Hermeneutik der Gegenwartskunst
Stefan Lüddemann
Reichen die analytischen Möglichkeiten und methodischen Instrumente der Strukturalen Hermeneutik aus, um Phänomene der Gegenwartskunst so analysieren zu können, dass sich die Interpretation auf der Höhe ihres Gegenstandes bewegt? Diese Frage kann nicht einhellig positiv beantwortet werden. Die Gegenwartskunst hat auf jeden Fall die Grenzen jenes Kunstverständnisses aufgesprengt, das sich auf Kategorien wie die des mit sich selbst identischen Werkes und der klaren Abgrenzung der Kunst von Nicht-Kunst bezieht. Zeitgenössische Kunst ist eine Kunst in Kontexten. Das verändert mit ihrem Stellenwert auch die Möglichkeiten, mit der Kunst den Untersuchungsgegenstand hermeneutischer Analyse trennscharf ausmachen zu können. Der Blick auf ein einzelnes Bild reicht (meist) nicht mehr aus. Gefragt ist eine Hermeneutik, die ihre methodischen Optionen deshalb entsprechend erweitert.
In diesem Kapitel soll ein neues Modell vorgeschlagen werden. Es kann sich, wie gleich noch zu zeigen sein wird, nicht mehr als ein Modell der Bildhermeneutik allein verstehen. Es geht vielmehr darum, das Modell einer Hermeneutik für Gegenwartskunst zu entwerfen, das mit seinem Gegenstand Schritt hält. Damit ist an dieses Modell vor allem die Anforderung gestellt, gerade jene Unschärfen oder – positiv gesprochen – jene Erweiterungen mit in Betracht zu ziehen, die sich aus dem Zustand der zeitgenössischen Kunst ergeben. Diese Kunst konstituiert sich nicht mehr allein über einzelne, ohne weiteres identifizierbare Werke, sondern vor allem als Gefüge von Werken und ihren Kontexten, mithin also als System aus multiplen Bezügen. Ziel der hermeneutischen Analyse kann es deshalb nicht nur sein, objektivierbare Merkmale eines Objekts zu bestimmen und mit jenen Kontexten in kohärente Beziehung zu setzen, die eine an den Parametern der klassischen Kunstgeschichte orientierte Interpretation heranziehen würde. Bei diesem Verständnis der Analyse kommen vor allem der Kontext eines Stils, die Funktion des Werkes und sein ikonografisch erfassbarer Gehalt in den Blick (vgl. Partsch 2014, S. 71-84).
Darüber hinaus muss eine Hermeneutik der Gegenwartskunst allerdings weitere Kontexte und Relationen mit einbeziehen, um dem jeweiligen Phänomen gerecht werden zu können. Termini der aktuellen Debatte zur zeitgenössischen Kunst und den Möglichkeiten des Ausstellens wie Institutionskritik, Intervention, Materialität, Museumswandel und Rezeption/Partizipation (vgl. die entsprechenden Stichwörter in Reichensperger 2013) beschreiben in ihrer Gesamtheit den Aggregatzustand, den Kunst heute erreicht hat – und der besteht darin, nicht mehr nur autonomes Werk, sondern ein Bezugssystem zu sein, dass Bedeutung über einzelne Artefakte hinaus vor allem über Relationen zu produzieren. Eine Hermeneutik, die diesen Bedeutungspotenzialen auf die Spur kommen möchte, hat also neben den Werken auch die Kontexte und Relationen zu analysieren, in denen Werke stehen, wenn sich diese Werke nicht ohnehin nur noch als kontextuelle Verweise realisieren.
In diesem Kapitel wird folgerichtig erstens die aktuelle Situation der Gegenwartskunst in ihren grundsätzlichen Parametern beschrieben. Damit soll nicht das Phänomen Gegenwartskunst vollständig erfasst werden. Es muss aber darum gehen, jene Charakteristika des Gegenstandes zu erfassen, die zu einer Modifikation der Untersuchungsmethode führen müssen. Die benannten Parameter der zeitgenössischen Kunst bezeichnen genau jene Aspekte, die auch zum Thema der Analyse gemacht werden müssen.
Entsprechend wird zweitens ein Interpretationsmodell entwickelt, das in sechs Ebenen Analyseschritte hintereinander schaltet, mit denen die relevanten Dimensionen der Gegenwartskunst in den Blick genommen, analysiert und auf diese Weise abgearbeitet werden können. Wie bei der strukturalen Hermeneutik bewegt sich die Analyse vom fokussierbaren Einzelwerk hin zu einer Reihe von Kontexten. Der Blick der Analyse wird also in ihrem Fortgang immer mehr ausgeweitet. Damit ist allerdings nicht gemeint, dass lediglich Randbedingungen des Werkes angesprochen werden. Das Analysemodell erlaubt es, das ganze Bezugssystem der Kunst und damit auch alle ihre Erscheinungsformen und somit ihren ganzen Prozess der für die Gegenwartskunst spezifischen Form der Bedeutungsproduktion in den Blick zu nehmen und hermeneutisch aufzuschlüsseln. Besonders wichtig ist dabei, dass die Interpretationsbewegung in zwei Richtungen verläuft. In ihrem Ablauf wird nicht einfach nur der Fokus immer weiter aufgezogen; zugleich werden auch die Untersuchungsergebnisse der einzelnen Schritte immer wieder auf den Ausgangspunkt der Analyse zurückprojiziert. Erst damit kann erfasst werden, was die zeitgenössische Kunst besonders auszeichnet – dass die Merkmale eines Werkes oft erst über die Spiegelungen der Kontexte ihre volle Bedeutung gewinnen.
Danach wird das Verfahren drittens in einer konkreten Analyse erprobt. Gegenstand ist eine Rauminstallation des Objektund Installationskünstlers Michael Beutler, dessen Werk in vielfältiger Weise die Dimensionen der Gegenwartskunst paradigmatisch repräsentiert. Damit sind vor allem Dimensionen des Materials, der Verortung der Kunst, ihres Objektcharakters, ihrer vielfältigen Funktionsund Verwendungsbezüge sowie des Spiels mit den Institutionen der Kunst und mit den Grenzüberschreitungen zwischen Kunst, Design und Architektur gemeint.