabei lässt sich die völkerrechtliche kaum von der moralischen Frage zur Rechtfertigung des Einsatzes abgrenzen. Weitestgehend Einigkeit herrschte darüber, dass die NATO mit den Luftangriffen durch die Erstanwendung von Waffengewalt die territoriale Integrität der BRJ verletzt und somit gegen den Art. 2 Abs. 4 der UN-Charta verstoßen hat:

“All members shall refrain in their international relations from the threat or use of force against territorial integrity or political independence of any state (…).”225

Allerdings räumt die Charta durch Artikel 52 das Recht auf die Ausübung von Gewalt ein, wenn es sich um den Fall der Selbstverteidigung handelt. Da jedoch im vorliegenden Fall kein NATO-Staat durch die BRJ direkt bedroht geschweige denn angegriffen worden war, kann Artikel 52 nicht herangezogen werden. Ferner lag – wie oben bereits erwähnt wurde – keine für einen solchen Einsatz im Rahmen des Völkerrechts zwingend notwendige Resolution des Weltsicherheitsrates vor. Aufgrund des zu erwartenden russischen Vetos wurde seitens der NATO auf eben solche verzichtet. Dass nationale Interessen bei Entscheidungen im Weltsicherheitsrat – insbesondere der ständigen Mitglieder – überwiegen und dadurch blockieren können, widerspricht nicht den Verpflichtungen des Weltsicherheitsrates. Denn auch wenn er mit Art. 24 der UN-Charta die „primary responsibility for the maintenane of international peace and security“227 übernommen hat, so ist er nicht zum entsprechenden Handeln verpflichtet.228

Dennoch entschieden sich die NATO-Mitgliedsstaaten für die Luftschläge und konnten sich gemäß Expertenmeinungen auf die sog. humanitäre Nothilfe berufen:

„Massive Menschenrechtsverletzungen (…) gelten aufgrund zahlloser Resolutionen des Weltsicherheitsrates und der UNO-Vollversammlung seit Beginn der neunziger Jahre überdies als Gefährdungen des Weltfriedens im Sinne von Artikel 39 der Charta – selbst dann, wenn sie anders als im Kosovo, keine unmittelbar destabilisierende Wirkungen auf andere Länder haben.“229

Hauke Brunkhorst sieht diesen Tatbestand der massiven Menschenrechtsverletzungen in den „von serbischen Sicherheitskräften verübten Morden und Vertreibungen“ erfüllt und glaubt eine indirekte Zustimmung durch den Weltsicherheitsrat erkennen zu können: Dieser hatte zwar nicht durch eine Resolution den NATO-Einsatz legitimiert, hat diesen allerdings ebenso wenig missbilligt.230 In der Literatur werden weitere Argumente für diese Theorie der „stillen Duldung“ durch den Weltsicherheitsrat genannt: Von Resolution 1160 über 1199 bis zu 1203 unmittelbar vor der NATO-Intervention kann folgende Entwicklung beobachtet werden. Zunächst werden die Verletzungen der Menschenrechte konkreter und schärfer benannt. Ferner meinen A.J.R. Groom und Paul Taylor eine Verschiebung in der anfangs unparteilichen Verurteilung der Gewalt zuungunsten Serbiens festzustellen. In den Resolutionen ändert sich auch der Ton, in dem Mitgliedsstaaten zur Hilfe aufgefordert werden: Heißt es in Resolution 1199 noch „calls upon the Member States“, wird durch „urges the Member States“ in Resolution 1203 eine andere Dringlichkeit zum Handeln deutlich. Groom und Taylor sehen darin eine Aufforderung, auch militärisch zu handeln.231 Diese Interpretation geht jedoch sehr weit, ist explizit nur die Bereitstellung von humanitären Ressourcen in den Resolutionen erwähnt.

Ebenso wie Brunkhorst sieht auch Knut Ipsen die Voraussetzungen für eine humanitäre Intervention auf Basis der Notstandshilfe und damit einhergehend einen Verstoß gegen das Gewaltverbot erfüllt. Er führt weitere Gründe an, die seiner Analyse nach das Eingreifen der Allianz legitimieren können: Neben dem Weltfrieden und der internationalen Sicherheit wird in der UNCharta gleichrangig die Achtung der Menschenrechte als Ziel proklamiert. Gegen Letztgenanntes wird offenkundig durch die ethnischen Säuberungen, Vertreibungen und Tötungen verstoßen. Diese Verbrechen, so Ipsen, stellen jedoch ebenso eine Gefährdung des Friedens dar und verletzten somit auch ein weiteres, wenn nicht das oberste Ziel der Charta: die Friedenserhaltung. Die These, dass nicht nur das Gewaltverbot, sondern die Wahrung der Menschenrechte gleichermaßen zu schützen sei, stützt auch Dieter Senghaas mit dem Hinweis auf vielfache Entscheidungen verschiedener Organe der Vereinten Nationen. So habe bspw. der Weltsicherheitsrat „mehrfach angesichts gravierender und massiver Verstöße einzelner Staaten gegen grundlegende Normen der Staatengemeinschaft entsprechende Sanktionen“232 beschlossen und sich damit nicht dem Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten zugunsten der Menschenrechte gebeugt. Diese neue Interpretation der Charta durch die UN-Organe lässt sich auch darauf zurückzuführen, dass die Charta aus dem Jahr 1945 in ursprünglichen Auslegungen nicht mehr vollends der Konfliktrealität am Ende des 20. Jahrhunderts gerecht wird: War bis einschließlich des Zweiten Weltkriegs die Welt von zwischenstaatlichen Konflikten bedroht, nahm in den folgenden Jahrzehnten deren Anzahl zugunsten von innerstaatlichen Konflikten ab.233 Entsprechend müsste auch ein Angriff auf eine Bevölkerungsgruppe innerhalb eines Staates neu erörtert werden und die Möglichkeit eröffnen, ein Eingreifen von außen zu legitimieren.234 In jedem Fall müsse laut Ipsen dabei gemäß dem Proportionalitätsprinzip abgewogen werden zwischen dem Souveränitätsschutz und der Realisierung der o. g. Ziele der UN. Er resümiert, dass diese zwar nicht ein Freifahrtsschein für jegliche Interventionen sein dürften, jedoch die hier vorgefallenen Verbrechen nicht unter dem „völkerrechtlichen Schutz staatlicher Souveränität“ lägen. Als weitere Legitimationsmöglichkeit zeigt Ipsen die Repressalie als letztes Mittel auf; diese sei

„die Beantwortung eines Völkerrechtsbruchs mit einer Völkerrechtsverletzung gegenüber dem Rechtsbrecher, um diesen zu völkerrechtskonformem Verhalten zu zwingen.“ 236

Hierbei mahnt er jedoch zur Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel der Repressalie bzw. der zu beendenden Gewalt. Genau dies, der Einsatz der Mittel, steht jedoch in der Kritik. So werden Luftschläge – zumal als alleiniges Mittel –, die immer auch zivile Opfer in Kauf nehmen, als untauglich angesehen.237 Doch auch wenn Experten die Wahl von Bodentruppen für effektiver und gerade im Hinblick auf die Vermeidung von Kollateralschäden geeigneter halten, so darf ein wichtiger Grund bei der Wahl der Mittel nicht vergessen werden: Modernste (US-)Waffentechnik als auch die Wahl von Luftangriffen halten die Wahrscheinlichkeit von Opfern auf NATO-Seite größtmöglich gering.238 Die Wählerschaft in westlichen Bevölkerungen ist nur so lange bereit, Kriegseinsätze – die nicht offensichtlich die eigene Sicherheit unmittelbar gefährden – zuzulassen, solange Verlustrisiken möglichst gering, im besten Fall gleich null sind.239 Als Kritiker der Legitimierung des Einsatzes erweist sich Hans-Joachim Heintze, der bspw. der oben erwähnten These der Nothilfe widerspricht: Diese könne nur dann von Staaten geltend gemacht werden, wenn Menschen, die unter ihrem Schutz stehen, betroffen seien, was für die NATO-Staaten nicht gilt.240 Auch werfen Kritiker den NATO-Staaten vor, nicht in ausreichendem Maße eine von der UN mandatierte Lösung gesucht bzw. nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben: So wurde aufgrund des zu erwartenden Vetos von Russland noch nicht einmal ein Resolutionsentwurf in den UN-Sicherheitsrat eingebracht. Hätten die Staaten dies gemacht und wäre es dann zu einer Blockade gekommen, hätten sich die NATO-Staaten auf die sog. Uniting-for-Peace-Resolution berufen können, um ihr Anliegen in der UNO-Generalversammlung vorzubringen. Diese besagt, dass bei einer Blockade und gleichzeitiger Bedrohung des Friedens die Generalversammlung folgende Maßnahmen in Betracht ziehen muss:

“(…) the General Assembly shall consider the matter immediately with a view to making appropriate recommendations to Members for collective measures, including in the case of a breach of the peace or act of aggression the use of armed force when necessary, to maintain or restore international peace and security.”241

Heintze mutmaßt, dass die NATO-Staaten dies nicht in Erwägung gezogen haben, weil sie wussten, dass die Mehrzahl der Staaten in der Generalversammlung einer humanitären Intervention ebenfalls nicht zugestimmt hätten.

Neben der Legitimitätsfrage ist auch die Beantwortung des Erfolgs oder Misserfolgs der NATO-Intervention schwierig. In einer Erklärung vom 24. März 1999 postuliert der damalige US-Präsident Bill Clinton, eines der Einsatzziele sei, als NATO glaubwürdig die Ablehnung von Aggressionen und die Unterstützung von Frieden zu demonstrieren.242 Nicht zuletzt deshalb, weil Milosevic seine Truppen – wenn auch nach längerer Zeit als ursprünglich vermutet – abgezogen hat, kann die NATO diesen Erfolg für sich verbuchen. Allerdings wird vermutet, dass bei noch länger andauernden Luftangriffen die anfangs herrschende Geschlossenheit der Bündnismitglieder geschwunden und zu einer Zerreißprobe geworden wäre.243 Darüber hin aus gab es auch kritische Stimmen, die durch die Einsätze eine Verschlechterung der Beziehungen zu Russland und China befürchteten. Die Volksrepublik China, die im Weltsicherheitsrat eine neutrale Position einnahm und damit verdeutlichte, es handle sich um eine rein europäische Angelegenheit – außer vielleicht im Hinblick auf Konsequenzen für separatistische Bewegungen im eigenen Land –, zeigte sich jedoch diplomatisch angespannt, als, wenn auch versehentlich, die chinesische Botschaft in Belgrad von den Luftangriffen der NATO getroffen wurde.244 Russland fühlte sich offenkundig hintergangen: Dadurch, dass der Weltsicherheitsrat nicht konsultiert worden war, war Russland von einer Entscheidung ausgeschlossen worden und interpretierte dies in der Öffentlichkeit als Schwächung der Vereinten Nationen durch das transatlantische Militärbündnis. Bereits im Vorfeld wurde die NATO vor einer Intervention gewarnt, dass ein Angriff „the nature of international order“245 ändern würde. Während der Angriffe dann wurde die NATO u. a. als „Aggressor“, der Einsatz als „kaltblütig“ und „barbarisch“ bezeichnet und Verbundenheit mit dem slawischen Brudervolk skandiert.246 Russland ging auf Distanz zur NATO und sagte bspw. die Teilnahme zur 50-Jahres-Feier ab.247

Ein weiterer Kritikpunkt in der Bewertung des (Miss-)Erfolgs der NATO war, dass sie angetreten war, um die Gewalt gegen die kosovo-albanische Bevölkerung und deren Vertreibung zu stoppen, diese jedoch trotz der Luftangriffe über Wochen weiter bestehen blieben bzw. sich verschlimmerten: Milosevic schien militärisch vorbereitet und antwortete entschlossen und unnachgiebig auf die Angriffe.248 Die Luftangriffe spielten Milosevic für den Rückhalt in der nationalistischen Bewegung im eigenen Land und somit zur Stärkung seiner Machtposition in die Hände.249 Zudem resultierten die Angriffe nicht nur in einer kurzfristigen Verschlimmerung der Gewalt an den Kosovo-Albanern, sondern bedeuteten auch zivile Opfer; die durch den – wie spätere Berichte aufdecken – sehr ineffektiven250 Luftkrieg geringere Wahrscheinlichkeit, eigene Opfer verzeichnen zu müssen, ging mit der steigenden Wahrscheinlichkeit einher, dass Zivilisten den Angriffen zum Opfer fielen.251 Genau an dieser Stelle stellen sich die moralische und die legale Frage nicht mehr nur theoretisch – wie: Ist der Einsatz von Gewalt legitim und oder moralisch begründbar, um Gewaltverbrechen aufzuhalten? –, sondern ganz konkret:

„Hätte die NATO die Zerstörung des staatlichen Rundfunks nicht eine halbe Stunde vorher ankündigen sollen? (…) Im Elend der Vertreibung bilden die Folgen der rücksichtslosen Politik eines Staatsterroristen mit den Nebenfolgen der Militärschläge, die ihm, statt das blutige Handwerk zu legen, auch noch einen Vorwand lieferten, ein schwer entwirrbares Knäuel.“252

Die Frage nach dem Erfolg ist also vielschichtig; beschränkt man sich auf die o. g. Kriegsziele, die entsprechend erreicht wurden, kann die NATO einen Erfolg für sich verbuchen: Die Truppen Milosevics wurden zurückgezogen und im Folgenden konnten die kosovo-albanischen Flüchtlinge zurückkehren.

Hinsichtlich der Legitimation des NATO-Einsatzes kann festgehalten werden, dass eine eindeutige Beurteilung nicht möglich ist, die Debatte jedoch einen längerfristigen Diskurs im Völkerrecht in der internationalen Gemeinschaft angestoßen bzw. vertieft hat.

 
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