Imdahls „Ikonik“: Chancen und Grenzen

Max Imdahls „Ikonik“ fokussiert das Bild selbst. Das macht diesen methodischen Zugang zur konsequentesten Position unter den bisher diskutierten Ansätzen In seiner dezidierten Abweisung des Anspruchs der Sprache, alles ausdrücken und übersetzen zu können, markiert Imdahl den Gegenpol zu Oevermann und seiner Objektiven Hermeneutik. Imdahls Ansatz ist geeignet, die Bedeutungen, die in Bildern verborgen sind, in einer ganz neuen Weise aufzuschließen. Der besondere Vorzug von Imdahls gleichsam vorurteilsfreier Herangehensweise liegt darin, dass die Bildinterpretation auch für Nichtfachleute geöffnet wird. Schließlich fordert der Kunsthistoriker ausdrücklich dazu auf, nur über das zu sprechen, was auch wirklich zu sehen ist. Kaum eine andere Methode der Bildinterpretation macht das Bild und das auf ihm zu Sehende so nachdrücklich zum Prüfstein der Deutung.

Natürlich ist damit nicht alles abgedeckt, was eine Bildinterpretation leisten sollte, und auch ihre Voraussetzungen sind nicht zureichend beachtet. Auch Imdahl kommt nicht daran vorbei, dass die Beschäftigung mit Bildern eben nicht ohne Kommunikation und somit nicht ohne Sprache auskommen kann. Bild und Sprache können also nicht einfach nur auf Abstand gehalten werden. Vielmehr ist im Verlauf der Bildinterpretation immer wieder ihr Verhältnis zu klären. Auch in einem anderen Punkt kann die „Ikonik“ nicht so puristisch verfahren, wie es Imdahl zunächst suggerieren möchte. Denn kein Bild ist ohne die Kenntnis von Kontexten hinreichend zu interpretieren. Das eben diskutierte Beispiel hat gezeigt, dass auch Imdahl immer wieder Kontexte heranzieht. Kontexte können nicht abgewiesen werden. Es geht darum, sie angemessen heranzuziehen, also in der Form, dass die aus ihnen gewonnenen Informationen die Analyse des Bildes nicht vorherbestimmen, also in unzulässiger Weise steuern.

Genau dieser Gefahr weicht jedoch Max Imdahl dort nicht aus, wo es um die Basis seines eigenen Vorgehens geht. Imdahl unterstellt, dass seine Form der Bildbetrachtung einen Blick in Anspruch nehmen kann, der gleichsam außerhalb der Zeit steht. Die Bildstrukturen, die er analysiert, scheinen über jeden historischen Wandel hinaus gültig zu sein. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Tatsache, dass sich Imdahl besonders der abstrakten und konkreten Kunst zugewandt hat, macht deutlich, dass sein Blick eine wichtige Voraussetzung hat – die moderne Kunst und ihr Bildverständnis. Imdahls Methode hat selbst ihren historischen Ort. Diese offensichtliche Tatsache wird zu wenig mit reflektiert. Ein anderer Einwand betrifft Imdahls Fokussierung des Einzelwerkes. Die meisten seiner Analysen betreffen jeweils nur ein einzelnes künstlerisches Werk. In der intimen Begegnung mit diesem Werk sucht der Interpretierende dann nach einer besonderen Erkenntnis, die so nur dieses einzelne Werk bieten kann. Diese weitere wichtige Implikation von Imdahls Methode hat ihre spezifischen Möglichkeiten, verhindert aber, dass größere historische Vergleiche in den Blick kommen.

Aus diesen Einwänden folgt schließlich eine weitere, wichtige Relativierung von Imdahls „Ikonik“. Sie muss als ein Verfahren erscheinen, das nicht gelernt werden kann, weil es von seinem Erfinder nicht in einzelne Schritte zergliedert und entsprechend methodisch aufbereitet worden ist. Die „Ikonik“ bezeichnet weniger eine beschreibbare Methode als eine Kunstlehre, die nur von ihrem Schöpfer mit ganzer Sensibilität gehandhabt werden kann. Damit ist ein heikler Punkt jeder Hermeneutik bezeichnet. Dieser Punkt ist dann erreicht, wenn der Erfolg der Interpretation nicht von einer methodischen Vorgabe, sondern besonders von der Geschicklichkeit des Interpretierenden abhängt. Diese Geschicklichkeit ist jedoch eine Sache eines Individuums und nicht für jeden erlernbar. Ohne diesen Faktor individueller Fertigkeit ist Hermeneutik als Sinnverstehen nicht möglich. Ohne ein hinreichendes Maß an methodischer Reflektiertheit dagegen gleitet sie ab in bloße Subjektivität. Dieser gefährliche Widerspruch kann nicht aufgelöst, sondern nur reflexiv bearbeitet werden. Imdahls „Ikonik“ macht auf diese heikle Implikation der Hermeneutik besonders nachdrücklich aufmerksam.

 
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