Gesellschaft und Ungleichheit

Die Beschäftigung mit dem Thema „Gesellschaft und Ungleichheit“ führt erfahrungsgemäß schnell zu emotionalen Reaktionen. Das Thema rüttelt an tief sitzenden Überzeugungen, es mobilisiert Hoffnungen und Ängste, es zwingt zur Ideologiekritik. Wer sich an politische Bildungsprojekte in diesem thematischen Umfeld heranwagt, muss mit den je individuellen Voraussetzungen seiner Adressaten (vgl. Kap. 4.2) achtsam umgehen. Am wichtigsten dürfte die Sorge für eine Gesprächsatmosphäre sein, die es ermöglicht, die Ebene der persönlichen Betroffenheiten zwar ernst zu nehmen, diese Ebene aber in Richtung auf einen sachlichen Diskurs zielstrebig zu übersteigen.

Begriffliche Grundlagen

Das Wort „Gesellschaft“ kommt aus dem Althochdeutschen und bezeichnet ursprünglich die Hausgenossenschaft. Unter Gesellschaft versteht man heute allgemein das Zusammenleben von Menschen in einem bestimmten Umfeld. Oft wird Gesellschaft abgegrenzt von Gemeinschaft, die durch das Gefühl der engen Zusammengehörigkeit gekennzeichnet ist. Gesellschaft bedeutet in der Soziologie zunächst nur die rein faktische Verbindung der Individuen miteinander, ohne dass über ihre Gefühle etwas ausgesagt wird. Insofern kann Gesellschaft auch als Synonym für Gemeinwesen verstanden werden. Alle weiteren Bestimmungen des Gesellschaftsbegriffs hängen bereits von der Perspektive ab, aus der man die Gesellschaft und die Beziehungen zwischen ihren Mitgliedern beschreibt und erklärt. Diese Perspektiven können z. B. mehr die geistigen, die rechtlich-politischen oder die wirtschaftlichen Beziehungen ins Zentrum stellen. Die Kritische Theorie geht im Anschluss an Marx und andere davon aus, dass der Mensch als Gattungswesen nur existieren kann, wenn er durch Arbeit einen beständigen Stoffwechsel mit den natürlichen Lebensgrundlagen herstellt. Deshalb hat Marx die Natur auch als den „unorganischen Leib“ des Menschen bezeichnet [1]. Dieses das Leben erst ermöglichende Verhältnis zur Natur ist auch die Basis für die Interaktionen zwischen den Menschen. Diese Interaktionen nehmen mit der Spezialisierung und dem Grad der Arbeitsteilung zu und werden komplexer. Auch die moderne Gesellschaft mit ihren ausdifferenzierten Bereichen (Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Kunst usw.) basiert auf dieser Grundlage. Es ist neben den natürlichen Lebensbedingungen und dem Stand der Technik vor allem die Form, in der die Mitglieder einer Gesellschaft die Arbeitsteilung organisieren, die der Gesellschaft ihren Stempel aufdrückt.

Wenn in Bezug auf Gesellschaft von „Ungleichheit“ die Rede ist, ist immer die soziale Ungleichheit gemeint [2]. Sie wird von der natürlichen bzw. biologischen Ungleichheit abgegrenzt. Soziale Ungleichheit besteht, wenn Individuen unterschiedliche Möglichkeiten der Verfügung über erstrebenswerte Güter haben. Zu diesen Gütern können Grund und Boden, Produktionsmittel und Geld, Macht und Beziehungen, Bildung und Wissen etc. gehören. Soziale Ungleichheit kann eine vertikale und eine horizontale Dimension annehmen. Vertikale Ungleichheit bedeutet, dass der Grad der Verfügung der Mitglieder einer Gesellschaft über diese erstrebenswerten Mittel von unten nach oben zunimmt: Je weiter oben ein Mitglied in der gesellschaftlichen Hierarchie angesiedelt ist, über desto mehr erstrebenswerte Güter verfügt es. Die Einordnung eines Individuums in die vertikale Ungleichheitsstruktur wird auch Status genannt. Horizontale Ungleichheit, die oft auch als Disparität der Lebensbereiche bezeichnet wird, bedeutet, dass die erstrebenswerten Güter je nach Lebensbereich in unterschiedlichem Ausmaß zur Verfügung stehen, und zwar prinzipiell unabhängig vom Status des Menschen. Zum Beispiel sind in der Arbeitswelt die Einkommen und Arbeitsbedingungen im High-Tech-Bereich (Autoindustrie, Finanzwirtschaft, Internetkonzerne) meist sehr viel großzügiger bemessen als im sozialen Bereich (Kinderbetreuung, Altenpflege, Gastronomie).

Ein letzter Begriff betrifft die Veränderung der Ausstattung mit erstrebenswerten Gütern: die soziale Mobilität. Diese kann wiederum auf beide Dimensionen der Sozialen Ungleichheit bezogen werden. In vormodernen Gesellschaften war die Stellung einer Person im vertikalen Gefüge, also ihr Status, weitgehend angeboren. Moderne Gesellschaften hingegen erheben den Anspruch, dass der individuelle Status erworben wird. Das heißt, in ihnen sind soziale Aufund Abstiege möglich. Und während in vormodernen Gesellschaften auch die Ausstattung der Lebensbereiche als durch die Tradition vorgegeben galt, verstehen sich moderne Gesellschaften als solche, in denen an die Stelle gegebener Traditionen vernünftige Entscheidungen treten, die über marktwirtschaftliche und demokratische Verfahren umgesetzt werden.

  • [1] Marx 1844, S. 516
  • [2] Z. B. Burzan 2008
 
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