Die Integration des Zufalls

Die bisherige Beschreibung des Werkprozesses macht deutlich, dass der Künstler nicht von einer Bildvorstellung ausgeht, sondern die Bildgestalt erst im Malprozess entwickelt. Dadurch enthält das Bild Formen, deren Gestalt erst im Malprozess entsteht, die nicht schon vorher „gewusst“ wird. Ihre Gestalt ist abhängig vom Zufall, d. h. vom „Verhalten“ der Farbe während des Malprozesses. Dieses Verhalten ist nicht vorhersehbar oder berechenbar, bedingt durch die variationsreiche „Auftragstechnik“ und die unterschiedliche Konsistenz der Farbe.

Diese Art der Werkgenese vereinigt Intentionalität und Kontingenz, denn der Prozess zeigt die Intentionalität des Künstlers, aber auch die Akzeptanz des Zufalls, indem er die Gravitation als physikalische Gesetzmäßigkeit seines Handelns akzeptiert. Dadurch wird der Zufall in die Formentstehung integriert und der Akt des Malens wird zu einer Interaktion des Künstlers mit der Farbe.

Das „Große rote Bild“ enthält auch hinsichtlich der Farbnuancierung „Zufälliges“. Der Nuancenreichtum der ausdifferenzierten Buntfarbe kommt ebenfalls durch die Akzeptanz des Zufalls zustande, nämlich indem der Künstler die Farben durch Schichtung und Konsistenz miteinander „interagieren“ lässt.

So wie die Genese des Bildes Intentionalität und Kontingenz enthält, so erfasst auch der Betrachter beide Momente in der Rezeption, wie die Lesart 5 zeigt.

Semantische Aspekte

Aus der Analyse kristallisieren sich zwei semantisierbare Elemente heraus: Die Materialität der Farbe und die erkennbaren Prozesse in der Farbe.

Farbe dient hier als Material, das im Bild zur geformten und nuancierten Bestandteil wird. Das Bildmaterial, die Farbe, hat die unterschiedlichsten Eigenschaften: dünnflüssig und transparent, sandig und stumpf, zähflüssig und glänzend. Im „Großen roten Bild“ werden die Farben mit dem Charakter des Mineralischen und Ursprünglichen identifiziert, d. h. die Farbe wird auf einen ihrer Ursprünge zurückgeführt, radikalisiert. Durch diese Identifikation wird die Richtung der Assoziationen des Betrachters vorgegeben. Andererseits widerspricht das Bild durch Offenlegung des Arbeitsprozesses diesen Assoziationen, denn es zeigt, dass es sich um Farbe in und auf einem Bild handelt.

Farbe wird hier nicht mehr benutzt, um die Erscheinung eines Gegenstandes zu bezeichnen. Die Rückführung der Farbe auf ihre mineralische Beschaffenheit macht deutlich, dass Farbe letztlich auch Materie ist. So beinhaltet das „Große rote Bild“ nichts Wiedererkennbares in dem Sinn, dass es die Formen der Natur wiedergibt. Es ist radikaler: Es stellt die Eigenschaften der ursprünglichen, mineralischen Farbe dar und stellt Bezüge zu physikalischen Prozessen in der Farbe her.

Die Explikation der objektiven Merkmale des Bildes und ihre spezifische Zusammenfügung im Bild, die Bearbeitung der Farbe durch den Künstler und der Nachvollzug des erkennbaren Arbeitsprozesses, machen deutlich, dass im Bild die Farbe zur „Darstellung“ gebracht wird.

Der Akt des Malens zeigt rationale Kontrolle und Emotionalität. Die Farbe wird in gewalttätiger oder sensibler Weise bearbeitet durch den Willen des Künstlers und durch den von ihm gelenkten Zufall, sie findet ihre Form durch ihre „Eigentätigkeit“.

Diese Behandlung der Farbe durch den Künstler weist sie als „autonom“ aus, Farbe steht hier nur für sich selbst, sie wird nicht mehr in illusionistischer Weise benutzt. Dies gilt ebenso für den Malgestus: Befreit von der vorher gewussten Gestalt, die es auszuführen galt, wird auch er autonom.

Man kann dies auch anders fassen, dann zeigt diese Behandlung der Farbe eine Verabsolutierung des Materials. Hinzukommt die Verabsolutierung des „Machens“, also des künstlerischen Prozesses. Schumachers „Großes rotes Bild“ hat zwei Brennpunkte: die autonome Farbe und das in ihr stattfindende autonome künstlerische Handeln.

Die explizierte Struktur des „Großen roten Bildes“ zeigt seine Bedeutung: Bedeutung erhält das Bild einmal durch die Auffassung von Farbe und zum anderen durch die Autonomie des Werkprozesses. Die Radikalisierung der Farbe auf Materie ermöglicht das Entstehen verschiedener Anmutungsqualitäten im Betrachter. Dieses Bild ist durch sein „Oszillieren“ zwischen Bedeutungsmöglichkeiten und ihrer Aufhebung, durch seine Ambiguität und Vielfalt auf den verschiedenen Ebenen offen für die Imagination des Betrachters.

 
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