Von der Erfahrung zum Verstehen
Diese dialogische Grundsituation ist nur eine notwendige, keineswegs die hinreichende Bedingung für einen subjektorientierten Bildungsprozess. In Bildungsprozessen geht es nämlich primär um die Begegnung des Menschen mit den Gegenständen und Sachverhalten der Welt. Deshalb fragt sich, was in einem subjektorientierten Bildungsprozess in Bezug auf die Gegenstände der Welt im Einzelnen geschieht. Wie kommt es von der Erfahrung der Welt, die ganz wesentlich über Sozialisation und Erziehung vermittelt ist, zur eigentlichen Bildung? Genauer: Wie wird Verstehen möglich? Der Physikdidaktiker Martin Wagenschein (1896–1988) hat aus der Eigenart von naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozessen drei didaktische Grundsätze abgeleitet, die auch auf andere Bereiche übertragen werden und den Stellenwert der Erfahrung und die Eigenart des Verstehens präzisieren können. Erstens das exemplarische Prinzip, das darin besteht, dass aus der unendlichen Fülle der Gegebenheiten einige wenige typische Phänomene als Beispiele herausgegriffen werden, und zwar solche, die uns interessieren, weil sie uns irritieren. Zweitens das sokratische Prinzip, nämlich das systematische Fragen nach möglichen Erklärungen für diese Phänomene und der Diskurs über die Antworten, die dabei zur Sprache kommen. Und drittens schließlich das genetische Prinzip: der subjektive Nachvollzug des Prozesses, durch den unser Wissen über die Welt erst zustande gekommen ist. Dieses genetische Prinzip ist Wagenschein zufolge für die Bildung des Menschen und damit die Pädagogik von zentraler Bedeutung, weil es die Pädagogik mit dem „Werden des Menschen“ zu tun hat und sich deshalb mit dem „Werden des Wissens“ in ihm ganz besonders auseinandersetzen muss[1].
Im starken Kontrast zum genetischen Prinzip stehen jene Tendenzen, die diesen Weg abkürzen und einfach Wissen „vermitteln“ wollen[2]. Dies ist der Weg, der in der so genannten Wissensgesellschaft immer konsequenter beschritten wird. An die Stelle des Verstehens von Prozessen tritt das Lernen von Ergebnissen, an die Stelle des Nachvollzugs von Taten die Speicherung von Tatsachen. Dies hat gravierende Konsequenzen für das Subjekt, das sich die Welt erschließen will: Die Auswahl der Phänomene, die Sprache, in der sie beschrieben werden, die Methoden, mit denen sie dokumentiert werden, die Thesen, Theorien und Modelle, die zu ihrem Verständnis herangezogen werden, der Streit um die Qualität dieser Erklärungsversuche, die Interessen, die hinter all dem womöglich stehen, und vieles andere mehr wird dem Bildungssubjekt vorenthalten. So muss sich das Subjekt regelrecht dem fremd definierten Wissen unterwerfen. Statt sich der Welt gegenüber zu öffnen und diese sich aktiv anzueignen, wird das Subjekt aufgebrochen und überrumpelt. Es wird zum Objekt gemacht und kann sich dagegen nicht wehren. Der Schüler lernt die Gesetze der Optik, anstatt sich mit den Phänomenen des Lichts auseinanderzusetzen, sagt Wagenschein. Eine Schule, die aus Zeitnot Bildung als Faktenlernen organisiert, erzieht „Schienenfahrer“ statt „Schienenleger[3]“. Wagenschein plädiert stattdessen für das „Verstehen“ als „Menschenrecht[4]“.
- [1] Wagenschein 1968, zitiert nach Euler 2010, S. 134
- [2] Z. B. Euler 2010. Siehe auch die Vorarbeiten von Horst Rumpf, Andreas Gruschka und Gernot Koneffke. Ähnlich auch das Konzept des Verständnisintensiven Lernens von Peter Fauser. Hierzu auch: Reheis 2007
- [3] Euler 2010, S. 135
- [4] Euler 2010, S. 136