Abbildungswelten
Wir leben in einer Welt der Bilderwelt. Seit jeher haben die Menschen die Angewohnheit, die sie umgebenden Ereignisse und Gegenstände irgendwie abzubilden, um deutlich zu machen, dass hier eine denkende Auseinandersetzung stattgefunden hat und dass vielleicht bestimmte Erlebnisse gerne weitergegeben oder vermittelt werden sollen.
In vielen Fällen geht es in der Kunst bis heute darum, die gegenständliche Welt, die uns umgibt, in der einen oder anderen Form darzustellen. Bei der Kunst haben wir es mit abgebildeten Objekten, Situationen und Prozessen zu tun. Objekte sind hier einzelne Gegenstände, die sich in der Regel nicht bewegen, Situationen stellen Fügungen verschiedener Gegenstände dar, so wie wir es im Stillleben vorfinden. Prozesse betreffen alle diejenigen Inhalte, die sich auf irgendeine Art und Weise deutlich sichtbar bewegen. Dazu gehören sowohl die Performance als auch alles, was mit dem Medium Film zu tun hat.
Die Auseinandersetzung mit der Kunst ist eine Reise in die Abbildungswelt, mit der wir uns umgeben.
Wir nehmen unsere Umwelt nicht nur direkt wahr, sondern auch indirekt durch die Benutzung von Abbildungen bestimmter Wirklichkeitsausschnitte. So verwenden wir unsere Augen bekanntlich auch zum Lesen, indem wir wahrgenommene Zeichen und Symbole (Buchstaben, Wörter und Wortkombinationen) als bedeutungsvoll erkennen und sie mit Vorstellungsinhalten verbinden.
„Bedeutungsvoll“ will sagen, dass das wahrgenommene Symbol oder Zeichen (z. B. das Wort „Schloss“) auf innere Bilder deutet, die früheren Wahrnehmungen entstammen und im Gehirn gespeichert worden sind. Dies geschieht wie in unserem Beispiel oft mehrdeutig, denn hier kann es sich ebenso um ein Türschloss wie um einen Palast handeln.
Ähnlich wie über Symbole nehmen wir auch über Abbildungen die Welt indirekt wahr, und wir entwickeln auf diese Weise Anschauungen, ohne überall selbst gewesen zu sein.
Diese Bilder werden von Menschen hergestellt, meist um bestimmte Absichten besser zu verdeutlichen zu können oder um Sachverhalte zu veranschaulichen.
Sie sind wir ebenfalls geneigt für wahr zu nehmen, besonders, wenn sie in einem Massenmedium erscheinen. Mehr noch als reale Erlebnisse sind Bilderlebnisse Ausschnitte aus Wirklichkeitszusammenhängen, die Aspekte davon aufgreifen können. Beim Betrachten von Bildern müssen wir uns in die Gedankenwelt der Bilderzeuger begeben. Sie haben etwas für uns vorgedacht, auf das es sich einzulassen gilt. Das müssen wir wollen; dafür ist Neugier notwendig.
Der Betrachter einer Plastik in einer Ausstellung hat es mit der Schwierigkeit zu tun, dass er rundherum gehen muss, um sich verschiedene Hinsichten auf das Objekt anzueignen, die er dann zu einem Gesamteindruck zusammenzusetzen hat. Die Wahrnehmung des Exponates ist hier also schon mit einem erheblichen Aufwand verbunden.
Im Falle von bildhaften Gestaltungen der gegenständlichen Welt wird ihm diese Entscheidung abgenommen, aber einfacher ist die Rezeption dadurch nicht. Die Abbildung gibt ihm vor, wie das Objekt wahrzunehmen ist, und so liegt z. B. bereits in der Perspektive ein Ansatzpunkt für Wahrnehmungsbeeinflussung. Also muss der Betrachter versuchen, sich in die Denkwelt des Bilderzeugers hineinzuversetzen, um seine Mitteilungsabsicht zu verstehen.
Wir müssen zugeben, dass es anders kaum möglich wäre, umfassende und weitreichende Sachkenntnis über die Welt zu vermitteln, wenn wir stets den Dingen selbst nachgehen müssten. Es kommt darauf an, sich ein deutliches Bewusstsein für die eingeschränkte Objektivität von Abbildungen anzueignen. Oft hilft dabei die (durch Wahrnehmungstraining geförderte) Phantasie, sich das Erfahrene aus ganz anderen Perspektiven vorzustellen.
In der Kulturgeschichte haben bereits in der Höhlenmalerei Abbildungen, also Bilder von der Welt, eine wichtige, oft religiöse oder kultische Rolle gespielt. In der Bilderflut unseres Zeitalters geht das oft leider verloren. Wie können wir uns bei diesem Überfluss überhaupt noch ein Bild von der Welt machen? Ist das „Bildersurfen“ im Internet wirklich ein so großer Segen, wie die Kommunikationskonzerne uns erzählen?
Die elektronischen Bilder, die uns umgeben, sollten wir also mit besonderer Genauigkeit betrachten. Und dazu müssen wir Grundsätzliches über Bilder wissen. Wir können zwei große Gruppen von Bildern unterscheiden, die intuitiv ent-
standenen und die planvoll konzipierten.
Während intuitives Abbilden keine besonderen Ziele verfolgt, ja den Prozess selbst als Ziel hat, dienen geplante Bilder immer irgendwelchen oft auch völlig außerästhetischen Zwecken.
Erinnerungsbilder haben das zeichenhafte Spiegeln von inneren Befindlichkeiten, Stimmungen und Einstellungen als Hintergrund. Sie erfüllen ebenso wie die oft unbewusst entstehenden Kritzeleien auf Konferenzen wichtige psychohygieni-sche Funktionen, indem sie durch das Werkzeug des Stiftes Spannungen entladen helfen und Ausdruck von Weltgefühl ermöglichen.
In unserem Bewusstsein werden äußere und innere Wahrnehmungen zu einem Eindruck zusammengefasst – und da Menschen über sehr unterschiedliche Innenwelten verfügen, können auch bei gleichem Wahrnehmungsfeld ganz verschiedene Erlebnisse entstehen.
Bilder liefern keineswegs zuverlässige Information über die Welt, und sie können auch nicht gleichmäßig bestimmte Wirkungen erzielen. Sie sind immer zuerst sehr persönliche Angelegenheiten – ob sie nun hergestellt worden sind oder real angeschaut werden.
Das wird deutlich, wenn wir uns nicht nur auf das Konsumieren von Bildern beschränken, sondern sie selbst erzeugen. Die beim Betrachten ablaufenden Prozesse sind zu flach, um diese grundlegenden Prozesse wirklich klar zu machen.
Oft hören wir im Zusammenhang mit Bildern und Abbildungen den Satz „Das kann ich mir nicht vorstellen.“
Unser Denken bewegt sich nicht vorwiegend im Modelloder Symbolbereich, in dem sehr reduzierte Bilder erforderlich sind. Die Benutzung von konkreten Bildern ist viel häufiger notwendig. Bei einem Wort wie „Frühling“ beispielsweise erscheinen in unserem Bewusstsein Bilder, die aus der individuellen Erfahrungswelt stammen. Sie sind also bei mehreren Personen sehr verschieden, wenn sie auch Übereinstimmungen im Grundsätzlichen aufweisen. Ohne diese Bilder wäre „Frühling“ nur eine Worthülse (vgl. Kahrmann 2009, S. 241 ff.).