Die Bildanalyse Tipps und Checkliste für die Praxis

Stefan Lüddemann

Die Sequenzanalyse in Kurzform

Grundlage dieses Abschnitts sind die Vorschläge für eine Abfolge des Analysevorgangs der Bildhermeneutik, die sich ausdrücklich auf die Objektive Hermeneutik berufen (vgl. Heinze-Prause/Heinze. 1996, S. 32-35, 41-44). Hier das Gerüst der Analyse:

• Erster Schritt: Daten zum Kunstwerk

• Zweiter Schritt: Entwicklung von Lesarten

• Dritter Schritt: Paraphrase des Bildes

• Vierter Schritt: Merkmale der Struktur

• Fünfter Schritt: Erster Rückgriff auf die Lesarten

• Sechster Schritt: Explikation möglicher Kontexte

• Siebter Schritt: Zweiter Rückgriff auf die Lesarten

• Achter Schritt: Interpretation als Entwurf einer generellen Struktur

Was sollen nun diese Schritte konkret bedeuten? Im Folgenden wird versucht, die einzelnen Positionen zu „füllen“ und sie soweit auszuarbeiten, dass sie auch als „Checkliste“ für konkrete Interpretationen genutzt werden können. Dabei richten sich die einzelnen Erläuterungen an den Bedürfnissen einer Interpretation von Gemälden aus. Für andere Kunstgattungen müssten deshalb einzelne der aufgeführten Erläuterungen entsprechend abgewandelt werden. Im Anschluss an die Detailerläuterungen sind dann noch wichtige Fragen zu klären: Warum soll die Sequenzanalyse in der vorgegebenen Abfolge durchgeführt werden? Warum ist die materiale Werkgestalt so wichtig? Und was ist von den „Kontexten“ zu halten, die zur Interpretation von Kunstwerken immer wieder herangezogen werden? Doch hier zunächst die Erläuterungen der einzelnen Schritte:

• Erster Schritt: Zunächst vergewissern wir uns über das Kunstwerk, das interpretiert werden soll. Die Daten zum Kunstwerk sammeln Angaben über Größe, Abmessungen, Titel, Name des Künstlers, Entstehungsjahr, Aufbewahrungsoder Installationsort. Auch globale Angaben über die künstlerische Technik gehören hierher. Diese Angaben werden als „objektive“ Daten ohne weitere Vermutungen über Bedeutungen etc. eruiert. „Objektiv“ muss nicht in jedem Fall Eindeutigkeit bedeuten. Zweifelsfragen sollten nicht voreilig entschieden, sondern als solche festgestellt werden – vor allem dann, wenn sie die materiale Gestalt des Werkes betreffen.

• Zweiter Schritt: „Lesarten“ sind intuitive Vorgriffe auf Sinn und Bedeutung des Kunstwerkes. Sie sind erste, versuchsweise Entwürfe, die noch nicht auf ihre Plausibilität hin überprüft werden. Erlaubt ist auf dieser Stufe alles, was passend erscheint. Auch entlegene Möglichkeiten des Sinnentwurfs sollten unbedingt festgehalten werden. Auf dieser Stufe geht es wie in einem Brainstorming darum, einen weiten Horizont möglicher Bedeutungen aufzuspannen. Wie im Brainstorming üblich werden die Varianten geäußert und nicht sofort bewertet. Hier kommt es auch nicht auf ein Expertenwissen an, sondern auf die Kompetenzen, die Interpreten aus ihrer jeweiligen Lebenspraxis mitbringen. Im Anschluss an diese Sammlung sollten die Lesarten nach übereinstimmenden Merkmalen gruppiert werden. Auch dabei ist nicht erlaubt, Varianten des Sinns sofort auszuschließen.

• Dritter Schritt: In einer Paraphrase des Bildes wird anschließend versucht, das Werk sprachlich zu fassen, um sich so einer Interpretation weiter auf der Ebene der Sprachlichkeit zu nähern. Hier können auch Motive etc. erfasst werden. Das Verfahren macht an dieser Stelle besonders deutlich, dass es der Bildhermeneutik nicht darum geht, die subjektiven Intentionen des jeweiligen Künstlers zu ergründen. Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht die „objektive“ Gestalt des Werkes.

• Vierter Schritt: Diese Phase der Bildinterpretation hat entscheidende Bedeutung. Denn nun geht es darum, die künstlerischen Strukturen des Werkes eingehend zu erfassen – und zwar unabhängig von Künstlerintention, den Lesarten der Interpretierenden oder irgendeiner Form von Vorwissen. Zur Geltung kommt hier die Gestalt des Werkes selbst – und mag sie noch so fremdartig, rätselhaft oder unplausibel erscheinen. Besonders wichtig: Auch wenn eine Struktur des Werkes ergründet werden soll, dürfen Brüche und Widersprüche nicht voreilig aufgelöst werden. Hier ist die Reichhaltigkeit künstlerischen Ausdrucks zu ergründen. Im Einzelnen sind folgende Punkte zu bearbeiten: Material, Farbigkeit, Einsatz der Farbe, Pinselführung, Aufbau der Bildstruktur, Lichtführung, Stil etc. Diese Punkte sind gleichsam „abstrakt“ zu erfassen, also ohne Rücksicht auf Motive, Bedeutungen und ähnliches. Nach der Erhebung dieser Merkmale sind sie in einem heuristischen Sinn zu einer Struktur zu verknüpfen.

• Fünfter Schritt: Jetzt kommt der Interpret auf die vorhin erarbeiteten Lesarten zurück. Die nach gemeinsamen Merkmalen Mutmaßungen über die Bedeutung des Kunstwerks werden nun mit der Paraphrase des Bildes und vor allem seinen „objektiven“ Merkmalen konfrontiert. In dieser Konfrontation erscheinen einige Lesarten plausibler als andere. Entsprechend können einige der Vermutungen favorisiert, andere dagegen als eher unwahrscheinlich zurückgestellt werden. Besonders wichtig: Das dominante Element ist die Strukturhypothese, die sich aus der Werkgestalt und ihren Merkmalen ergibt. Sie bleibt bis zum Ende der Interpretation der Prüfstein aller Auslegungsversuche.

• Sechster Schritt: Jetzt kommen mögliche Kontexte des Bildes ins Spiel. Dabei geht es um Informationen zum Maler, seinen Lebenslauf und sein Lebensumfeld. Hinzu treten biographische Zeugnisse wie Tagebücher, Briefe, Essays, eigene Interpretationen, Interviews und so weiter. In diesen Bereich gehören auch Zeugnisse von Zeitgenossen aller Art. Auf den Künstler bezogen bleiben auch Informationen zur individuellen Werkgeschichte und die Stellung des Bildes in ihrem Verlauf. Globale Kontexte sind die stilgeschichtliche Epoche, Fragen der Bildgattung, motivgeschichtliche Untersuchungen, vergleichbare Werke anderer Künstler, geistesgeschichtliche Einflüsse aller Art. Natürlich werden auch die Interpretationen der wissenschaftlichen Literatur soweit vorhanden mit einbezogen. Da auf dieser Stufe der Interpretation tendenziell unendliche Kontexte aufgetan werden können, muss in jedem Einzelfall entschieden werden, welche Informationen wirklich benötigt werden.

• Siebter Schritt: Die jetzt vervollständigte Arbeit an dem jeweiligen Werk wird noch einmal mit den Lesarten konfrontiert. Wir werden nun weitere Lesarten ausschließen können und zu einer vorläufigen Entscheidung gelangen. Wichtig bleibt dabei, dass alle aus Kontexten gewonnenen Informationen die Daten der Werkgestalt nicht dominieren, sondern selbst an ihnen gemessen werden. Entscheidend bleibt die individuelle Struktur des Werkes. Alle anderen Informationen werden nicht im Sinn eines klassifizierenden Rasters, sondern als heuristische Instrumente eingesetzt. Damit verfahren wir dann doch wieder wie Sherlock Holmes, der ebenfalls nur das glaubt, was sich mit seinem eigenen Augenschein sinnvoll vereinbaren lässt.

• Achter Schritt: Diese Stufe der eigentlichen Interpretation vereinigt die Arbeitsergebnisse der bisherigen Schritte zu einem strukturierten Ganzen. Hier werden die Erkenntnisse einer Strukturanalyse mit den weiteren Informationen und Wissensständen zu einem strukturierten Ganzen zusammengefügt. Das bedeutet nicht, alle Widersprüche zu tilgen. Anders als es das Wort von der

„Strukturgeneralisierung“ (Heinze-Prause/Heinze 1996, S. 44) nahe legt, geht es in einer Interpretation nicht darum, Homogenität um jeden Preis zu erreichen. Brüche im Werk können auch benannt und als seine besondere Produktivität erwiesen werden. Allerdings ist dies kein Freibrief für Unentschiedenheit als Folge nachlässiger Arbeit.

 
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