Grundsätze der Bildbetrachtung
Wie vorhin angesprochen, sind noch Fragen zur genaueren Erläuterung dieses Interpretationsverfahrens zu beantworten. Dies sind:
• Warum ist die Reihenfolge der Schritte so wichtig? Der vorgeschlagene Parcours der Interpretationsmethode ist kein Baukasten, aus dem man sich beliebig mit Werkzeugen oder Materialien versorgt. Die Reihenfolge der Schritte entscheidet über den Erfolg der Interpretation. Denn sie sorgt dafür, dass in einem kontrollierten Ablauf, Vorwissen und Informationen erst dann eingeführt werden, wenn das Werk selbst ausreichend gründlich analysiert worden ist. Damit stellen wir sicher, dass wir uns mit dem einzigartigen Werk beschäftigen und so zu neuen Aufschlüssen gelangen, statt nur vorhandenes Wissen zu wiederholen. Die Abfolge der Schritte bewahrt Offenheit und Präzision der Auslegung.
• Warum steht die Werkgestalt im Zentrum? Die Interpretation eines Bildes hat das Ziel, uns den unersetzbaren Beitrag dieses Kunstwerkes für unser Weltund Wirklichkeitsverständnis zu erschließen. Dies kann nur gelingen, wenn die Gestalt des Bildes selbst mit ihren Strukturen unser Verstehen leitet. Einsatz des Materials, Richtung und Intensität der Malerei, ihre Lichtführung, Behandlung von Gewichtsund Volumenverteilungen, senkund waagerechte Achsen, diagonale Linien und vieles mehr sind „sprechende“ Informationen, die Prüfsteine für Deutungsansätze sind. Mit dem Blick auf Bildstrukturen vertrauen wir als Interpreten vor allem auf den eigenen Augenschein – und sind so weniger abhängig von Meinungen anderer.
• Was ist von „Kontexten“ zu halten? Viel und wenig zugleich. Natürlich brauchen wir Informationen, die über ein Einzelwerk hinausgehen, um eine Interpretation durchzuführen. Aber das Wort vom „Kontext“ hat auch eine problematische Dimension. Es unterstellt, dass die damit gemeinten Informationen das einzelne Werk „umhüllen“, es damit überwölben und dominieren, ja sogar seine Bedeutung entscheidend steuern. Das ist jedoch falsch. Denn Kontexte bestehen aus Informationen, die nicht per se als „wahr“ genommen werden dürfen, sondern meist selbst der Interpretation bedürfen. Zudem kommt hier der Aspekt der Wirkungsgeschichte zum Tragen. Selbstinterpretationen des Künstlers oder Aussagen von Zeitgenossen betreffen nur einen Ausschnitt möglicher Bedeutungen eines Bildes. In der geschichtlichen Bewegung der Wirkungsgeschichte entfaltet sich mit wechselnden Zeitkontexten auch ein weiter Fächer möglicher Bedeutungen. Dies relativiert die Bedeutung von „Kontexten“ entscheidend. Deshalb sollten sie auch erst an späterer Stelle der Interpretation eingeführt werden. So kann man ihren Informationsgehalt nutzen, ohne sich von ihnen den Blick für viele mögliche Lesarten zu verstellen. Denn: Sagt ein Brief eines Malers mehr als eines seiner Bilder? Natürlich nicht. Im Gegenteil: In der Frage der „Kontexte“ verbirgt sich meistens auch noch die alte Überzeugung, der „Klartext“ sprachlicher Aussagen sei höher einzustufen als die
„irrationale“ Sprache der Bilder – für jede Bildinterpretation ein folgenreiches Missverständnis!
• Warum ist die Absicht des Künstlers unwichtig? Um gleich etwas einzuschränken: Natürlich kann die Intention des Urhebers eines Kunstwerkes für die Interpretation mit herangezogen werden. Entscheidend ist jedoch nicht die Sicht, nach der ein Kunstwerk nur dazu dient, Meinungen einer Person an eine andere zu transportieren. Die alte Frage der Deutschlehrer – „Was wollte uns der Dichter damit sagen?“ – legen wir daher ad acta. Auch wenn wir von diesen Absichten nichts wissen, „sagt“ uns das Kunstwerk etwas. Außerdem ist das Kunstwerk in seinen Möglichkeiten des Ausdrucks immer reichhaltiger als das, was der Künstler (vielleicht) mitteilen wollte. Kunst erschöpft sich nicht in seiner Intention. Sie geht darüber hinaus und ist über lange Zeiten und entsprechend wechselnde Kontexte produktiv. Sie erzeugt immer neue Lesarten. Das bedeutet nicht, dass wir den Künstler besser verstehen als er sich selbst. Aber wir verstehen das, was er geschaffen hat, anders und womöglich reichhaltiger als er sich das jemals hat vorstellen können. In der Hermeneutik wird von dem Prinzip der „Wirkungsgeschichte“ gesprochen, wenn die über mehrere Epochen hin anhaltende Produktivität eines Werkes und der sich verändernde Standpunkt der Interpretierenden bezeichnet werden sollen.