Einleitung

Aufbau und Ziele des Bandes

Stefan Lüddemann und Thomas Heinze

Bilder bilden einen substantiellen Bereich unserer Kultur. Dabei sind sie nicht einfach als sekundäre Illustrationsmedien zu unterschätzen, sondern als primäre Bedeutungsträger ernst zu nehmen. Spätestens seit dem Iconic Turn innerhalb der Kulturwissenschaften ist eine neue Konjunktur für das Interesse an Bildmedien zu beobachten. Dabei geht es um die Frage nach Status und Aussagewert von Bildern, insbesondere nach dem Verhältnis von Bildern zur Sprache. Ganz gleich, wie diese Fragen im Einzelnen beantwortet werden – die überragende Relevanz der Bildmedien spiegelt sich nicht allein in zeitgenössischen Modewörtern wie dem der

„Bilderflut“ in den Massenmedien, insbesondere dem Internet. Das Bild dominiert die medial gestützte und vermittelte Kultur komplexer Gesellschaften.

Ohne Zweifel hat die Frage nach Bildern die Grenzen einer Einzelwissenschaft längst überschritten. Zuständig erscheint nicht mehr nur als klassische Bilddisziplin die Kunstgeschichte. Mit Bildern beschäftigen sich auch Medienund Kulturwissenschaft, Sozialwissenschaften und Erziehungswissenschaften. Weitere wissenschaftliche Disziplinen ließen sich ergänzen. Bilder sind allgegenwärtig, im medialen Alltag wie in den Geistesund Kulturwissenschaften.

Auch wenn alle mit Bildern umgehen – Bilder können, wie andere Medien und mediale Träger auch, nicht einfach so verstanden, gleichsam naiv rezipiert werden. Bilder bedürfen der Analyse und Interpretation. An diesem Punkt ist die Bildher- meneutik gefordert. Sie reflektiert die Bedingungen des Verstehens von Bildern und bietet zugleich Methoden an, mit denen Bilder in kontrollierter, also nachvollziehbarer Weise analysiert und interpretiert werden können. Bildhermeneutik ist nicht mehr nur als Arbeitstechnik der Kunsthistoriker zu verstehen, sie bildet ein grundsätzliches methodisches Rüstzeug für Geistesund Kulturwissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen. Ihr Beitrag ist auch überall dort gefragt, wo mit Bildern praktisch umgegangen oder die Beschäftigung mit Bildern Teil der Vermittlungsarbeit ist. Hier ist vor allem an das Kulturmanagement, die Kulturpädagogik und vielfältige Formen der Kulturarbeit zu denken.

Die vorliegende Einführung bietet einen Aufriss der Bildhermeneutik, der ihre Grundlagen reflektiert und Methoden der Analyse vermittelt. Das Buch wendet sich somit an Lehrende, Lernende, Praktikerinnen und Praktiker mehrerer Disziplinen von der Kunstgeschichte bis hin zu Medienwissenschaften, Kulturwissenschaft und Kulturmanagement bis hin zur Pädagogik. Auch wenn sich der vorliegende Band auf Beispiele aus der Kunst konzentriert, sind sich Herausgeber und Autoren sicher, mit ihren methodologischen Darlegungen und beispielhaften Analysen ein Instrumentarium bereitzustellen, dass weit über den Bereich künstlerischer Bilder hinaus zur Reflexion und Interpretation von Bildern befähigt. Das schließt gerade den kritischen, also distanzierten Umgang mit Bildern ein.

Der vorliegende Band entwickelt seine Darstellung der Bildhermeneutik auf den Ebenen der didaktischen Handreichung, der theoretischen Reflexion und der paradigmatischen Analyse. Dieses Konzept ist im didaktischen Kontext von Fernstudien an der FernUniversität Hagen und an der Technischen Universität Kaiserslautern entwickelt, erprobt und fortlaufend verbessert worden. Mit der Verschaltung dieser drei Ebenen wird das Thema zielführend vermittelt – vom leicht fasslichen Einstieg über Checklisten bis hin zu Reflexion der Hintergründe und ausgearbeiteter Analysebeispiele.

In welcher Hinsicht werden Bilder als Kunstwerke Gegenstand der Interpretation, damit der Hermeneutik? Thomas Heinze bietet in seinem Beitrag den Aufriss der Thematik, indem er im Rückgriff auf die Hermeneutik Hans Georg Gadamers das Kunstwerk als kulturelle Objektivation verortet, die das Verstehen herausfordert. Dabei ist klar, dass Bilder nicht auf andere Bedeutungsordnungen reduziert werden dürfen. Gerade als Kunst bieten Kunstwerke einen Bedeutungsüberschuss, der in der Interpretation sorgsam erschlossen werden muss und nur damit für die weitere Kommunikation verfügbar gemacht werden kann. Heinze schließt (Kunst) Bilder nicht mit Sprache kurz, versteht sie im Rückgriff auf George Herbert Mead jedoch insofern als „Text“, als auch sie als kulturelle Objektivationen anzusehen sind. Damit sind auch Bilder für eine Analyse erschließbar, die sich auf die Kenntnis kultureller Universalien gründet.

Auf dieser Basis hat Ulrich Oevermann seine Objektive Hermeneutik entwickelt. Thomas Heinze führt sie als Paradigma ein, das für die Darstellungen des vorliegenden Bandes leitend ist. Mit der Objektiven Hermeneutik verbindet sich vor allem das Konzept einer sequenziell, also in linear aufeinander folgenden Schritten operierenden Interpretation, die zunächst bewusst Kontextwissen ausschaltet, um nach der Konzeption von plausibel erscheinenden Lesarten die strukturale Eigengesetzlichkeit des Objektes selbst zu entfalten. Erst danach können Kontextinformationen eingeführt und Lesarten auf ihren Erklärungswert hin überprüft werden. Abschließende Strukturgeneralisierungen führen zu einer Interpretation, die intersubjektive Gültigkeit beanspruchen kann.

Dieses grundlegende Konzept übersetzen die Abschnitte 1.2, 3 und 4 in handliche Übersichten zur praktischen Anwendung. Diese drei, auf didaktische Kontexte verweisenden Abschnitte enthalten noch einmal eine grundsätzliche Einstimmung auf das Thema Hermeneutik, sie schließen das Verständnis für Interpretation mit dem Vergleich zur detektivischen Ermittlungsarbeit auf und bieten schließlich eine Checkliste der Interpretationsschritte und zudem einige Hinweise auf mögliche Problempunkte der praktischen Interpretationsarbeit. Der Abschnitt 7 weitet zudem noch einmal den methodischen Blick. Hier werden mit den durch Oskar Bätschmann und Max Imdahl entwickelten Interpretationsverfahren zwei einflussreiche kunstgeschichtliche Methoden der Bildanalyse kontrastierend vorgestellt.

Im Zentrum des vorliegenden Bandes stehen drei beispielhafte Analysen, die zum einen vorführen, wie die didaktischen Handreichungen angewendet und damit operationalisiert werden können. Die Analysen zeigen zum anderen, wie theoretische und methodologische Reflexion hilft, Bildhermeneutik so zu betreiben, dass valide, also intersubjektiv überprüfbare Ergebnisse entstehen. Die Autoren der drei Analysen legen entsprechend Wert darauf, ihre Deutungen in nachvollziehbaren Einzelschritten vorzuführen und dabei die angewandte Methode fortlaufend mit zu reflektieren.

Roswitha Heinze-Prause bezieht sich in ihrer Analyse von Emil Schumachers Werk „Großes rotes Bild“ ausdrücklich auf die von Ulrich Oevermann entwickelte Objektive Hermeneutik. Dieses sozialwissenschaftliche Deutungsverfahren zielt darauf ab, latente Bedeutungsstrukturen aufzudecken, die sich in sprachlichen Interaktionen, aber auch künstlerischen Werken objektivieren. Von dieser Voraussetzung aus entwickelt Heinze-Prause ein sequenzielles Analyseverfahren, das die eigengesetzliche Struktur des Gegenstandes der Interpretation in eingehender Beschreibung erschließt. Die Ergebnisse der Analyse werden mit den eingangs entwickelten Lesarten abgeglichen und sodann mit einem weiteren Bild Schumachers konfrontiert, das in seiner Werkstruktur dem „Großen roten Bild“ diametral entgegensteht. Zum Abschluss der Deutung ordnet die Autorin das analysierte Bild einer langen Traditionslinie ein, die von der Romantik bis zur ungegenständlichen Kunst der Gegenwart reicht.

Stefan Lüddemann nimmt in seiner Interpretation von Max Beckmanns „Selbstbildnis mit Saxophon“ den Grundgedanken einer sequenziellen Verfahrensweise auf. Danach wird strikt vermieden, den Gegenstand vorschnell mit Hilfe von Kontextwissen zu erklären und damit seine Eigengesetzlichkeit zu verschütten. Entsprechend geht es auch bei dem Selbstbildnis Max Beckmanns darum, die Gestalt des Gemäldes so genau herauszuarbeiten, das sich alle anderen Bestandteile der Analyse an ihr abarbeiten müssen. Wie in der Interpretation des Bildes von Emil Schumacher werden auch hier zunächst Lesarten entwickelt und zu Themenkomplexen gruppiert. Im Anschluss folgt die Analyse der Werkgestalt und dann, im Unterschied zu den Analysen zu Schumacher und (nachfolgend) Cézanne, der Abgleich der Ergebnisse dieser Untersuchung mit einer ganzen Reihe von relevanten Kontexten, die von Fragen der Bildgattung, der Werkkontexte Beckmanns und seiner Selbstzeugnisse bis hin zu stilund motivgeschichtlichen Bezügen reichen. Die Interpretation findet ihren Zielpunkt in einer Deutung des Bildes als künstlerische Positionsbestimmung auf dem Hintergrund zeitgeschichtlicher Turbulenzen. Klaus-Ove Kahrmann votiert in seinem Beitrag für eine phänomenologisch ausgerichtete Sichtweise auf die Kunst. In Anlehnung an philosophische Positionen wie diejenige des Phänomenologen Edmund Husserl und des Kunstphilosophen Konrad Fiedler entwickelt Kahrmann ein Verfahren, das zunächst Kontexte ebenso wie Assoziationen ausklammert und sich vollkommen auf die Werkgestalt mit ihren Daten einlässt. Methodisch leitend ist das genaue Sehen dessen, was als wahrnehmbares Phänomen gegeben ist. Damit soll einer vorschnellen Subsumption des Phänomens unter Begriffsraster vorgebeugt werden. Kahrmann entfaltet sein Vorgehen anhand von Kunstwerken von Paul Cézanne und Sigmar Polke. Seine Analyse stellt den Eigenwert der jeweiligen Werkgestalt besonders heraus und bewertet zugleich die Einbeziehung von Kontextinformationen als ergänzenden Analyseschritt. Der Beitrag zur phänomenologisch inspirierten Bildanalyse schärft noch einmal im Wortsinn den Blick und mahnt zugleich zur Vorsicht vor vorschnell weit gefassten Deutungen.

Im letzten Kapitel des vorliegenden Bandes weitet Stefan Lüddemann den Blick auf die Bildhermeneutik noch einmal aus. Das Kapitel unterbreitet den Vorschlag zu einer modifizierten Interpretationsmethode, mit der auch jene Werke der zeitgenössischen Kunst analysiert werden können, die mit der Kategorie und zugleich mit der Vorstellung des autonomen Einzelwerkes nicht mehr zu fassen sind. Ausgangspunkt der veränderten Interpretationsmethode ist die Beobachtung, dass Werke in der Gegenwartskunst meist nur noch aus den Verweisen heraus erklärt werden können, die sich zwischen Objekt, Institution, Ausstellungsgestaltung, Rezeption, Partizipation und weiteren Faktoren ergeben. Gegenwartskunst ist nicht denkbar ohne begleitende Diskurse und Praktiken. Darauf bezieht sich eine Analysemethode, die in sechs Schritten das in Frage stehende Objekt und relevante Kontextbezüge analysiert. Die Vorgehensweise bleibt sequenziell orientiert, sie rechnet aber damit, dass sich Werke der zeitgenössischen Kunst nicht über objektivierbare Merkmale von Objekten allein erschließen lassen. Die Methode wird an einem Gegenstand erprobt, der gerade deshalb geeignet erscheint, weil er sich traditionellen Kriterien wie dem des distinkten Kunstobjektes und dem des unmittelbar als Kunst erkennbaren Exponates verweigert. Im Zentrum der Analyse steht eine Rauminstallation des Objektund Installationskünstlers Michael Beutler.

 
< Zurück   INHALT   Weiter >