Die Würde des Menschen

Wenn im neuzeitlichen Liberalismus nicht mehr das gute Leben der Bürger Ziel des Gemeinwesens ist, was ist es dann? Als Erstes könnte man sagen, es gehe dann eben um gute Regeln. Aber wann sind Regeln gut? Eine der Antworten, die weltweit in den vergangenen Jahrhunderten vermutlich die meisten Anhänger gefunden hat, zielt auf die Idee der Menschenwürde. Sie gilt als Inbegriff der Ethik des modernen Gemeinwesens. Das Wort „Würde“ kommt von Wert und bezeichnet die Vorstellung, dass der Träger der Würde von sich aus Achtung verdient. Der Mensch hat, das ist die Botschaft der europäischen Aufklärung, einen Wert an sich, ohne dass er irgendwelche weiteren Bedingungen erfüllen müsste. Solche Bedingungen wie das Geschlecht, die Herkunft, das Alter oder das Vermögen wurden in der Geschichte immer wieder aufgestellt, wenn es um die Verteilung und Rechtfertigung von Rechten und Pflichten ging. Genau das wird mit dem Begriff der Menschenwürde nun explizit zurückgewiesen. Als Mensch geboren zu sein reicht allein aus, den Anspruch des Menschseins im vollen Umfang erheben zu können.

Fragt man genauer nach, was mit dieser Selbstwerthaftigkeit des Menschen gemeint ist, so können zwei Bedeutungen unterschieden werden [1]. Einmal bezeichnet die Menschenwürde in deskriptiver Hinsicht den angeborenen und unveräußerlichen Wesenskern des Menschen, eine Vorgabe also für das menschliche Leben. Zum andern bezeichnet der Begriff in präskriptiver Hinsicht auch einen Gestaltungsauftrag, eine Aufgabe des Menschen. Verbunden sind beide Bedeutungen durch die Überzeugung, dass der Mensch im Vergleich zu anderen Lebewesen wie Pflanzen und Tieren ein ganz besonderes Wesen ist und seine – entweder von Gott oder der Evolution verliehenen – Fähigkeiten auch entfalten können soll.

Für Aristoteles (384–322 v. Chr.) hatte noch gegolten, dass allein der freie Athener Bürger dazu taugte, für sich selbst zu leben. Alle anderen Lebewesen sollten ihm dabei zu Diensten sein. Sie sollten zwar pfleglich behandelt werden und vor allem die Frauen hatten ein Anrecht auf den Schutz der Männer, aber eben kein Recht, sich selbst zu bestimmen. Nun, zweieinhalb Jahrtausende nach Aristoteles, sollte diese Fähigkeit der Selbstbestimmung (Autonomie) nach Auffassung vieler Denker grundsätzlich erstens im Prinzip allen Angehörigkeiten des Gemeinwesens zukommen und zweitens damit auch Verpflichtung sein. Allerdings: In der Realität und auch in vielen Theorien seit der frühen Neuzeit wurde der Status des Menschen keineswegs allen Mitgliedern des Gemeinwesens und erst recht nicht den außerhalb des Gemeinwesens lebenden Menschen zugestanden. Knechte und Mägde und all die Arbeitstiere, die in aller Welt etwa die Rohstoffe aus dem Boden holen, auf denen die Industriekultur aufgebaut war, waren faktisch und teils auch durch Theorien legitimiert mehr oder minder explizit aus dem Kreis der Träger von Menschenwürde ausgeschlossen – und sind dies oft bis zum heutigen Tag [2].

  • [1] Z. B. Wetz 2011, S. 15 f.
  • [2] Z. B. Losurdo 2010
 
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