Sterbehilfe in Europa
Abbildung 4.1 gibt einen Überblick über die Reformentwicklungen in der Sterbehilfepolitik in Europa seit 1960. Während auf der horizontalen Achse die vergangenen fünf Jahrzehnte abgetragen sind, ordnen sich auf der vertikalen Achse die vier verschiedenen Regulierungsansätze „Totalverbot“, „passive Sterbehilfe“,
„assistierter Suizid“ und „aktive Sterbehilfe“ an. Von den drei verschiedenen Typen der Sterbehilfe stellt die passive Sterbehilfe die Form dar, welche die geringste Reichweite hat. Davon zu unterscheiden ist der assistierte Suizid, welcher eine aktive Handlung des Sterbewilligen erfordert. Bei der aktiven Sterbehilfe ist die assistierende Person auch bei der Einnahme der todesbringenden Dosis behilflich, daher ist dies die liberalste Form der Sterbehilfe. Wie in Deutschland ist in vielen Ländern die Sterbehilfe in den Gesetzestexten implizit reguliert – in erster Linie in den Tötungstatbeständen des Strafrechts. So entstehen rechtliche Grauzonen, deren konkrete Ausgestaltung und Interpretation Dritten überlassen wird. Dazu zählen die Ärzteschaft oder die nationalen Gerichte. Die zentrale Grundlage der Regulierung sind dabei die nationalen Strafgesetze, die sich mit den Tatbeständen des Mordes und Selbstmordes befassen (Preidel und Knill 2015; Euchner und Preidel 2014).
Betrachtet man die nationalen Reformbewegungen seit 1960 wird deutlich, dass sich die europäische Sterbehilfepolitik im Vergleich zu anderen moralpolitischen Feldern nur geringfügig gewandelt hat. Zwar zeichnet sich wie in der Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs und der Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften ein Liberalisierungstrend ab (Budde und Heichel 2015; Preidel 2015; Budde 2015), dieser setzt jedoch vergleichsweise spät ein, sodass das Bild von Stagnation und von einer relativ restriktiven Regulierung geprägt ist.
In den 1960er bis in die 1980er Jahre war Sterbehilfe in Deutschland, wie auch in der Mehrheit der europäischen Staaten, vollkommen verboten und mit hohen
Abb. 4.1 Europäischer Regulierungstrend (1960–2010). ( Anmerkungen: Deutschland (DE) jeweils fett gedruckt. (Datenquelle: MORAPOL)
Strafen belegt. Ein Verstoß konnte beispielsweise in Frankreich de jure sogar die Todesstrafe zur Folge haben. In Deutschland hatte man damals eine lebenslange Gefängnisstrafe zu fürchten, unterstütze man aktiv eine Person dabei, ihren Todeswunsch umzusetzen. Jedoch sahen nicht alle Länder in der Nachkriegszeit ein vollkommenes Sterbehilfeverbot vor. In den Niederlanden und Irland gab man schon damals einem im Sterben liegenden Patienten das Recht, die medizinische Behandlung auf eigenen Wunsch abzubrechen. Dies wurde dadurch gewährleistet, dass die nationalen Verfassungen das Prinzip der Patientenautonomie sicherstellten. Dem Patienten stand das Grundrecht zu, unabhängig vom Heilungsauftrag der Ärzteschaft jegliche medizinische Behandlung zu beenden. In der Schweiz und in Schweden gestand man bereits vor 1960 den Bürgern zwar nicht zu, passive Sterbehilfe durchzuführen, aber Unterstützung für einen Selbstmord zu erhalten. Nach Schweizer Recht besitzen Privatpersonen und Ärzte das Recht beim Suizid zu assistieren, wobei vorausgesetzt ist, dass sie nicht aus Eigeninteressen heraus handeln. In Schweden ist es Ärzten dahingegen verboten als Sterbehelfer zu fungieren. Die Stabilität der europäischen Sterbehilfepolitik brach in den 1970er Jahren und insbesondere nach 1990 auf. So folgten Mitte der 1970er Jahre Spanien und Portugal den Niederlanden und Irland, indem sie in ihren Verfassungen das Prinzip der Patientenautonomie festschrieben und damit die gesetzliche Grundlage für die passive Sterbehilfe legten. Diese Verfassungsänderung geschah im Zuge des Regimewechsels, den beide Länder nach Sturz der spanischen Franco-Diktatur und des portugiesischen Estado Novo vollzogen. Detaillierte Richtlinien zu einer Therapiebeendigung für sterbewillige Patienten bestanden bis dahin jedoch in keinem der vier Länder.
Es dauerte weitere zwanzig Jahre bis die Sterbehilfe expliziter reguliert wurde. Wie Deutschland waren auch die anderen Staaten mit Entwicklungen konfrontiert, die Handlungsdruck erzeugten. Die Fortschritte in der Intensivmedizin und der demographische Wandel erhöhten die Zahl von Patienten, die mithilfe medizinischer Behandlungsmethoden am Leben erhalten werden konnten. Diese Entwicklung stellt Ärzte und die Gesellschaft vor die Frage, wie lange menschliches Leben künstlich erhalten werden soll und inwieweit diese Behandlung menschenwürdig ist. Diese Entscheidung wird insbesondere dann zur Herausforderung, wenn der Patient nicht mehr bei Bewusstsein ist und nicht seinen Willen äußern kann. Als Reaktion darauf begannen die europäischen Länder Rechtssicherheit für die Patienten, Ärzte und Familienangehörigen zu schaffen. Die passive Sterbehilfe wurde zugelassen und im Detail reguliert, zumeist durch die Etablierung von Patientenverfügungen. Die Anführer dieser Reformwelle der 1990er Jahre waren Dänemark, die Niederlande, Großbritannien und Finnland. In den 2000er Jahren folgten ihnen Norwegen, Frankreich, Österreich und Deutschland. Je nach den gesetzlichen Bestimmungen erhielten Patienten das Recht, vorab schriftlich oder auch mündlich zu definieren, welchen medizinischen Behandlungen sie nicht unterzogen werden wollen, wenn sie ihren eigenen Willen nicht mehr äußern konnten. Damit wurden die Patientenrechte gegenüber der Ärzteschaft gestärkt und für die behandelnden Ärzte die Rechtssicherheit erhöht.
Die Niederlande und Belgien gingen zu Beginn der 2000er Jahre sogar einen Schritt weiter, indem sie die aktive Sterbehilfe erlaubten. In beiden Ländern wurden Gesetze verabschiedet, die es sterbewilligen Patienten erlauben, ihren Arzt zu bitten, sie mit einer tödlichen Dosis an Medikamenten zu töten. In den Niederlanden kommt dieses Recht jedoch nur Personen zu, die physisch erkrankt sind und deren Zustand als unheilbar gilt. Im Nachbarland Belgien ist die Gesetzeslage noch permissiver. So dürfen Patienten ihren Arzt dazu auffordern, ihnen aktive Sterbehilfe zu leisten, falls sie physisch oder physisch schwer erkrankt sind. Dieses Recht haben sie, auch wenn eine Genesung nicht ausgeschlossen werden kann. Hinzukommt, dass seit 2014 bereits Minderjährige mit dem Einverständnis ihrer Eltern Anspruch haben, um Sterbehilfe zu bitten. Generell unterliegt in beiden Ländern die Durchführung strengen Auflagen, die sich u. a. auf die vorherige Beratung des Patienten und Dokumentationspflichten des Arztes beziehen.
Im europäischen Kontext hält allein Italien weiterhin am Totalverbot der Sterbehilfe fest. Die Patientenautonomie ist in dem südeuropäischen Staat weitreichend eingeschränkt. Selbst der in den 2000er Jahren öffentlich intensiv diskutierte Fall der Komapatientin Eluana Englaro führte nicht zu einer Liberalisierung der passiven Sterbehilfe. Die damalige Regierung setzte sich vielmehr dafür ein, die Rechte zur Therapiebeendigung explizit gesetzlich einzuschränken. Allein über den gerichtlichen Weg konnte der Vater der Patientin eine Beendigung der medizinischen Behandlung durchsetzen (Payk 2009; Moratti 2008).
Betrachtet man Deutschland im Vergleich zu den anderen europäischen Staaten wird zum einen deutlich, dass es seit 1960 eher eine geringe Liberalisierung der Sterbehilfepolitik vollzogen hat. Zum anderen kristallisiert sich heraus, dass die deutsche Politik 2009 relativ spät dem generellen Trend folgte, die passive Sterbehilfe zu erlauben. Das folgende Kapitel skizziert die deutsche Regulierungsgeschichte und geht auf den Reformprozess in den 2000er Jahre im Detail ein.