Fazit

Aufgrund der nationalsozialistischen Vergangenheit war die Sterbehilfe in Deutschland lange ein Tabuthema und deren Regulierung kein politischer Gegenstand. Ansonsten hätte man sich in der jungen Bundesrepublik, deren Gesellschaft die Nazi-Verbrechen zunächst zu verdrängen versuchte, über das Für und Wider der Sterbehilfe auseinandersetzen müssen, was automatisch zu einem Rückgriff auf nationalsozialistisch überschattete Debatten geführt hätte (Große-Vehne 2005). Das in der neuen Bundesrepublik geltende Recht verbot ausdrücklich die aktive Sterbehilfe. Beim assistierten Suizid und der passiven Sterbehilfe war es jedoch weniger strikt, da es hierfür keine explizite Regelung gab. Vielmehr überließ man es Dritten, der Ärzteschaft und den Gerichten, situationsbedingt über die Rechtmäßigkeit dieser Beihilfeformen zu entscheiden. Damit stand Deutschland nicht allein. Außer der Schweiz taten sich alle europäischen Staaten lange Zeit schwer, eindeutige Regulierungen auf den Weg zu bringen oder von einem Totalverbot der Sterbehilfe abzurücken. Mit dem gesellschaftlichen Wandel und den technischen Entwicklungen wuchs in den letzten Jahrzehnten allerdings der Druck, die Sterbehilfe zu legalisieren. Während die Niederlande, Luxemburg und Belgien bereits einen radikalen politischen Wandel vollzogen und die aktive Sterbehilfe erlaubt haben, bleibt Deutschland weiterhin seinem Regulierungsansatz treu und hat durch die rechtliche Anerkennung schriftlicher Patientenverfügungen lediglich den Weg für die passive Sterbehilfe freigemacht. Reformanstrengungen zum klaren Verbot des kommerziellen assistierten Suizids und zur gesetzlichen Regelungen der ärztlichen Beihilfe beim Freitod waren bis jetzt erfolglos. Nicht nur im Ländervergleich, sondern auch mit Blick auf andere bioethische Debatten und moralpolitische Themen, wie der Regulierung des Schwangerschaftsabbruchs, der Prostitution oder der Rechte homosexueller Paare, sticht die deutsche Sterbehilfepolitik mit dieser geringen Reformaktivität hervor (Preidel 2015; Budde 2015; Euchner 2015).

Die Passivität der Entscheidungsträger resultiert zum einen aus der kulturellen Pattsituation Deutschlands. Zwar gibt es in der deutschen Bevölkerung eine eindeutige, gering organisierte Mehrheit für die Zulassung der Sterbehilfe, gleichzeitig belastet das nationalsozialistische Erbe die politische Reformaktivität. Die Abwägung zwischen beiden Seiten ist so heikel, dass man eine implizite Regulierung wählt, in deren Schatten Bürger Beihilfe zum Sterben bekommen können. Damit entgeht man einer klaren Positionierung gegenüber der Sterbehilfe, die im starken Widerspruch zum historischen Erbe steht. Durch die starke Heterogenität innerhalb der Parteien und zwischen den involvierten politischen Institutionen ergibt sich darüber hinaus eine hohe Zahl an Vetospielern, welche die Entscheidungsfindung blockieren und Reformen nahezu unmöglich machen. Allein eine gezielte Entpolitisierung der Politikformulierung, Entscheidungsfindung und politischen Steuerung ermöglicht es, den gesellschaftlichen Wertkonflikt zu befrieden. Dies geschah in den letzten Jahrzehnten nicht nur durch die Delegation der Regulierung an die Gerichte und die Bundesärztekammer. Im Vorfeld der Entscheidung des Bundestags für die Einführung schriftlicher Patientenverfügungen im Jahr 2009 hatte man Kommissionen eingesetzt, die fern vom politischen Tagesgeschäft eine politische Lösung gesucht hatten. Darüber hinaus wurde die abschließende Abstimmung ohne Fraktionsdisziplin als Gewissensentscheidung abgehalten, da sich die großen Parteien trotz des Handlungsdrucks nicht auf eine gemeinsame Parteilinie einigen konnten. Bei dem anschließenden Reformvorhaben der Bundesregierung von Union und FDP (2009–2013) zum Verbot der gewerblichen Sterbehilfe hatte man von einer Entpolitisierung abgesehen und scheiterte folglich. Die Große Koalition, die im Dezember 2013 ihr Amt antrat, scheint daraus gelernt zu haben. In einem neuen Anlauf möchte sie ein Verbot der organisierten Sterbehilfe durchsetzen, indem sie das Thema als Gewissensfrage behandelt.

Diese Entwicklungen machen deutlich, dass die deutsche Sterbehilfepolitik eine klassische Moralpolitik darstellt. In dem Politikfeld prallen grundlegende Wertevorstellungen aufeinander, von denen keiner der Akteure gewillt ist abzurücken, um sich auf einen Kompromiss zu einigen. Die Argumente in der Debatte sind weniger technischer oder materieller, sondern eher moralischer und emotionaler Natur. Sie beziehen sich auf die individuellen Selbstbestimmungsrechte, die Würde des Menschen, den inhärenten Wert menschlichen Lebens, das nationalsozialistische Erbe oder den ärztlichen Heilungsauftrag. Die politischen Entscheidungsträger nehmen dementsprechend von dem sensiblen Thema Abstand und die Delegation der Entscheidungsfindung und Regulierung an Dritte ermöglicht es, sich der Verantwortung zu entziehen. In jüngster Zeit lässt sich aber eine Veränderung der Sterbehilfedebatte in Deutschland beobachten. Nicht nur durch die technologischen Weiterentwicklungen in der Medizin, sondern auch durch die zunehmende Instabilität der sozialen Sicherungssysteme und der Gründung von Sterbehilfevereinen gelangen ökonomische Aspekte in die Debatte – seien es die steigenden Pflegekosten, die das Gesundheitssystem belasten, oder die gewerbliche Sterbehilfe. Betrachtet man die Entwicklungen in anderen Moralpolitiken, wie der embryonalen Stammzellforschung, der Prostitution und dem Glücksspiel, könnte dies zu einer moderaten Entmoralisierung der Diskussion führen und den Weg für eine schrittweise Liberalisierung öffnen.

Dementsprechend wird die Sterbehilfepolitik in Deutschland mit einer Eignung in Fragen des assistierten Suizides nicht an Brisanz verlieren. Weiterhin gilt es die Sterbebegleitung und Palliativmedizin auszubauen. In der aktuellen 18. Legislaturperiode ist dies ein zentrales Thema, das auch in der Diskussion zum assistierten Suizid große Aufmerksamkeit findet. Im Bundestag und in der Bundesregierung hat sich ein breiter Konsens etabliert, dass die Förderung der Schmerztherapie und der psychologischen und seelsorgerischen Begleitung am Lebensende ausgeweitet werden muss [1]. Darüber hinaus ist zu erwarten, dass die steigende Lebenserwartung, die wachsenden Pflegekosten und die weiteren medizinischen Fortschritte langfristig auch in Deutschland zu einer Diskussion über die Legalisierung der aktiven Sterbehilfe führen werden.

  • [1] BT-Plenarprotokoll 18/66; BT-Drs. 18/4563; Bundesministerium für Gesundheit (2015) Verbesserung der Hospizund Palliativversorgung in Deutschland; Meldung vom 19.032015. bmg.bund.de/ministerium/meldungen/2015/hospiz-und-palliativversorgung-in- deutschland.html. Zugegriffen: 13. April 2015
 
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