Literarizität und Schematheorie: Cook, Semino und Shklovsky

Guy Cook (1994) entwickelt in Discourse and Literature: The Interplay of Form and Mind seine Auffassung von Literarizität sowohl in Anlehnung an Schanks Schematheorie als auch in Anlehnung an die sogenannte formalistische Theorie der Verfremdung. Er erweitert die Ansichten des Russischen Formalismus, indem er dieser Forschungsrichtung einen kognitionswissenschaftlichen Rahmen verleiht. Cook diskutiert Shklovskys Ansicht, dass die Funktion von Literatur darin bestünde, eine gewisse Neuartigkeit und Originalität der Wahrnehmung zu gewährleisten, die sich von der im Alltag und daher automatisch erfolgenden unterscheide.479 Diese Funktion wird von den Russischen Formalisten als ostranie (dt. Verfremdung) bezeichnet. Die Technik der Verfremdung zielt auf die Entautomatisierung der Wahrnehmung. Sie sorgt dafür, dass uns die uns vertrauten Dinge, die wir aus dem Alltag kennen, aus einer anderen Perspektive erscheinen und sie uns daher nicht mehr bekannt vorkommen. Dadurch können wir eine neue Betrachtungsweise unserer Umwelt bzw. einen neuen Blick auf die Welt gewinnen. Verfremdung gilt im Allgemeinen als künstlerisches Gesetz zur Herstellung des starken Eindrucks und ist ein Mittel zur Deautomatisierung der Wahrnehmung des beschriebenen Objekts, die eine Bewusstwerdung von Normen und Werten zur Folge hat.480 Shklovskys Worte dazu:

„This new attitude to objects in which, in the last analysis, the object becomes perceptible, is that artificiality which, in my opinion, creates art. A phenomenon, perceived many times, and no longer perceivable, or rather, the method of such dimmed perception, is what I call 'recognition' as opposed to 'seeing'. The aim of imagery, the aim of creating new art, is to turn the object from 'recognition' to 'seeing'” (Shklovsky zit. nach Cook 1994, S. 131) 481

Diese Funktion von Literatur, auf die die Formalisten verweisen, wird dadurch erfüllt, dass die Form eines Textes Träger von Verfremdung wird. Shklovsky zufolge ist der Effekt der Verfremdung selber durch formale Mittel mittels der Sprache eines literarischen Textes zu realisieren.482 Die Analyse der Sprache trägt dazu bei, den Begriff der Literarizität zu definieren.483 Als kennzeichnend für Literatur betrachtet Shklovsky die Abweichung von Erwartungen. Die Abweichung, auf die er sich bezieht, ist aber weder als allein linguistischer Natur noch als Ausdruck der Abweichung einer fiktionalen Textwelt von der realen Welt des Lesers zu betrachten.484 Nach Lachmann (1970) behandelt Shklovsky drei Arten von Abweichung: 1. Abweichung der Kunst von der Wirklichkeit; 2. Abweichung von der Sprachnorm; 3. Abweichung von der literarischen Norm.485 Cook zufolge kann man anhand Shklovskys Arbeit zu keiner systematischeren Präzisierung des Begriffes gelangen. Die fehlende systematische Präzisierung des Begriffes von ‚Abweichung' in den Arbeiten der Formalisten hat anscheinend dazu geführt, dass in der Forschung davon ausgegangen wird, dass sich der Begriff der Abweichung hauptsächlich auf stilistische Abweichung von der Sprachnorm bezieht, so Cook.486 In der Fachliteratur ist es auffallend, dass sich die Geister an dem Begriff der Abweichung scheiden. Van Peer (2002), zum Beispiel, betrachtet stilistische Abweichung als kennzeichnend für literarische Rezeption als zu einseitig. Er schlägt eine Erweiterung des Abweichungsbegriffes vor. Seiner Meinung nach sollte man sich nicht nur auf die sprachlichen oder stilistischen Abweichungen konzentrieren, sondern auch und vor allem die Abweichungen von den kulturellen Schemata des Lesers berücksichtigen. Infolgedessen könnte man behaupten, dass, zum Beispiel, die Figur des Faust und die Figur des Don Juan Abweichungen von einem einzigen bestimmten kulturellen Schema darstellen.487

Die Fragen, was für Normen die Verfremdung als Abweichung von Erwartungen bestimmen und warum die Abweichung von Erwartungen so attraktiv für die Leser sein soll, haben die Formalisten Cook zufolge nie beantwortet.488 Vor dem Hintergrund des Grundgedankens der Formalisten schlägt Cook (1994) vor, den Begriff der Verfremdung bzw. der Abweichung von Erwartungen mit der kognitionswissenschaftlichen Schematheorie zu verbinden.489 Dies hat Cooks Literarizitätsbegriff bestimmt und daher zur Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang zwischen der Aktivierung von Wissensschemata durch Abweichung von Erwartungen und einer literarischen Spezifität geführt. Cook (1994) geht von der Annahme aus, dass Literatur Diskurs sei. Er vertritt die Auffassung, dass Leser Schemata brauchen, um Diskurs zu verstehen.490 Obwohl Schemata diese Funktion erfüllen sollten, können sie den Verstehensprozess auch verhindern, wenn sie nicht anpassungsfähig genug sind. Texte können etablierte Schemata ändern, so Cook.491 Cook macht auf die Interaktion zwischen Schemata des Lesers und Struktur des Textes aufmerksam:

„While any interaction with new experience or text may be of this kind, and may effect changes in schemata while simultaneously using them in processing, there may also be experiences and discourses whose primary function is to alter schemata, making the mind better equipped for processing in future. A particular relation between schemata on the one hand and language and text on the other, may effect exactly this kind of change. Many works which are regarded as literary may stimulate this kind of relation.” (Cook 1994, S 183)

Nach Cook ist Schanks Begriff von Schemata zu steif, als dass er das Phänomen der Schemaänderung durch die Interaktion mit literarischen Texten beim Verstehensprozess erklären und umfassen kann. Cook sieht die Grenzen der Schematheorie kognitionspsychologischer Prägung darin, dass sie die folgenden Erscheinungen nicht berücksichtigt und daher nicht erklären kann: 1) Die Auswirkungen von Sprache und Textstrukturen, die einen Begriff durch eine Form der Abweichung vermitteln, auf ein im Gedächtnis bereits existierendes Schema; 2) Diskurstypen, deren Funktion es ist, Schemaänderungen zu vollziehen.492 Diesen mangelhaften Aspekt der Schematheorie versucht Cook (1994) zu beheben. Er schlägt vor, linguistische und textuelle Abweichungseffekte mit dem Begriff der kognitiven Schemaänderung in Verbindung zu bringen, um Literarizität zu definieren. Die Berücksichtigung der Interaktion zwischen textuellen Abweichungseffekten und Schemata des Lesers ist nach Cook eine wichtige Bedingung, damit Literarizität erfolgreich bestimmt werden kann.493 Nach Cook (1994) liegt Literarizität dann vor, wenn textuelle und sprachliche Abweichungen eine ‚kognitive Herausforderung' für die etablierten Schemata des Lesers (schema disruption) darstellen und deren Änderungen (schema refreshment) beeinflussen und bewirken können. Die Schemaänderung setzt voraus, dass alte Schemata zerstört werden. Dies bedeutet allerdings nicht unbedingt, dass neue Schemata als Folge der Abweichungen und Änderungen entstehen. Eine Schemaänderung kann auch allein durch das Zustandekommen neuer Verbindungen zwischen bereits existierenden Schemata zustande kommen.494 Auf die Analyse der Art der Verbindungen von bereits existierenden Schemata miteinander geht Cook (1994) aber nicht ein. Elena Semino (1997) fasst Cooks Auffassung von Literarizität zutreffend folgendermaßen zusammen:

„Cook's central claim is that literary discourse performs the crucial cultural function of creating the condition for schema change. This, he argues, is due to the fact that literature is a type of discourse with 'no immediate practical or social consequence'. As a result, it provides readers with an opportunity to reorganize their schemata without the risk of incurring social sanctions or inconvenient practical consequences.” (Semino 1997, S. 154)

Als Beispiel erwähnt Cook (1994) den Roman Crime and Punishment. Dieser kann durch die Möglichkeit zum Probehandeln unsere Einstellung zum Mord an einer alten Dame wegen Schulden, zu Armut, zu Prostitution oder zu Religion ändern, ohne dass die Schemaänderungen während des Prozesses der Änderung selbst direkte Auswirkungen auf das Leben des Lesers hätten.495 Diese Funktion des Probehandelns wurde in dieser Arbeit im Zusammenhang mit der Besprechung des Beitrages von Tooby

& Cosmides (2006) erwähnt. Sie wurde aus der Sicht der kognitiven Evolutionspsychologie erklärt, nach der uns das Probehandeln in der Interaktion mit Fiktion erlaubt, unseren eigenen Weg zu adaptiv besseren Entscheidungen vorausschauend zu ertasten. Cooks Auffassung von Literarizität könnte zu jeder Kommunikationsform passen, die das Probehandeln ohne soziale Konsequenzen ermöglicht. Um Literarizität als Eigenschaft literarischer Kommunikation von anderen Kommunikationsformen zu unterscheiden, zieht Cook Werbetexte in Betracht. Anhand seines Definitionsvorschlags für ‚Literarizität' beschreibt Cook den Grund, warum Werbetexte keine Literarizität aufweisen können, obwohl sich die Werbesprache oft durch Abweichung kennzeichnet. Cook (1994) betont, dass in Werbetexten linguistische Abweichungen keine Abweichung von etablierten Schemata und Hintergrundwissen des Lesers auslösen. Werbetexte erreichen durch linguistische Abweichung eher das Ziel, stereotypes Wissen zu bestätigen, anstatt es zu ändern. Die kognitiven Effekte bestehen in schema reinforcing, wenn sie bereits existierende Schemata verfestigen, schema preserving, wenn sie bereits existierende Schemata bestätigen und schema adding, wenn sie ein bereits existierendes Schema mit zusätzlichen, aber nicht abweichenden Informationen ergänzen können.496 An dem Beispiel, das ich im Folgenden anführen werde, soll Cooks Auffassung von Literarizität als Schemaänderung (schema refreshment) durch Abweichungen von den Erwartungen des Lesers deutlich gemacht werden. Ich werde in diesem Fall im Sinne der Cognitive Poetics,497 auf die Cooks Arbeit zurückgeht, keine Prosa, sondern Dichtung verwenden, weil im Falle eines Gedichtes die sprachliche und schemabasierte Abweichung durch die im Vergleich zu einem Roman bzw. zu einer Erzählung verdichtete Darstellung des Textinhalts deutlicher und unmittelbar erkannt werden kann.

Der Überlebende

nach Auschwitz Wünscht mir nicht Glück zu diesem Glück

daß ich lebe

Was ist Leben nach so viel Tod?

Warum trägt es die Schuld der Unschuld die Gegenschuld die wiegt

so schwer

wie die Schuld der Töter wie ihre Blutschuld die entschuldigte abgewälzte

Wie oft

muß ich sterben dafür

daß ich dort nicht gestorben bin?498

Das Gedicht ist von Erich Fried, dem Wiener Schriftsteller jüdischer Abstammung, der 1938 nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Österreich nach London emigrierte. Um die Schemaänderung in Form von schema refreshment und daher die Literarizität im Sinne Cooks beim Prozessieren dieses Gedichtes zu erkennen, muss der Leser dieses Gedichtes über einen intersubjektiv etablierten Wissensgehalt der folgenden Schemata verfügen: GLÜCK, UNGLÜCKEN, TOD, SCHULD, MÖRDER, UNSCHULD.499 Die im Text durch getriggerte außergewöhnliche Ver bindungen zwischen den verwendeten Schemata erreichte Abweichung von den Erwartungen des Lesers wird dadurch bestimmt, dass die von dem Text hervorgerufenen Assoziationen bzw. Verbindungen zwischen den verwendeten Schemata den intersubjektiv etablierten Wissensgehalten der einzelnen Schemata widersprechen: LEBEN ist, zum Beispiel, nicht mit GLÜCK zu assoziieren, sowie TOD sich nicht mit UNGLÜCK in Verbindung bringen lässt und LEBEN wiederholtes Sterben bedeutet. Diese Abweichungen von auf intersubjektiv etabliertem Wissen bzw. von auf kulturell bedingten Schemata basierten Erwartungen führen zu einer neuen Verbindung der im Text verwendeten Schemata miteinander in der kognitiven Wissensstruktur des Lesers. Durch ostranie, in diesem Fall eine durch Sprache kognitiv hervorgerufene Verfremdung bzw. Abweichung von kulturell bedingten Schemata, wird eine Schemaänderung in Form von schema refreshment erreicht. Hieran erkennt man, dass sich Literarizität im Sinne Cooks entfalten kann.500 Cooks Literarizitätsbegriff macht den Prozess der Literarizität stark von der Wissensstruktur des Lesers abhängig. Die Erfahrung der Literarizität lässt sich von den Wissensund Kategorisierungsstrukturen des Lesers nicht trennen. Sie kann zustande kommen, wenn der Leser die durch Sprache evozierten Schemata und Abweichungen durch seine Wissensstrukturen filtert. Obwohl Cooks Literarizitätsbegriff sowohl die Textwelt als auch deren Auswirkungen auf die Wissensschemata des Lesers einschließt, erweist er sich nach Semino (1997) als zu einseitig. Bei Cook lässt der Zusammenhang zwischen dem Literarizitätsbegriff und dem Prozess des schema refreshment darauf schließen, dass Texte, die ein etabliertes Wissensschema bestätigen, d. h. Texte, die eher ein schema reinforcing bewirken, trotz formal-ästhetischer Eigenschaften keinerlei Literarizität aufweisen können, so Semino.501 Nach Semino (1997) lässt sich dies angesichts der kognitiven Effekte der innerhalb der Literaturwissenschaft prototypisch als ‚literarisch' anerkannten Texte nicht nachvollziehen. Obwohl auch Semino argumentiert, dass Diskursabweichung eine zentrale Eigenschaft prototypischer literarischer Texte sei, erkennt sie Literatur stiftenden Abweichungseffekten eine breitere Tragweite zu. Ihrer Meinung nach reichen die kognitiven Effekte literarischer Texte von schema reinforcing–Effekten bis zu schema refreshment–Effekten.502 Semino schlägt daher vor, verschiedene Niveaus des Prozesses des schema refreshment als Effekt der Verarbeitung literarischer Texte zu unterscheiden.503 Die Schemaänderung als Effekt der Verarbeitung eines literarischen Textes und der Abweichungen von Erwartungen ist nach Semino schwierig nachzuweisen. Aus diesem Grund ist es ihrer Meinung nach sinnvoller, von der Potentialität eines Textes zu sprechen, die zu einem schema refreshment führen kann bzw. könnte.504 Zu dieser Überlegung führt nach Semino die Tatsache, dass empirischen Studien zufolge die Leser dazu tendieren, Erfahrungen zu verzerren oder zu ignorieren, die den eigenen Erwartungen oder den eigenen Wissensschemata zu radikal widersprechen.505 Dies bedeutet, dass Texte, die als zu außergewöhnlich bzw. als von den eigenen Wissensschemata zu abweichend erlebt werden, nicht verarbeitet werden und nicht in die eigenen Wissensschemata integriert werden können. Sie werden abgelehnt. Dies bedeutet, dass schema refreshment-Effekte nur unter bestimmten Bedingungen erfolgen können. In dieser Arbeit wurde das Problem des Grades der Abweichung eines Textes von dem Hintergrundwissen des Lesers in Bezug auf den Begriff Interestingness im Sinne Schanks bereits angesprochen. Semino fragt sich, wie hoch der Grad der Abweichung von den Erwartungen des Lesers sein darf, damit er nicht zur radikalen Ablehnung der Textwelt führt. Ein zu hoher Grad der Abweichung hätte das Scheitern des schema refreshment als Folge.506 Semino (1997) schlägt eine Revision von Cooks Auffassung von schema refreshment vor. In der Kategorie des shema refreshment siedelt sie nicht nur die radikale Erfahrung der Schemaänderungen, sondern auch alle Erfahrungen der Abweichung von den Erwartungen und Wissensschemata des Lesers an. Diese bewirken, dass etablierte Wissensschemata auf eine neue außergewöhnliche Art und Weise miteinander verbunden werden. Auf diese Weise bewirken sie, dass sich der Leser bestimmter Wissensschemata und deren möglicher Variationen bewusst wird.507

Um die Schwachstellen in Cooks Auffassung von der Art der kognitiven Auswirkungen der Werbetexte auf die Wissensstruktur der Leser zu betonen, gibt Semino Beispiele für Werbekampagnen an, die sich nicht durch schema reinforcing, sondern durch schema refreshment kennzeichnen. Sie erwähnt, zum Beispiel, die Werbekampagne von Oliviero Toscani, die für das Modehaus Benetton entworfen wurde.508 Eines der Werbeplakate zeigte einen Priester und eine Nonne, die sich auf den Mund küssen. Semino zufolge bewirkt eine solche Werbung schema refreshment, weil sie neue Verbindungen zwischen bereits existierenden Wissensschemata durch eine starke Abweichung von den Erwartungen der Rezipienten ermöglicht. Dieses Beispiel würde Cooks Plädoyer für schema refreshment als kennzeichnendes Merkmal der Erfahrung der Literarizität widersprechen. Allerdings scheint mir, dass Seminos Kritik an Cook die Grenzen von Cooks Literarizitätsbegriff übersimplifiziert. Toscanis Schockwerbung bezweckte eindeutig schema disruption, d. h. eine starke Abweichung von den kulturellen Erwartungen der Rezipienten durch eine Steigerung des kulturell bedingten Außergewöhnlichen. Dies erregte Aufsehen. Die Schwierigkeit bei der Anwendung des Prinzips der Abweichung liegt darin festzustellen, ob die Folge des schema disruption tatsächlich schema refreshment oder nur die Ablehnung des abweichenden Schemas und daher eine Verfestigung des bereits existierenden Schemas ist. Um dies feststellen zu können, sollte man in der Lage sein, die Frage zu beantworten, wie hoch der Grad der Abweichung von den kulturellen Erwartungen der Rezipienten sein muss bzw. darf, um eine Schemaänderung bzw. ein schema refreshment zu vollziehen. Diese Frage ist in dieser Arbeit schon in Bezug auf Schanks Interestingness angesprochen worden und bleibt bislang ohne Antwort. Unklar bleibt bei Semino, wie Literarizität und schema refreshment zusammenhängen. Semino (1997) zieht gewisse Grade der Literarizität in Betracht. Ich verstehe Seminos Vorschlag so, dass der höchste Grad der Literarizität dann realisiert wird, wenn ein schema refreshment im Sinne Cooks vorhanden ist.509 Dies wirft aber die Frage auf, ob und wie sich ein Grad Null bzw. eine Skala der Literarizität feststellen lässt. Auf mein Beispiel (siehe Frieds Gedicht) übertragen, bedeutet Seminos Auffassung von schema refreshment, dass Frieds Gedicht Literarizität aufweist, weil die Textwelt neue Verbindungen zwischen bereits etablierten Wissensschemata ermöglicht. Wie hoch dieser Grad ist, d. h. wie ‚literarisch' die kognitiven Effekte des literarischen Textes auf die Schemastruktur und auf die Erfahrung des Lesers sind, bleibt unklar. Obwohl Seminos Kritik an Cooks Auffassung von Literarizität teilweise nachvollziehbar ist, sorgt Cook im Gegensatz zu Semino für eine klare Trennung der kognitiven Effekte literarischer Textwelten von nicht-literarischen. Einerseits erweitert der Kompromiss, den Semino eingeht, den Begriff von schema refreshment und dessen Möglichkeiten durch die im Text vorhandenen Korrelate von Wissensschemata, andererseits macht er den Fall undeutlicher, wie sich Literarizität als Ergebnis eines kognitiven Prozesses der Interaktion zwischen den Wissensstrukturen des Lesers und textuellen formal-ästhetischen Eigenschaften messen und analysieren lässt. Trotz nachvollziehbarer Kritik an Cook bleibt seine schematheoretische Auffassung von Literarizität um eine eindeutigere Abgrenzung der Merkmale der Literarizität von ähnlichen Begriffen bemüht. Semino konzentriert sich dagegen fast ausschließlich auf den Begriff schema refreshment und verliert die Auseinandersetzung mit kennzeichnenden Merkmalen der Literarizität aus den Augen.

An dieser Stelle stellt sich die Frage, wie man Cooks Vorschlag in Bezug auf Wissensschemata und auf die Erfahrung der Literarizität seitens des Lesers auf eine thematische Abstraktion anwenden kann. Gewiss nicht auf eine zufriedenstellende Art und Weise. Die Literarizität der thematischen Abstraktion ‚selbstlose Hilfsbereitschaft macht sich bezahlt', zum Beispiel, würde sich nur feststellen lassen, wenn die Analyse der folgenden Schritte möglich wäre, die zur thematischen Abstraktion bei der Textverarbeitung führen: 1) Der Text soll formal-ästhetische Eigenschaften aufweisen, die von dem System ‚Literatur' als kennzeichnend für literarische Texte erkannt und anerkannt werden und die daher als Literatur stiftend gelten; 2) die textuellen formal-ästhetischen Eigenschaften sollen durch das Probehandeln und durch die im Text enthaltenen Schemata die Abweichung von kulturell bedingten Erwartungen des Lesers bewirken. Auf diese Weise sollen sie eine Schemaänderung (schema refreshment) in der Wissensstruktur des Lesers veranlassen; 3) die propositionale Formulierung der thematischen Abstraktion soll eine durch die Verarbeitung des Textes erfolgte Schemaänderung mit moralischer Bewertung zum Ausdruck bringen können. Die thematische Abstraktion ‚selbstlose Hilfsbereitschaft macht sich bezahlt' kann an sich keine Literarizität aufweisen. Sie kann aber einen Grad der Literarizität durch die Art annehmen, wie sie durch formal-ästhetische Eigenschaften des Textes im kognitiven Prozess der Textverarbeitung getriggert wird. Eine wissenschaftliche Methode, um dies nachzuweisen, ist meines Erachtens nicht angewendet worden. Empirische Forschungsstudien konnten zwar ermitteln, wie Lesergruppen auf formale ästhetische Eigenschaften reagieren, wie zum Beispiel van Peers (1986) Studie über foregrounding zeigt, aber sie können nicht feststellen, ob und unter welchen genauen Umständen eine Schemaänderung vollzogen werden kann, die in die Wissensstruktur des Lesers eindringt und langfristig Bestandteil der Wissensstruktur des Lesers bleibt.

Zusammenfassend kann man hier feststellen, dass Cooks Literarizitätsbegriff hauptsächlich an die Grenzen seiner empirischen Überprüfbarkeit stößt.510

 
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