Das Kunstwerk als künstlerischer Text
Zur strukturalen Analyse ästhetischer Objekte
Zur „Schulung“ der Wahrnehmungsfähigkeit und zur methodisch kontrollierten Interpretation (strukturalen Analyse) soll nun das der „Alltagshermeneutik“ analoge Konzept der „objektiven (strukturalen) Hermeneutik“ vorgestellt werden.
Kunstwerk und Lebenspraxis
Ein Kunstwerk, ein Bild, von dessen Existenz niemand weiß, das nicht gesehen und über das nicht gesprochen wird, hat keine soziale Realität. Erst wenn es in den Bereich der Interaktion einbezogen und zum „Kommunikationsobjekt“ wird, erlangt es soziale Realität. Dabei bedient es sich einer speziellen „Sprache“, da es seine Mitteilung in einem jeweilig spezifischen Medium vorträgt.
Mit der Einordnung des Kunstwerks in den Bereich der Kommunikation wird es zum Teil der Lebenspraxis, in der Alltagshandeln, künstlerische Praxis und wissenschaftliches Handeln fundiert sind. Diese Lebenspraxis ist als soziale Wirklichkeit nie im direkten Zugriff fassbar, sie ist immer nur in ihren „Objektivationen“, das heißt als „Text“, erfahrbar. Der Sozial-/Kulturwissenschaftler kann die Lebenspraxis immer nur in den textförmigen Ausdrucksgestalten fassen. Er hat keinen direkten Zugriff auf die Unmittelbarkeit der Erfahrung der Lebenspraxis, das heißt auf die außerhalb der Textförmigkeit liegende Schicht sozialer Wirklichkeit, und er bleibt methodisch auf die Vermittlung durch die Textförmigkeit angewiesen (vgl. Oevermann 1986, S. 49).
Das Kunstwerk, das als Objektivation künstlerischen Handelns entsteht, ist in der Lebenspraxis des Künstlers begründet und kann somit als „Text“ angesprochen werden. „Kunst und Protokolle naturwüchsigen Alltagshandelns weisen strukturell hintergründige Gemeinsamkeiten bei aller radikalen Verschiedenheit auf. Man macht im Umgang mit den verschiedenen Texten aus der sozialen Wirklichkeit die Erfahrung, dass die spontanen Produktionen des Alltags eine erstaunliche strukturelle Reichhaltigkeit des Ausdrucks aufweisen. Zwanglos drücken sie gültig eine konkrete Lebenspraxis aus und erreichen spontan das, was der Künstler – erfahrungserweiternd in unbekannte Bezirke vordringend – durch methodische Kontrolliertheit und Beherrschung der Ausdrucksmaterialität in Augenblicken des Gelingens erzeugt und deutlicher artikuliert. Kunstwerke sind strukturelle Steigerungen der Möglichkeiten des Alltagshandelns. Sowohl vor den Texten des Alltagshandelns, wie vor den gelungenen Kunstwerken, steht der objektive Hermeneutiker, wenn er versucht hat, sie durch extensive Sinnrekonstruktion zu entziffern, staunend ob ihrer strengen und deutlichen Strukturiertheit“ (Oevermann 1983 b, S. 280).
Ein Kunstwerk ist immer beides: Es ist alltäglich, weil es als Ergebnis künstlerischen Handelns im praktischen Handeln des Alltags begründet liegt, aber es ist zugleich außeralltäglich, weil es dieses alltägliche Handeln transzendiert. Diese Ambivalenz ist für die Kunst konstitutiv. Damit wird die dialektische Beziehung von Kunstwerk und Lebenspraxis Grundlage der Bestimmung der Gültigkeit, des Gelingens von Kunstwerken. Ein Kunstwerk ist gelungen, wenn es das Alltägliche übersteigt und für den Betrachter einen befremdlichen Text stellvertretender Deutung anbietet. Diesen Text muss er auf unwahrscheinliche Lesarten hin absuchen, denn die Entschlüsselung des Textes stellt Ansprüche an ihn und erfordert Anstrengungen (vgl. Oevermann 1982, S. 14).