Wissensschemata und TOPs im Verstehensprozess
Die Erklärung für die kognitiv-emotionale Funktion von ‚Thema' und ‚thematischer Bedeutung' als Bedingung und Ergebnis des Verstehensprozesses eines Textes der Literatur kann an einer eingehenden Beschäftigung mit den Begriffen ‚Verstehen', ‚Verstehensprozess' und ‚Hintergrundwissen' in den klassischen Kognitionswissenschaften nicht vorbeikommen. Maßgebend ist die traditionelle Schematheorie. Diese ermöglicht repräsentationalistische Erklärungen und wird in der Fachliteratur verwendet, um den Mechanismus und die Funktion des Assoziationsvermögens des Lesers bei der Textverarbeitung kognitiv zu erklären, obwohl in der Forschung sowohl die Auffassung von vorgefertigter Wissensrepräsentation als auch die Tatsache an der Schematheorie kritisiert werden, dass sie den Prozess der Integration von neuem Wissen und dessen kontextübergreifende Verwendung nicht in Betracht zieht.146
Im Rahmen der kognitiv orientierten Literaturwissenschaft bespricht Semino (1997) die Funktion des Hintergrundwissens des Lesers beim Verstehen der Textwelt eines literarischen Textes.147 In Anlehnung an die Schematheorie kognitionspsychologischer Prägung stellt Semino Folgendes fest:
„(…) text worlds are cognitive constructs that arise in the interaction between readers and the language of the texts. (…) The sum of the reader's existing schemata makes up a skeleton of that person's model of reality (…) which serves as a frame of reference in the construction and evaluation of text worlds. The way in which a particular reader will perceive a particular text world will depend on how his or her various instantiated schemata interact with one another in comprehension, and on whether the reader's current model of the world is reinforced or challenged in the process.” (Semino 1997, S. 161).148
Semino (1997) konzentriert sich auf die kognitive Organisation des Hintergrundwissens des Lesers. Dieses trägt zur Konstituierung einer bestimmten Textwelt bei.149 Angesichts dieser Rolle des Hintergrundwissens erweist sich der Verstehensprozess als ein konstruktiver Prozess, der nicht darauf reduziert wird, die Bedeutung der sprachlichen Ausdrücke zu identifizieren. Verstehen und Bedeutungszuweisung sind Prozesse der Suche nach Ähnlichkeiten zu den eigenen Erfahrungen.150
Semino (1997) geht davon aus, dass ‚Kognition' Informationsverarbeitung ermöglicht. Die Informationsverarbeitung sprachlichen Materials ist ein konstruktiver Akt der Sinngebung und Bedeutungskonstruktion, bei dem der Leser aktiv auf der Grundlage seines Vorund Weltwissens neue Informationen in seine Wissensstruktur einfügt.151 Entscheidend für die Untersuchung von Thema nach der Schematheorie ist natürlich der Begriff ‚Schema'.152 Dieser ist ein allgemeiner Begriff, der der Kognitionspsychologie und der Computerwissenschaft entstammt. Nach der Schematheorie und daher einer starken Auffassung von Schema zufolge bezieht sich ‚Schema' auf eine Wissensrepräsentation in Form von einer Gattungsbegriffe oder Erlebnisgehalte speichernden Datenstruktur. Ein Schema stellt ein Segment von Hintergrundwissen über ein Objekt, eine Person, eine Situation oder ein Ereignis dar.153 Jedes Schema enthält allgemeine Informationen über die konstituierenden Elemente einer bestimmten Wissensdomäne und über die Relationen zwischen diesen Elementen. Das Schema WÄSCHE WASCHEN, zum Beispiel, enthält Informationen über Mittel zum Waschen (Waschmittel, Waschmaschine, Trockner), über die Art und Weise, wie man sie benutzt (z. B., wo das Waschmittel hinkommt), und über die Reihenfolge der nötigen Handlungen, die man vollziehen muss, um das Waschen als Handlung durchzuführen.154 Der Begriff ‚Schema' wird oft in derselben Bedeutung wie
‚Script' verwendet. Der Begriff ‚Script' wurde 1977 von Schank und Abelson eingeführt. Die Autoren benutzen ‚Script' in Bezug auf die Organisation von Hintergrundwissen. Ein Script besteht aus dem Pattern für prototypische Situationen, die man im Gedächtnis gespeichert hat.155 Ein typisches Beispiel für ‚Script' in der Fachliteratur über die Schematheorie ist RESTAURANT. RESTAURANT enthält und transportiert eine prototypische Sequenz von Szenen, wo ein Kunde ein Lokal betritt, in dem man bei einem Kellner Essen bestellen kann. Der Kellner bringt dem Kunden das Essen an den Tisch. Der Kunde bezahlt nach dem Essen.156 Die Aktivierung solcher Scripts schützt uns vor falschen Erwartungen. Man würde, zum Beispiel, niemals ein Restaurant betreten und ein Buch bestellen. Nach den kognitivistischen Ansätzen sind sowohl ‚Script' als auch ‚Schema' kulturell bedingt. Sie leiten unsere Erkundung der Welt und helfen uns, unsere Aufmerksamkeit auf das zu lenken, woran wir gewöhnt sind. Schemata übernehmen die kulturelle Rolle, die Interaktion mit unseren Mitmenschen in einem geteilten sozialen Raum zu gewährleisten.157 Die Ähnlichkeit der Begriffe ‚Schema' und ‚Script' miteinander und zueinander wirft die Frage auf, ob es sinnvoll ist, sie auseinanderzuhalten. Hogan (2003a) vertritt die Ansicht, dass ‚Schema' und ‚Script' nicht abwechselnd benutzt werden dürfen. Die klassischen Kognitionswissenschaftler benutzen Schema, um prototypisches Wissen über Objekte und Personen festzuhalten, während ‚Script' benutzt wird, um sich auf gespeichertes Hintergrundwissen über prototypische Situationen zu beziehen, so Hogan.158 Trotz der Unterschiede werden ‚Schema' und ‚Script' immer öfter als Synonyme verwendet.159 Semino (1997), zum Beispiel, verwendet ‚Schema' in der doppelten Bedeutung von ‚Schema' und ‚Script'. Da der Begriff ‚Schema' sowohl in Bezug auf gespeichertes Wissen über Begriffe und ihre Verbindungen miteinander als auch in Bezug auf gespeichertes Wissen über Situationen verwendet wird, kann er flexibler eingesetzt werden. Für die kognitiv orientierte Literaturwissenschaft ist aus meiner Sicht der Unterschied zwischen ‚Script' und ‚Schema' nicht von Belang. Der Grundgedanke der Begriffe ‚Schema' und ‚Script', der für die kognitiv orientierte Literaturwissenschaft ausschlaggebend ist, ist die Erkenntnis, dass Erfahrungen in Form von Wissensstrukturen erfasst, im Gedächtnis gespeichert und nach Merkmalen selektiert werden, die die Aktivierung und Vergegenwärtigung früher wahrgenommener Erfahrungsinhalte ermöglichen.160 In Anlehnung an Semino (1997) nenne ich in diesem Kapitel solche Strukturen ‚Schemata'.
Wie hängen Schemata und Verstehen eines Textes und eines Textes der Literatur zusammen? Die Elemente, die das Wissen des Lesers ausmachen, sind in Form von Schemata gespeicherte Begriffe, die funktionell miteinander verflochten werden oder sind. Sie bilden ein Netzwerk. Aus diesem Grund interagieren sie in den kognitiven Prozessen des Lesers miteinander.161 Ein Text aktiviert bereits vorhandene Schemata, die ihrerseits wieder Hypothesen und Erwartungen hinsichtlich der neuen Informationen generieren.162 Neuen Erfahrungen wird nur dann Sinn verliehen, wenn wir sie mit im Gedächtnis gespeicherten Repräsentationen von ähnlichen Situationen, Ereignissen, Entitäten und Begriffen in Verbindung bringen können.163 Seminos Verweis auf die Aktivierung von Wissensschemata bei der Suche nach Analogien zu den eigenen Wissensgehalten zum Zweck des Verstehens bei der Interaktion mit einem literarischen Text erweist sich als vorteilhaft. Der auf dem Wissen über die reale Welt basierende Assoziationsprozess des Lesers kann kognitiv auf die Aktivierung von Schemas als Hintergrundwissen zurückgeführt werden. Man kann somit anhand eines kognitiven Modells der mentalen Vorgänge des Lesers die Frage über den auf Wissenskategorien basierenden Abstraktionsprozess des Themas beantworten, die Brinkers Beitrag nicht beantworten konnte.164 Auf die verschiedenen Auffassungen von Schematheorie, die in der Forschung entwickelt wurden, soll hier nicht eingegangen werden.165 In diesem Kapitel werde ich mich allein auf einige Elemente der Schematheorie von Schank (1982) beziehen, denn sie bieten Mittel zur kognitiven Annäherung an das Thema als einen durch den Text aktivierten Wissensgehalt des Lesers. Im Folgenden soll zuerst der Mechanismus des Verstehens schematheoretischer Prägung erhellt werden, um dann den assoziativen Prozess mit dem Begriff ‚Thema' als Wissensstruktur des Lesers zu verknüpfen.
Die Fähigkeit eines Textes, den Leser an den früher unmittelbar wahrgenommenen Erfahrungsinhalt zu erinnern, ist nach Schank (1982) Bedingung für das Verstehen. Nach Schank & Abelson (in Wyer (ed.) 1995) kann man die Bestandteile der Funktionsweise des menschlichen kognitiven Verstehensprozesses folgendermaßen zusammenfassen:
„Virtually all human knowledge is based on stories constructed around past experiences;
new experiences are interpreted in terms of old stories;
the content of stories memory depends on whether and how they are told to others, and these reconstituted memories form the basis of the individual's “remembered self.” (Schank & Abelson in Wyer (ed.) 1995, S. 1) 166
Angesichts dieser Auffassung von ‚Verstehensprozess' hängt der Verstehensprozess von dem regelmäßigen Auftreten von Elementen ab, die einen Erinnerungsprozess auslösen, denn wir können neuen Erfahrungen nur dann Bedeutung verleihen bzw. beimessen, wenn wir ihre Ähnlichkeit zu bekannten bzw. alten Repräsentationen in unserem Gedächtnis feststellen können.167 Verstehen ist durch analogisches Denken bestimmt und gerade deswegen ist es ein Prozess der individuellen Rekonstruktion eines erinnerten Selbst durch die Aktivierung von vergangenen im Gedächtnis gespeicherten Erfahrungsgehalten. Während wir einen neuen Erfahrungsgehalt verarbeiten, lässt sich nicht umgehen, ihn mit Erinnerungen an alte erlebte Erfahrungen in Verbindung zu bringen,168 denn wir erkennen nach Schank & Abelson (in Wyer (ed.) 1995) selektiv und selbstbezogen.169 Dies bedeutet nicht, dass Schemata allein individuelle subjektive Erfahrungsgehalte vermitteln. Sie transportieren auch kulturelle Patterns von Erfahrungen, die man in der eigenen Sozialisationsgeschichte gemacht hat und die man mit anderen teilt, die eine ähnliche Sozialisationsgeschichte haben.170 Die kognitive Anthropologie macht diesbezüglich einen Unterschied zwischen auf Schemata basierter kultureller Bedeutung und einfacher Bedeutung. Die erstere bringt die Gemeinsamkeiten von erworbenem Wissen zum Ausdruck, die die Mitglieder einer Kulturgemeinschaft miteinander teilen, während die letztere die individuelle Interpretation von Objekten und Situationen darstellt, die als Basis aber die gemeinsamen Schemata haben.171 Auf die Leser eines literarischen Textes übertragen, bedeutet dies, dass im literarischen Text Informationen enthalten sein müssen, die den Leser an alte in Form von Schemata im Gedächtnis gespeicherte Erfahrungen über die reale Welt erinnern. Dies ist nötig, um den Verstehensprozess durch die Bildung von Analogien zu den eigenen erlebten und im Gedächtnis gespeicherten Erfahrungen überhaupt zu ermöglichen.172 Dieser Auffassung zufolge rückt die Interaktion des Hintergrundwissens des Lesers mit dem Textinhalt in den Mittelpunkt. Was kennzeichnet den Prozess der Analogiebildung und der Aktivierung von erworbenen Erfahrungen? Wie Holyoak (1982) deutlich macht, bedeutet analogisches Denken interkategoriales Denken. Informationen werden nach ihrem Ähnlichkeitsgrad von einer erlebten Situation in eine andere projiziert. Dieses kognitive Verfahren ist auch als ‚analogisches Mapping'173 bekannt. Im Romananfang Das Parfum von Süskind, zum Beispiel, lassen sich bestimmte Informationen erkennen, die Erinnerungen und erlebte Erfahrungsinhalte eines realen Lesers aktivieren können, während andere zwar an das historische Wissen des Lesers appellieren, aber diesen nicht an seine eigenen das Selbst betreffenden Erfahrungen erinnern können.174 Sie können Wissensgehalte enthaltende bereits gespeicherte Erfahrungen eines Lesers nicht erwecken. Im Folgenden werde ich einige Beispiele aus dem Anfang des erwähnten Romans angeben. Erworbene verschiedenartige Erfahrungsgehalte, die auf die Sozialisationsgeschichte eines Lesers zurückzuführen sind, kann im Roman der Verweis auf Selbstüberhebung, Menschenverachtung, Immoralität, Gottlosigkeit, Genie, Ehrgeiz oder noch auf den Begriff ‚Gerüche' aktivieren, während der Verweis auf die abscheulichen Gestalten des 18. Jahrhunderts zwar gespeichertem Wissensgehalt, aber keiner gespeicherten unmittelbar erlebten Erfahrung eines Lesers mit einer dieser Gestalten entsprechen kann, es sei denn, man hat im 18. Jahrhundert gelebt und diese Gestalten selber erlebt.175 Das selektive Erkennen ist aber von gespeicherten Erfahrungsgehalten bestimmt. Dies bedeutet, dass im Vergleich zu historischen Informationen die erwähnten Begriffe für das thematische Verstehen der Textpassage und für die Bildung von Analogien zu den eigenen Erfahrungen ausschlaggebender sind als das historische Wissen, das die Textpassage ebenfalls transportiert. Die hermeneutische Differenz bestimmt in diesem Fall den Kontext der historischen Perspektive.
In seiner Arbeit Dynamic Memory bringt Schank (1982) Analogiebildung mit thematischen Wissensstrukturen in Verbindung. Er unterscheidet zwischen ‚Thema' und TOPs (Thematic Organization Points). Ich werde im Folgenden beide Begriffe erläutern und fange bei ‚Thema' an.
Das Thema hält im Allgemeinen das Hintergrundwissen über die Gründe der Ziele eines Aktanten fest. Diesbezüglich gibt Semino (1997) das folgende Beispiel an: Wenn man weiß, dass jemand Aktivist eines Tierschutzvereins ist, wird man die Nachricht, dass er oder sie vor einem Gebäude demonstriert, als zur Normalität gehörend empfinden. Sollten wir aber einen Fleischesser in derselben Situation erleben, so könnten wir uns seine Gründe nicht gleich erklären.176 Schank (1982) unterscheidet drei Sorten von Thema voneinander: role theme, interpersonal theme und life theme. Die erste Sorte von Themen liefert Informationen über die Ziele, die mit gesellschaftlichen Rollen zusammenhängen, wie ‚Anwalt sein'. Die zweite Sorte von Themen enthält Informationen über die Konsequenzen sozialer und emotionaler Beziehungen, wie das ‚EhemannEhefrau' Verhältnis, oder auch das ‚Arbeitgeber-Arbeitnehmer' Verhältnis. Die letzte Sorte von Themen hängt damit zusammen, wonach man im Leben strebt und bezieht sich auf vagere Sachverhalte. Als Beispiel dafür gelten Schemata wie ‚Ehrlichkeit' als individueller Charakterzug und ‚Kommunist' als politische Einstellung.177 Schank (1982) und Schank
& Abelson (1977) zufolge werden Schemata nach dem Grad ihrer allgemeinen Anwendbarkeit als Themen aufgefasst. Themen sind aufgrund ihres hohen Grades an Allgemeinheit in verschiedenen Situationen anwendbar.178 In Bezug auf einen literarischen Text gibt Semino ein Beispiel aus der fiktionalen Literatur an. Sie bezieht sich auf das Gedicht Meeting at Night von Robert Browning. Semino zufolge kann das im Gedicht beschriebene Verhalten des Erzählers nur vor dem Hintergrund des Themas ‚Liebhaber' erfasst werden, das das Ziel evoziert, mit der geliebten Person zusammen zu sein.179 Angesichts Seminos Beobachtung kann man hier die Bemerkung einwerfen, dass die Wissensstruktur /St. Petersburg/, zum Beispiel, nicht der Kategorie ‚Thema' zugeordnet werden kann, obwohl Brinker (1995) sie in seinem Beitrag als Thema einstuft.
Den oben erwähnten Studien kann man aus meiner Sicht entnehmen, dass im Allgemeinen Begriffe, die zwar auf eine Referenz verweisen, aber keinen Abstraktheitsgrad aufweisen und durch ihre entsprechende Datenstruktur keinen Grund über die Ziele eines Aktanten vermitteln, keine thematische Validität haben. /St. Petersburg/, zum Beispiel, stellt zwar eine Referenz dar, aber es transportiert keine Erfahrung. Es kann wiederum einen gespeicherten Wissensgehalt im Prozess des Verstehens aktivieren. Es kann, zum Beispiel, das Schema /Großstadt/ oder auch das Thema Liebe aktivieren und aufgrund einer im Zusammenhang mit St. Petersburg erlebten Erfahrung die Wissensstruktur von Liebe hervorrufen. Hier möchte ich die Bemerkung einwerfen, dass der semantische Abstraktheitsgrad Bedingung für die thematische Relevanz einer Wissensstruktur zu sein scheint.
In seinem Werk Dynamic Memory unterscheidet Schank (1982) Themen von TOPs. TOPs – thematische Organisationsstrukturen – sind Erfahrungsgehalte enthaltende Wissensstrukturen, in denen die Gemeinsamkeiten von den Erfahrungen eines Subjekts gespeichert werden. Ihr Inhalt ist durch persönliche, kulturell bedingte und individuelle Erfahrungen bestimmt. TOPs sind deswegen idiosynkratisch.180 Sie bestimmen die Organisation der Gemeinsamkeiten von Erfahrungen im Gedächtnis. An dieser Stelle möchte ich Schank (1982) das Wort geben:
„TOPs are convenient collections of memories involving goals and plans written in terms of sufficiently abstract vocabulary to be useful across domains. For any reminding experience that crosses contexts, we can expect that the two experiences share a goal type, some planning or other conditions, and one or more low level identification features.” (Schank 1982, S. 113)
TOPs als thematische Wissensstrukturen sind durch ein gemeinsames die Gründe der Ziele eines Aktanten lieferndes Pattern, ein goal and plan pattern, gekennzeichnet.181 Um dies zu veranschaulichen, geben Seifert u. a. (1986) das Thema ‚Rache' als Beispiel an. ‚Rache' als Thema bzw. thematische Information kann in vielfältigen Kontexten aktiviert und benutzt werden. Sie kann, zum Beispiel, sowohl in einem Kontext vorkommen, in dem über eine Terroristengruppe berichtet wird, als auch in einer Erzählung über ein verärgertes Kind auftreten. Wie Seifert u. a. (1986) beobachten, weist ein Text, in dem über eine Terroristengruppe berichtet wird, die sich mit einem Bombenanschlag an einer Regierung rächen will, einen anderen Kontext auf, als ein Text, in dem über ein verärgertes Kind erzählt wird, das aus Rache Lügengeschichten über seine Geschwister verbreitet.182 Trotz der unterschiedlichen Anwendungskontexte weist das Thema ‚Rache' in beiden Beispielen dasselbe Pattern auf, das folgendermaßen wiedergegeben werden kann: Der Aktant ist beleidigt bzw. ist verletzt worden und sinnt auf Vergeltung.183 Nach Schanks Schematheorie ist Aufgabe der TOPs, diese Gemeinsamkeit festzuhalten. TOPs sollen Themen als abstrakte Wissensstrukturen kontextübergreifend machen.184
Aufgrund der kognitiven Fähigkeit, Gemeinsamkeiten in Form von TOPs zu speichern und sie wiederzuerkennen, kann, zum Beispiel, die Fabel von West Side Story an Romeo und Julia oder auch an eine beliebige erlebte unglückliche Liebe, das Thema eben, erinnern.185
Man kann im Allgemeinen feststellen, dass TOPs die Gemeinsamkeiten der Erfahrungen des Lesers in der realen Welt festhalten. Im Falle der Interaktion mit fiktionalen Texten schlagen sie im Prozess des Verstehens eine Brücke zu der nicht-fiktionalen Welt.186 Ein treffendes Beispiel für diese kognitive Funktion von TOPs gibt Semino (1997) an. Sie zieht die äsopische Fabel A Lesson for Fools in Betracht. Ich werde sie im Folgenden nach Semino (1997) in englischer Sprache wiedergeben:
A LESSON FOR FOOLS187
A crow sat in a tree holding in his beak a piece of meat that he had stolen. A fox which saw him determined to get the meat. It stood under the tree and began to tell the crow what a beautiful big bird he was. He ought to be king of all birds, the fox said; if only he had a voice as well. The crow was so anxious to prove that he had a voice that he dropped the meat and croaked for all he was worth. Up ran the fox, snapped up the meat, and said to him: 'If you added brains to all your other qualifications, you would make an ideal king'.
Die Welt, die dieser Text in die reale Welt des Lesers projiziert, transportiert eine Moral, die auf die reale Welt des Lesers übertragen werden kann. Dass Eitelkeit unangenehme Konsequenzen haben kann und nicht von Vorteil ist, ist eben die entsprechende Moral. Der Titel des Textes weist darauf hin, dass der Text eine allgemeine Botschaft vermittelt, die weit über die Geschichte selber hinausgeht. Die allgemeine Relevanz einer Geschichte in einer bestimmten erlebten Situation in der realen Welt können TOPs erklären. Anhand des aus der Computerwissenschaft stammenden Begriffes von TOP kann man erklären, wie der menschliche Geist erlebte Gemeinsamkeiten im Gedächtnis organisiert und wie dadurch die auf erlebten Gemeinsamkeiten basierenden Erfahrungsgehalte, die zu Wissensgehalten werden, strukturiert werden können. Auf die Moral der äsopischen Fabel übertragen, bedeutet dies, dass sie (die Moral) in jeder Situation der realen Welt vorkommen kann und dass sie in jeder Situation die folgende Struktur (TOP-Struktur) aufweist: „a. A person A wants an object X; b. Another person B has a possession of X; c. A flatters B; d. A is cunning, B is naive.“188 Ein TOP kann den Grund erklären, warum die Identifikation des Themas, von dem, zum Beispiel, Brinker spricht, durch analogisches Denken in der Interaktion mit einem Text bzw. mit einem Text der fiktionalen Literatur anhand der subjektiven Erfahrungen des Lesers erfolgen kann. Für die Bestimmung von ‚Thema eines Textes der fiktionalen Literatur' kann der Begriff ‚TOP' zweierlei Vorteile bieten. Einerseits hält er die Gemeinsamkeiten von Wissensschemata fest, die aufgrund ihres Abstraktheitsgrades flexibel in jeder Domäne verwendet werden können. Dies bindet den überlieferungsfähigen Charakter von Themen der Literatur an die kognitive Fähigkeit des Lesers, Begriffe mit hohem Abstraktheitsgrad aufgrund deren gemeinsamer Patterns domänenübergreifend zu verwenden. Andererseits bieten TOPs eine passende Erklärung für den Prozess der Assoziationsgedankengänge im Gedächtnis des Lesers bei der Interaktion mit einem Text.
TOPs werden durch die Herstellung von Analogien aktiviert. Dies kann eine der wichtigsten kognitiven Funktionen von Literatur erklären, die Seifert (1990) in ihrer zugegebenermaßen für Literaturwissenschaftler allzu simplen Auffassung von ‚Literatur' folgendermaßen zusammenfasst: „Good literature may be noted for its ability to remind readers of previous situations they have experienced, not based simply on content similarity but on more abstract commonalities inferred from such descriptions “(Seifert 1990, S. 117).189 Vor diesem Hintergrund scheint die Verwendung der traditionellen Bezeichnung ‚Motiv' in einer kognitiven Annäherung an Themen überflüssig. Für die Auseinandersetzung mit der Interaktion des Lesers und seiner Hintergrunderfahrungen mit dem Text und dessen Inhalt im Verstehensprozess soll in dieser Arbeit allein der Begriff ‚Thema' verwendet werden. Er wird hier in Anlehnung an Schanks Arbeit definiert. Nach Schanks Auffassung von dynamischem Gedächtnis kann ein Thema als eine auf Erfahrungen in der realen Welt basierende Wissensstruktur des Lesers aufgefasst werden, die die Gründe der Ziele eines Aktanten liefert. In Anlehnung an repräsentationalistische Tendenzen in den Kognitionswissenschaften, nach denen sich Schank richtet, kann man auch davon ausgehen, dass es in Form eines Schemas im Gedächtnis gespeichert ist.
Ein Thema wird in der Interaktion mit einem Text zum Zweck des Verstehens durch die Herstellung von Analogien zwischen der fiktionalen Welt eines literarischen Textes und dem Wissen des Lesers aktiviert, das sich auf die Interaktion mit der eigenen Umgebung stützt.190 Zur Herstellung von Analogien tragen die idiosynkratischen TOPs bei.
‚Wahnsinn', zum Beispiel, entspricht einer thematischen eine erzählte Episode zusammenfassenden Struktur, die Elemente transportiert, die der Leser analogisch als charakteristisch für die eigene Wissensstruktur von WAHNSINN wiedererkennt. Als TOP fungiert das in jedem kommunikativen Kontext wiederkehrende Pattern des erwähnten Begriffes. Es kann wie folgt zusammengefasst werden: Der Aktant ist psychisch krank und lässt seiner Krankheit freien Lauf.191 Ein weiteres Beispiel dafür, wie TOPs zum analogischen Denken beitragen, ist die metaphorische Gegenüberstellung von Geburt und Morgendämmerung. Ein TOP kann in diesem Fall dazu beitragen, eine metaphorische Analogie zu erkennen oder wiederzuerkennen. Das gemeinsame Pattern (der Aktant schöpft etwas mit dem Ziel, etwas Neues zu beginnen) ermöglicht es.192 Diese Funktion von TOPs soll an einem weiteren Beispiel erklärt werden. Schank u. a. (1982) benutzen ein kurzes fiktives Gespräch zwischen Ehemann und Ehefrau, um die kognitive Funktion von „points“ (TOPs werden als thematic organization points bezeichnet) zu erklären. Sie setzen sich damit auseinander, was im Allgemeinen als der Hauptpunkt einer Informationsübermittlung betrachtet werden kann. Im Folgenden zitiere ich ihr Beispiel:
Wife: I went to the doctor's office today.
Husband: Are you sick?
Wife: No, I am fine
Husband: Then why did you go to the doctor's?
Wife: Do you know that extra room we were thinking of adding on?
Husband: What about it?
Wife: Well, the doctor says we are going to need it. (Schank u. a. 1982, S. 272)
An den Aussagen der Ehefrau erkennt man, dass der Hauptpunkt des Gesprächs ‚Familienzuwachs' ist. Auf der Suche nach dem richtigen ‚Punkt' analysieren Schank u. a. (1982) die Gesprächssequenzen. Meine Auseinandersetzung mit dem angegebenen Beispiel ist hier ein wenig anders als die, die in Schanks Beitrag besprochen wird. Für die Ziele dieser Studie soll hier ‚Familienzuwachs' für das durch den Text aktivierte Thema stehen. ‚Familienzuwachs' wird im oben wiedergegebenen Text durch keinen sprachlichen Ausdruck zum Ausdruck gebracht. Der Text evoziert das ‚Arztbesuch-Schema', das ‚Kranksein-Schema' und das ‚Hauserweiterung-Schema' aus der realen Welt des Lesers. Im Falle des zitierten Gesprächs steuern und beeinflussen sie das Textverstehen.193 Die Herstellung der Analogie zum ‚Familienzuwachs', die das Verstehen der Passage ermöglicht, wird durch die Aktivierung des ArztbesuchSchemas in Bezug auf die Rolle der Ehefrau möglich gemacht.194 Um das Thema des Gesprächs erschließen zu können, muss ein TOP aktiviert werden, das das folgende Pattern eingrenzt: Der Aktant schöpft etwas mit dem Ziel, etwas anders zu erweitern. In dem fiktiven Gespräch weist das ‚Hauserweiterung-Schema' dieses Pattern auf. Das Schema ‚Familienzuwachs' hat dieses Pattern mit dem ‚Hauserweiterung-Schema' in der Wissensstruktur des Lesers gemeinsam. Hiermit möchte ich auch auf ein kognitives Problem im Zusammenhang mit der Aktivierung von Wissensstrukturen aufmerksam machen. Die Tatsache, dass kognitive Schemata gemeinsame Patterns haben, führt dazu, dass mehrere thematische Wissensstrukturen des Lesers bzw. mehrere Themen dasselbe Pattern mit denselben kognitiven episodenhaften Bestandteilen aufweisen. Dies trägt zur kognitiven Vieldeutigkeit bei. Wie Lásló (1999) betont, ermöglicht gerade die Tatsache, dass sich mehrere Schemata in der Wissensstruktur des Lesers durch dasselbe Pattern auszeichnen, dass ein Text mehreren Themen zugeordnet werden kann bzw. dass der Leser mehrere Themen in einem Text wiedererkennen kann.195 Gerade diese Vielfalt an thematischen Interpretationsmöglichkeiten erfordert meines Erachtens ein kognitives Kontrollelement während des Verstehensprozesses, das die thematische Zuordnung bzw. die Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen den dem Leser bekannten Wissensschemata nicht ad infinitum laufen lässt. Auf die möglichen kognitiven Kontrollelemente, die im Falle der Interaktion mit einem literarischen Text sowohl in der kognitiven Aktivität des Lesers als auch im Sprachmaterial des Textes verankert sind, soll im nächsten Kapitel ausführlich eingegangen werden. Einer der Prozesse, der die kognitive Kontrollfunktion beim Verstehen eines Textes erfüllt, ist der Inferenzprozess. Die klassische Schematheorie vernachlässigt diese entscheidende Rolle des Inferenzprozesses bei der Untersuchung des Textverstehens. In meiner Arbeit soll der Inferenzprozess dagegen dazu beitragen zu verdeutlichen, warum sich ein Leser beim Verstehen eines Textes für die Zuordnung des Textinhalts zu einem bestimmten Thema entscheidet.
Inferenzen ermöglichen dem Rezipienten, sein Weltund Vorwissen sowie seine Vorkenntnisse des situativen Kontextes in den interaktiven Prozess des Textverstehens einzubringen, während dessen Schemata getriggert, verwendet und aktualisiert werden. Am Beispiel der thematischen Inferenzen soll der nächste Abschnitt in diesen Mechanismus einführen.