Was ist Politische Bildung?
Was meinen wir eigentlich, wenn wir von „Politischer Bildung“ sprechen? Es liegt nahe, den Begriff in drei Schritten zu definieren. Was ist Politik? Was ist Bildung? Und was ist Politische Bildung? Solche Vorüberlegungen sind zunächst nichts anderes als Werkzeuge, die sicherstellen sollen, dass Autor und Leser dasselbe meinen, wenn sie sich auf ein bestimmtes Wort beziehen. Definitionen erheben also noch keinen Wahrheitsanspruch. Definitionen als Werkzeuge sollten möglichst handlich sein und möglichst allgemein gehalten werden, um nach und nach ausdifferenziert werden zu können. Deshalb wähle ich im Folgenden jeweils die weitere Definition.
Politik
Für die Definition von Politik ist ein weiter Politikbegriff als Ausgangspunkt besonders wichtig, weil er die mit diesem Gegenstand häufig einher gehenden Voreingenommenheiten zu umgehen hilft. Ein weiter Politikbegriff vermeidet vorschnelle Ausblendungen und hat den Vorteil, im Laufe der Darstellung schrittweise immer mehr Akzentuierungen und Differenzierungen zuzulassen. Der weite Politikbegriff schließt unmittelbar an die Geschichte des Wortes „Politik“ an [1]. Diese hat ihren Ursprung im antiken Griechenland, obwohl das, was das Wort bezeichnet, älteren Ursprungs ist. Die „Polis“ umfasste, so das Selbstverständnis, wie es von Aristoteles und anderen Philosophen übermittelt ist, die Gesamtheit der Bürger eines griechischen Stadtstaates. Dabei war nicht der gemeinsam bewohnte Raum des Stadtstaats, sondern die gemeinsame Lebensform entscheidend, die die freien Bürger aus eigenen Stücken wählten und gestalteten. Nicht mehr der Wille der Götter oder des Adels, sondern die Bürger selbst sollten über die Form ihres Lebens verfügen. Hierfür war als erstes eine Verfassung erforderlich, die der Überlieferung zufolge sogar den Göttern heilig gewesen sein soll. Die Qualität der Polis wurde im engen Zusammenhang mit der Qualität ihrer Bürger, also mit ihren Fähigkeiten und Tugenden gesehen. Die beste deutsche Übersetzung für polis ist vermutlich das Wort „Gemeinwesen“. Das Gemeinwesen grenzt das allen Gemeinsame vom jeweils Besonderen, das Öffentliche vom Privaten, die Gesellschaft von der Familie ab. Zum Bereich des Gemeinsamen gehörten die öffentliche Sicherheit, die technische Infrastruktur, der Austausch von Waren und Ideen und Vieles andere mehr.
Während in der Familie von Vornherein klar war, dass der Vater des Hauses auch der Herr des Hauses und somit der Inhaber der Macht über die Familie war, musste diese Machtfrage im äußeren Gemeinwesen immer erst geklärt werden. Dabei spielte das Recht eine wichtige Rolle. So kann Politik in diesem weiten Sinn auch als Verhältnis zwischen Macht und Recht definiert werden: In ihr wurde einerseits das Recht mit Macht ausgestattet, andererseits sorgten die Mächtigen dafür, dass ihre Macht als Recht anerkannt wurde. Hintergrund dieser weiten Fassung von Politik ist das Menschenbild der griechischen Antike, wie es Aristoteles einst formuliert hat: Der Mensch ist ein Zoon politikon (politisches bzw. gesellschaftliches Wesen), weil er in seinem Wesenskern auf andere Menschen angewiesen ist und sich nur im Zusammenleben mit ihnen entfalten kann. Damit ging die Vorstellung einer weitgehenden Identifizierung des Einzelnen mit den Institutionen der Polis einher. Zum Beispiel war die Teilnahme an der Volksversammlung für jeden Bürger verpflichtend [2]. Von bleibender Bedeutung für den Politikbegriff ist, dass Politik immer eine Vorrangstellung vor anderen Aspekten des Lebens beansprucht: der so genannte Primat der Politik. Politik ist nicht eine bestimmte Sphäre in der Gesellschaft, sondern eher ein Prinzip, das gelten kann oder auch nicht. Deshalb ist eigentlich der Ausdruck „das Politische“ treffender als „die Politik“ [3]. Politik ist also alles, was mit dem Politischen, also dem verbindlichen Allgemeinen bzw. dem allgemein Verbindlichen innerhalb eines Gemeinwesens zusammenhängt.
Mit dem Politikbegriff hängt der Begriff des Staates eng zusammen. Der Staat ist im Gegensatz zu allen anderen Bereichen des Gemeinwesens die einzig legitime Gewalt, die von Menschen über andere Menschen ausgeübt werden darf. Der Staat verfügt über das Gewaltmonopol. Bekanntlich ist es der Staat, der festlegt, wer eine Waffe tragen und wann er sie benutzen darf. Genauso definieren die Staaten die territorialen Grenzen des Gemeinwesens, die Zugehörigkeit der Bürger zum Gemeinwesen, die Gesetze und nicht zuletzt, welche Formen von Gewalt legal und legitim, also staatlich, welche Gewalt illegal und illegitim, also terroristisch sind.
Das Verhältnis von Politik und Staat kann mit dem Verhältnis zwischen Natur als Prozess und Natur als Gestalt verglichen werden [4]: Der Staat ist die fest gewordene Gestalt, die Politik der lebendige und offene Prozess, aus dem die Gestalt hervorgegangen ist und auf den sie wiederum zurückwirkt. Entsprechend wird zwischen Republik als Staatsform und Demokratie als Herrschaftsform unterschieden. Während uns der Staat als mehr oder minder fremde Macht gegenübertritt, sind wir in der Politik mittendrin – ob wir es uns bewusst machen oder nicht. Heute wird in diesem Zusammenhang oft von Zivilgesellschaft gesprochen. Es wird sich im Fortgang dieser Einführung zeigen, dass ein Teil der politischen Kontroversen vor allem der letzten beiden Jahrhunderte mit dieser Grenzziehung zwischen Staat und Politik zu tun hatte und nach wie vor hat (vgl. auch Kap. 6.2 und 6.5).
- [1] Z. B. Fistetti 1999 und Goldschmidt 1999
- [2] Dass ein starker Zusammenhalt in der Polis notwendig war, ergab sich allein schon aus der Interessenlage der Bürger: Nach innen war die Polis durch ein enormes Maß an sozialer Ungleichheit gekennzeichnet. Nur etwa 30 % der Männer waren Bürger, der Rest Ausländer oder Sklaven ohne alle politischen Rechte, sie hatten eher den Status von Haustieren oder Werkzeugen. Und dass Frauen keine Polis-Bürger sein konnten, verstand sich damals von selbst, sie waren für das Innere des Hauses zuständig. Die Bürger hatten ein starkes Interesse daran, diese Verhältnisse aufrecht zu erhalten. Und auch nach außen sah sich die Polis von „Barbaren“ umgeben, die nicht weniger in Schach gehalten werden und möglichst den eigenen Interessen dienstbar gemacht werden sollten. So waren die Bürger der Stadtstaaten durch ein doppeltes Herrschaftsinteresse aneinander gebunden
- [3] In der Politikwissenschaft werden in der Regel drei Dimensionen des Politischen unterschieden: die Ordnung (polity), der Prozess (politics) und der Inhalt (policy)
- [4] Vgl. Abensour 2012 in Verbindung mit Münkler 2012