Universalien, kulturelle Schemata und Themen
Wie oben festgestellt wurde, soll in diesem Kapitel die Annahme diskutiert werden, dass thematische Wissensgehalte mit einem hohen Verallgemeinerungspotenzial wie Liebe, Treue, Reue und Untreue den die Textkohärenz gewährleistenden Hauptthemen entsprechen. Sie sind aufgrund ihrer evolutionspsychologischen adaptiven Funktion für die Leser überlieferungsfähiger, können kulturübergreifend wiederkehren und kulturellen Universalien entsprechen. Wissensschemata ohne Verallgemeinerungspotential wie Ehebruch, One-Night-Stand oder Autounfall können dagegen in der Interaktion mit einem literarischen Text als Nebenthemen und als kulturell gebundene und kulturell bedingte Wissensgehalte des Lesers kulturelle Universalien bzw. Hauptthemen triggern. Es soll hier gezeigt werden, dass Nebenthemen als Wissensstrukturen des Lesers kulturellen Schemata entsprechen. Diese können als Schemata charakterisiert werden, die eine kulturell bedingte Spezifität von Wissen über Situationen oder Objekte aufweisen. Ich fange bei dem Begriff ‚kulturelle Universalien' an. Kulturelle Universalien können als angeborene Wissensdomänen bezeichnet werden, die der Mensch in seiner Umwelt weiter entwickelt. Sie werden nach der kognitiven Evolutionspsychologie als die Bausteine kultureller anthropologischer Konstanten betrachtet.287 Steven Pinker definiert kulturelle Universalien als „komplexe Interaktionen zwischen einer universalen menschlichen Natur und den Bedingungen, die das Leben in einem Menschenkörper auf diesem Planeten mit sich bringt.“288 Nach dieser Auffassung sind kulturelle Universalien biologische Kulturdispositionen, die Menschen in jeder Kultur und in jeder Kulturproduktion gemeinsam haben. Eibl (2004) macht in Anlehnung an George Peter Murdock deutlich, dass die Universalien der Kultur nicht Gleichheiten im äußeren Auftreten oder in einem definierbaren Verhalten seien. Es handele sich vielmehr um kategoriale Abstraktionen von historisch und verhältnismäßig unterschiedlichen Elementen, die den Beobachter gleichwohl nötigen, sie als gemeinsam zu klassifizieren. Murdock verstand unter Universalien eine Klassifikationsstruktur, (‚universal cultural pattern'), die in der psychologischen und biologischen Natur des Menschen und in den universalen Bedingungen menschlicher Existenz zu suchen ist: „The true universals of culture, then, are not identities in habit, in definable behavior. They are similarities in classification, not in content“,289 so Murdock. Die Kulturmuster wurzeln in der fundamentalen biologischen und psychologischen Menschennatur und in den universalen Bedingungen menschlicher Existenz. Murdock und Pinker teilen die gleichen Ansichten. Kulturelle Universalien sind nach Murdock universell nur in Hinblick darauf, dass alle Menschen mit ihrer universellen genetischen Ausstattung überall Problemsituationen gegenüberstehen, die auf einer bestimmten Abstraktionsebene gleichfalls als universell eingeschätzt werden können. Wie Murdock (1965 [1949]) betont, unterscheidet sich das aktuelle Verhalten bei der Behandlung einer kranken Person, zum Beispiel, von Kultur zu Kultur, aber die unterschiedlichen Handlungen fallen alle unter die Kategorie ‚Medizin'.290 Dies bedeutet, dass die Krankheit an sich eine Erfahrung ist, die alle Menschen aufgrund ihrer biologischen Eigenschaften machen und für die alle menschlichen Kulturen diverse medizinische Behandlungen entwickelt haben. Darum zählen weder Krankheit noch das Kranksein zu den kulturellen Universalien. Die entsprechende kulturelle Universalie ist in diesem Fall MEDIZIN. Ein weiteres Beispiel ist ‚Eigentumsrecht'. Obwohl es, zum Beispiel, überall irgendeine Form von Eigentumsrecht gibt, gibt es kein beobachtbares angeborenes Eigentumsrecht, sondern nur eine biologische Disposition, die im Medium vieler konkreter Eigentumsregelungen in Erscheinung tritt.291
Der Unterschied zwischen dem Begriff ‚angeboren' und der Auffassung von ‚kulturell bedingten Variationen' scheint durch den Begriff ‚Kultur' bestimmt zu sein. Was ist mit Kultur gemeint? Die Frage ist zugegebenermaßen sehr anspruchsvoll. Mögliche Antworten mit Tiefgang findet man in verschiedenen Studien. Carroll (2007), zum Beispiel, weist darauf hin, dass Kultur nicht aus den angeborenen Kulturdispositionen des Menschen, sondern aus den daraus resultierenden verschiedenen Lösungen für dieselben Problemsituationen besteht.292 Anders gesagt: Kultur resultiert aus der Herstellung einer gewissen Ordnung als Antwort auf ein diese Ordnung störendes Problem. In seinem Aufsatz Kultur: Ein Rückkoppelungsprozess bringt Iser (2001) einen ähnlichen Standpunkt zum Ausdruck. Iser geht von der ethnographischen Annahme aus, dass der Mensch ein defizites Wesen sei, das in einer entropischen Umwelt handle. Um zu überleben, muss der Mensch Entropie kontrollieren können. Aus der Überlebensnotwendigkeit des Menschen ergeben sich seine Eingriffe in die entropische Umwelt. Diese bilden ein Verhältnis von Ordnung und Kontingenz heraus, das den Grundriss des künstlichen Habitus293 verkörpert, den der Mensch zu seiner Selbsterhaltung schafft.294 Die Kontingenzbewältigung ist Isers Auffassung zufolge der Motor der Kultur. In Anlehnung an Clifford Geertz macht Iser (2001) deutlich, dass sich Kultur als ‚kybernetische Rekursion' vollziehe.295 Nach Iser gibt es im Menschen als einem unvollendeten Tier ein Vakuum, das Plastizität besitzt und das zum Zweck der Selbsterhaltung der Prägung bedarf. Die Umwelt ist ein Vakuum, denn sie ist entropisch. Entropie wird durch Rückkoppelungsschleife von Input und Output unter Kontrolle gehalten. Der Mensch macht einen Input in die entropische Umwelt, der als ein veränderter Output zurückkehrt, um dann wiederum in den darauf folgenden Input zu landen.296 Nach Iser lässt dieses Verhältnis zwischen Menschen und Umwelt darauf schließen, dass jenes Vakuum, das sowohl im Menschen als auch in seiner Umwelt herrscht, Bedingung für Kultur ist.297 Kultur entsteht aus Mangel, der unaufhebbar ist und sie deswegen zu einem durch Rückkoppelungsschleifen gesteuerten Prozess macht. Daraus ergibt sich, dass sich Kultur nicht direkt aus der biologischen Natur des Menschen ableiten lässt. Im Phänomen der kybernetischen Rekursion siedelt Iser (2001) die Rolle der Kunst und der Literatur an. Nach ihm erlauben sie die Lesbarkeit dessen, was als reflexive Beobachtung die Prozesse der Weltherstellung überragt.298 In Bezug darauf, dass sich Kultur nicht aus der biologischen Natur des Menschen ableiten lässt, kommt der Entwicklungspsychologe Michael Tomasello (2002) zu einem ähnlichen Schluss. Tomasellos Theorie der dualen Vererbung ist dazu geeignet zu erklären, wie Kultur zu verstehen sein kann. Nach To masellos Ansatz hängen die ausgereiften Phänotypen vieler Arten, d. h., die Gesamtheit der Merkmale eines Lebewesens, wie sie durch Erbanlagen und Umwelteinflüsse geprägt werden, von der biologischen und kulturellen Erbschaft ihrer Vorfahren ab. Im kognitiven Bereich ist die biologische Vererbung des Menschen derjenigen bei anderen Primaten sehr ähnlich. Menschen als Primaten haben dieselben Sinnesorgane und denselben Grundbauplan für Körper und Gehirn wie andere Primaten auch. Der einzige Unterschied ist Tomasello zufolge, dass Menschen ihre Artgenossen genauso wie sich selbst als intentionale oder geistbegabte Akteure verstehen. Dies bedeutet, dass Menschen dazu neigen, ihre Artgenossen zu imitieren. Dies ist wiederum Bedingung für die Hervorbringung gemeinsamer kultureller Artefakte und des kulturellen Lernens. Man kann daher feststellen, dass es eine menschliche Gesellschaft gibt, weil der Mensch über angeborene Mechanismen verfügt, die ihn biologisch, psychisch und kommunikativ an andere Menschen binden. Die menschliche Entwicklung hängt daher sowohl von der biologischen Vererbung als auch von der kulturellen Vererbung ab.299 Zusammenfassend besagt Tomasellos Theorie der dualen Vererbung, dass die meisten artspezifischen kognitiven Fähigkeiten des Menschen keine direkte Folge der biologischen Vererbung sind, sondern vielmehr aus einer Vielfalt historischer und ontogenetischer Prozesse hervorgehen, die von der spezifisch menschlichen biologisch vererbten kognitiven Fähigkeit in Gang gesetzt werden.300 Ähnliche Ansichten haben Strauss & Quinn im Rahmen ihrer Anwendung der Schematheorie zum Ausdruck gebracht:
„Culture consists of regular occurrences in the humanly created world, the schemas people share as a result of these, and in the interactions between these schemas and this world. (…) We need to put some conditions on what sorts of shared experiences are cultural. For example, we do not think it is useful to use 'cultural' to refer to shared experiences of the natural world. But suppose we are referring to a plant, an animal or a landscape that has been altered through human intervention? To allow for that we say that a schema is cultural to the extent that it is the product of humanly mediated experiences. Similarly we do not want to label as cultural those schemas that are the product of experiences arising from innately
programmed behaviors. (…) A schema is cultural to the extent that it is not predetermined genetically. “301 (Strauss & Quinn 1997, S. 7)
Das heißt, dass Schemata wie ESSEN, SCHLAFEN, FORTPFLANZUNG, SPRECHEN, LIEBE, die Erfahrungen darstellen, die alle Menschen in jeder Kultur gemeinsam haben, keine Träger von Kultur sind, während Schemata wie EHE oder HOCHZEIT welche sind.302 Vor diesem Hintergrund soll man hier den Unterschied zwischen kulturellen Universalien und kulturellen Schemata betonen. Die ersteren vermitteln eine biologische Kulturdisposition des Menschen mit Gemeinsamkeiten in der Kategorisierung und gerade deswegen können sie nichts über die kennzeichnenden Merkmale einer Kultur aussagen. Die letzteren gehören zu Kategorien, die kulturbedingte Variationen und auf biologische Kulturdispositionen zurückführende menschliche Verhaltensweisen enthalten und vermitteln. Sie können als untergeordnete spezialisierte Kategorien von kulturellen Universalien gelten, die auf das Wie eines Verhaltens spezialisiert sind. Carroll (2002) bringt diesen Unterschied auf den Punkt: Kulturelle Universalien verweisen auf basale Verhaltenssysteme des Menschen, die die Entwicklung des äußeren Auftretens kultureller Variationen bestimmt haben.303 Ich möchte hier hinzufügen, dass die kulturellen Variationen, über die Carroll spricht, kulturellen Schemata entsprechen.
Nach dieser langen Abschweifung von dem eigentlichen Thema dieser Arbeit stellt sich hier die Frage, wie Murdocks Erkenntnisse über kulturelle Universalien sowie die Erkenntnisse über kulturelle Schemata im Rahmen der Themenforschung verwendet und angewendet werden können. Eine direkte Verbindung zwischen Themen und Murdocks Arbeit ist nicht möglich. Seine Erkenntnisse führen Murdock dazu, sich bei der Katalogisierung von anthropologischen Konstanten allein auf die aus der Interaktion mit der Umwelt resultierenden gesellschaftlichen Domänen zu konzentrieren. Über eine lange Auflistung zum Zweck der Katalogisierung solcher universeller Domänen gehen das Ergebnis Murdocks und das Ergebnis Pinkers nicht hinaus.304 Diese sowie Tomasellos und Isers Beobachtungen bieten aber Kriterien für die Abgrenzung von universellen Kultur tragenden Wissensdomänen, die sich – thematisch betrachtet – als literarisch relevant erweisen könnten. Da die Literaturwissenschaft in Anlehnung an evolutionspsychologische Ansätze zu ähnlichen Ergebnissen gekommen ist, schlage ich hier vor, solche Kriterien den literaturwissenschaftlichen Arbeiten von Carroll (1999; 2002; 2007) und Scalise Sugiyama (2001) zu entnehmen. In Bezug auf die Rolle der Literatur in der Evolution menschlicher Verhaltenspatterns vertritt Carroll (2002; 2007) die These, dass Literatur unmittelbar eine adaptive Funktion in der Evolutionsgeschichte menschlicher Kultur übernimmt.305 Carroll zufolge steht die das Probehandeln ermöglichende Unterhaltungsfunktion der Literatur im Mittelpunkt. Mit Carrolls Worten:
„Literature presents simulated situations through which we can model our own behaviours, but it not only provides game plans for specific situations. It integrates emotional processes with elemental motives in highly particularized circumstances that readers might never encounter. It helps us to regulate our complex psychological organization, and it helps us to cultivate our socially adaptive capacity for entering mentally into the experience of other people. Literature produces pleasure, but not merely a “pleasure technology”. It contributes to personal and social development and to the capacity for responding flexibly to changing circumstances.” (Carroll 2002, S. 40-41) 306
Die Vorstellung von Literatur als pleasure technology ist auf Steven Pinker (1997) zurückzuführen und wird von Carroll entschieden abgelehnt. Besonders in seinem Beitrag The Adaptive Function of Literature nennt Carroll (2007) den Grund für seine Ablehnung von Pinkers Vorstellung von Literatur.307 Carroll macht darauf aufmerksam, dass der Unterschied zwischen seiner Auffassung der adaptiven Funktion von Literatur und Pinkers Vorstellung davon darin bestünde, dass Pinker Literatur als ein „parasitic by-product“ von menschlichen kognitiven Funktionen betrachte, die ihrerseits eine adaptive Funktion haben. Carroll erkennt dagegen Literatur selber unmittelbar eine adaptive Funktion zu, die zur Entwicklung menschlicher kognitiver Funktionen beiträgt.308 Carroll (1999) zufolge bleiben die Arbeiten der evolutionspsychologischen Forschung in Hinblick auf eine intrinsische adaptive Funktion von Literatur mangelhaft. Dies erkennt man vor allem daran, dass die Evolutionspsychologie eine Taxonomie der auf die Evolutionsgeschichte des menschlichen Verhaltens zurückführenden Themen der Literatur noch nicht hat liefern können. Ohne eine solche Taxonomie zu entwickeln, macht Carroll (1999) Vorschläge. Er bezieht sich auf die Studien von Michael Gazzaniga, Tooby & Cosmides (1992) und Pinker (1997). In Anlehnung an diese Studien über das Verhalten des Menschen in seiner Evolutionsgeschichte, nach denen alle Variationen des menschlichen Verhaltens auf die Anpassung und das Überleben in der Umwelt zurückzuführen sind, weist Carroll darauf hin, aus welchen Wissensund Erfahrungsdomänen literarisch relevante Themen stammen könnten. Er stellt Folgendes fest:
„In literature the most frequent and important themes are those that concern individual identity, sex, romance, and the family. Survival is the basis of all adventure stories and by far the largest proportion of stories that are not strictly oriented to survival are organized around the mating game, the concerns of parents for children, and family relations generally. On the basis of such observations we can propose a large generalization about the primacy of adventure, personal success and romance within the themes of world literature, and this kind of generalization can, in fact, yield hypotheses that are testable through large scale, cross-cultural analysis of literary subjects.” (Carroll 1999, S. 164)
Carrolls Überlegungen sind mit den Überlegungen von Scalise Sugiyama (2001) zu ergänzen. Sie macht darauf aufmerksam, dass mit dem Überleben der Spezies zusammenhängende Probleme kulturübergreifend in allen literarischen Traditionen wiederkehrende Elemente seien, die sich durch Variationen in der Lösung eines Problems kennzeichnen. Dies bedeutet, dass nicht nur anthropologische Konstanten im Sinne Murdocks, sondern auch alle lokalen Variationen mit einbezogen werden, die diesen Konstanten in Form von kulturellen Schemata entspringen. Scalise Sugiyama formuliert folgende Kriterien für die Untersuchung des universellen Charakters der Themen der Literatur:
„We would therefore anticipate thematic universality in literature largely at the macro-level: obstacles to survival and reproduction that are common to all cultures (e.g., finding food, acquiring a mate, rearing children, forming alliances). We would anticipate variations at the micro-level: (1) local solutions to adaptive problems, and (2) fitness-affecting constraints that are unique to a particular locale or way of life.” (Scalise Sugiyama 2001, S. 243)
Anhand Carrolls und Scalise Sugiyamas Beobachtungen kann man aus meiner Sicht, die Wissensdomänen eingrenzen, aus denen literarisch relevante Themen stammen können. Ihren Arbeiten zufolge stellen Wissensdomänen, die auf das Überleben der Spezies zurückzuführen sind, typisiertes Wissen über basale Verhaltenssysteme des Menschen dar, die sich allein auf der Makroebene erkennen lassen. Es liegt nahe, dass diese Wissensdomänen kulturellen Universalien entsprechen, die basale Verhaltenssysteme des Menschen vermitteln, die die Entwicklung des äußeren Auftretens kultureller Variationen bestimmt haben. Den kulturellen Universalien kann man die kulturspezifischen Variationen im äußeren Auftreten zuordnen, die Strauss und Quinn (1997) zufolge kulturellen Schemata entsprechen. Daraus folgt, dass sich nur die lokalen Lösungen für adaptive Probleme im Laufe der Evolutionsgeschichte einer Gesellschaft mit den Änderungen des Habitats ändern. Aus diesem Grund können immer neuere spezialisierte Erfahrungen und daher kulturelle Schemata hinzukommen.309 Zusammenfassend kann man hier feststellen, dass Carrolls Beobachtungen und Scalise Sugiyamas (2001) Versuch über die Entwicklung von Kriterien für die Abgrenzung von literarisch relevanten Themen in Anlehnung an evolutionspsychologische Forschungsergebnisse dazu beitragen, literarisch relevante Wissensdomänen in Form von kulturellen Universalien sowie literarisch relevante thematische Wissensschemata zu identifizieren.
Von als Universalien bezeichneten wiederkehrenden Strukturen in der fiktionalen Literatur spricht auch Hogan (2003), ohne allerdings den evolutionspsychologischen Aspekt als Kriterium für ihre Kategorisierung zu betrachten. Hogan definiert narrative Universalien in Anlehnung an die Sprachwissenschaft. Das formale kennzeichnende Merkmal literarischer Texte, das auf eine narrative Universalie schließen lässt, besteht nach Hogan in einem wiederkehrenden Element, das die narrativen Strukturen der berücksichtigten literarischen Texte miteinander gemeinsam haben. Es kann nur dann als eine Universalie betrachtet werden, wenn es nicht auf gemeinsame kulturelle Wurzeln der Texte selbst zurückzuführen ist.310 Homosexualität, zum Beispiel, kann nach Hogan als kulturelle Universalie betrachtet werden, weil sie aller Wahrscheinlichkeit nach in jeder kulturellen Tradition mit einem gewissen hohen konstanten Häufigkeitsgrad wiederkehrt oder wiederkehren kann.311 Meines Erachtens kann aber eine Universalie nicht nur auf den Häufigkeitsgrad ihrer möglichen Wiederkehr reduziert werden. Bei der Analyse von Universalien ist meiner Ansicht nach ein qualitativer Aspekt zu beachten, der dem quantitativen Aspekt übergeordnet ist. Diese Überlegung möchte ich auf meine Auffassung von literarisch relevanten thematischen Wissensgehalten anwenden, um das Verhältnis zwischen kulturellen Universalien und Wissensgehalten, die als Hauptthemen der Literatur betrachtet werden können, zu verdeutlichen. Ein Grund, warum ein literarisch relevanter thematischer Wissensgehalt als kulturelle Universalie betrachtet werden kann, ist es, dass er evolutionspsychologische und biologische Kulturdispositionen des Menschen vermittelt. Er kann deswegen kulturübergreifend im Rezeptionsprozess identifiziert werden.
Dies verweist aus meiner Sicht auf ein qualitatives Kriterium für die Aufdeckung von kulturellen Universalien. Auf das oben erwähnte Beispiel über Homosexualität übertragen, lässt dies darauf schließen, dass man anhand eines qualitativen Kriteriums entscheiden kann, ob eine Wissensstruktur in die Kategorie der kulturellen Universalie eingeordnet werden könnte, um dann die Vermutung durch quantitative Analyse zu bestätigen oder zu widerlegen.312 Mit anderen Worten: Das basale Verhaltenssystem des Menschen in der Wissensdomäne der Partnersuche zum Zweck der kulturell bedingten Eheschließung, nämlich sexuelle und emotionale Beziehungen einzugehen, zeichnet sich durch eine Variation der Beziehung im äußeren Auftreten aus, die als Homosexualität bekannt ist. Darum kann man vermuten, dass der kulturellen Universalie LIEBE das kulturelle Schema ‚Homosexualität' untergeordnet ist. Nach meinem Vorschlag dient der Grad an Häufigkeit, mit dem es kulturübergreifend wiederkehrt, dazu, empirisch festzustellen, ob es eine kulturelle Universalie ist oder sein könnte.313