Das Verfahren der strukturalen Analyse und Interpretation eines ästhetischen Objekts
Im Rückgriff auf die von Oevermann konzipierten Ebenen der Feinanalyse, die dort auf Interakte bezogen sind, werden nun einzelne Kategorien hinsichtlich der Anwendung auf künstlerische Texte umformuliert. Das Ziel ist, „in der rekonstruierenden Begriffsbildung die Sache selbst zum Sprechen zu bringen“ (Oevermann 1983a, S. 244). Dabei wird von der Explikation der Strukturiertheit des konkreten Bildes ausgegangen und rekonstruierend der Weg zu den latenten Sinnstrukturen zurückverfolgt.
Ebene 1: Konstruktion von Lesarten und Paraphrase des künstlerischen Textes
Entsprechend der Methode der „objektiven Hermeneutik“ und der von ihr in Anspruch genommenen „Alltagshermeneutik“ beschränken sich die Informationen auf dieser Ebene darauf, welche Hinweise der Museumsoder Ausstellungsbesucher erhält, also in der Regel: Titel, Maler, Entstehungsjahr und Größe des Bildes. Der Grund dafür ist, dass zunächst das intuitive Regelwissen des/der Interpreten möglichst ungetrübt zum Zuge kommen soll. Auf dieser Ebene darf kein Wissen an den Text, das Bild, herangetragen werden, das Herstellen von Beziehungen, Vergleiche mit anderen Werken, wie in der Kunstgeschichte sonst üblich, sind nicht gestattet: Nur das Werk selbst soll intuitiv und rekonstruktiv erschlossen werden. Dieses Erschließen geschieht dadurch, dass das Kunstwerk zum Auslöser von gedankenexperimentellen Konstruktionen, von Lesarten, wird. Dabei soll das intuitive Regelwissen des/der Interpreten benutzt werden. Die Entwicklung der Lesarten über objektive Bedeutungen sollte möglichst unterschiedliche, auch unwahrscheinliche aber zum Text passende Deutungen umfassen.
Die Entwicklung der Lesarten, d. h. der sinnvollen Kontexte des Kunstwerks, erfolgt mit Hilfe der „Alltagshermeneutik“, des intuitiven, alltäglich benutzten Regelwissens, also der Kompetenz im Sinne der generativen Grammatik Chomskys. Ziel ist es, sich schon hier mit Hilfe der Lesarten zur Bedeutungsvielfalt des Kunstwerks auf den verschiedenen Ebenen vorzutasten (vgl. Oevermann u. a. 1979,
S. 396). Im Anschluss daran werden die bereits erkennbaren gemeinsamen Merkmale der Lesarten herausgearbeitet und verallgemeinert, um so zu einer auf der„Intuition“ basierenden Folie zu kommen.
Der nächste Schritt besteht in der Paraphrasierung des Bildes. Es geht dabei nicht um die Deskription des Werks. Schon Leonardo wusste, dass man ein Bild nicht so beschreiben kann, wie man es malen kann. Die Paraphrase versucht, das Exponat im Medium der Sprache zu fassen. Die Paraphrasierung ist für dieses Verfahren unabdingbar, da die objektive Bedeutung des Textes nur im Medium der Sprache gefasst werden kann, denn sie stellt nach den theoretischen Vorgaben das System von Elementen und Regeln dar, in dem die latente Sinnstruktur des Werks greifbar wird.
Auf das Problem der Versprachlichung von Bildern wird hier nicht eingegangen. Die objektive Hermeneutik geht davon aus, dass Bilder prinzipiell zu versprachlichen sind. Sie räumt aber ein, dass es immer einen Rest gibt, der sprachlich nicht zu fassen ist und der die „Offenheit“ des Kunstwerks begründet.
Mit dem Begriff der Paraphrase entgeht Oevermann dem Dilemma der Deskription. In jede Beschreibung gehen Vorannahmen ein. Dieses Problem hat in der Kunstgeschichte Tradition: Bereits Panofsky stellte fest, dass es keine theoriefreie Beschreibung gibt; Imdahl löste es, indem er sein Verfahren als „phänomenale Deskription“ bezeichnete.
Auf dieser Ebene können auch Vermutungen über die Intentionen des Künstlers angestellt werden. Jedoch tritt die Frage nach den subjektiven Intentionen in den Hintergrund, da die strukturale Hermeneutik auf die objektiven Bedeutungen des Werks zielt. Grundlage der Spekulationen bleibt jedoch immer der Text und seine Paraphrase. Oevermann selbst weist nachdrücklich auf die spekulative Seite dieses Schrittes hin.