Ästhetisch, literarisch und andere rätselhafte Bestimmungen
Abstract. In diesem Kapitel wird die Frage diskutiert, ob und wie sich eine Verbindung zwischen dem Prozess der ästhetischen Erfahrung und der Erfahrung der thematischen Abstraktion bzw. Bedeutungszuweisung erkennen lässt. Das Kapitel bemüht sich um eine Abgrenzung des Begriffes der ästhetischen Erfahrung von den Begriffen der Literarizität und der literarischen Erfahrung. John Deweys pragmatistische Ästhetik wird in Betracht gezogen. Es wird darauf aufmerksam gemacht, dass im Falle einer thematischen Abstraktion die Analyse der Literarizität und der erlebten ästhetischen Erfahrung nicht allein an der Sprachoberfläche der propositionalen Formulierung der thematischen Abstraktion erfolgen kann.
Ausgehend von kognitiven und psychologischen Voraussetzungen wurde in dieser Arbeit behauptet, dass eine thematische Bedeutung auf die kognitiv-emotionale ästhetische Erfahrung des Lesers zurückzuführen ist. Sie kann als literarisch relevant gelten, wenn sie sich auf die kognitivemotionale ästhetische Erfahrung des Lesers gründet. Kann man diese Erfahrung vor allem in Anbetracht der Arbeiten von Miall und Kuiken mit der erlebten interaktiv hervorgebrachten Literarizität in Verbindung bringen? Auf den ersten Blick scheint dieser Zusammenhang schwer erkennbar zu sein. Er setzt voraus, dass sowohl die Eigenschaften der Literarizität als auch die Eigenschaften einer ästhetischen Erfahrung definierbar sind. Der Begriff ‚ästhetische Erfahrung' besitzt aber Unschärfe. Er gilt in der traditionellen Forschung als rätselhaft.549 Ein Unbehagen ist in der Forschung hinsichtlich der Anwendung des Begriffes ‚ästhetische Erfahrung' zu beobachten. Zur Lippe (1987), zum Beispiel, warnt vor seiner Verwendung, weil der Begriff als abgenutzt und unbestimmt gilt.550 Trotzdem wird er in der hermeneutischen und wirkungsästhetischen Forschung benutzt. Mit ästhetischer Erfahrung ist in den meisten Fällen auch literarische Erfahrung gemeint. Zum Beispiel ist in Bezug auf Iser (1976), Hebel (1979) und Steinmetz (1977) abwechselnd von ästhetischer Erfahrung und literarischer Erfahrung die Rede.551 Literarische Erfahrung steht in diesem Fall für ästhetische Erfahrung.
Iser (1976) hat sich besonders mit dem Begriff der ästhetischen Erfahrung auseinandergesetzt. Er sieht die Funktion der ästhetischen Erfahrung darin, dass das lesende Subjekt gespalten sei dadurch, dass es einen Text und damit die Fremderfahrung, die der Text bietet, vor dem Hintergrund seiner Disposition und Orientierung erfahre. Ein möglicher Effekt sei das Gewinnen von Einsichten in den Erfahrungsprozess mittels der Aktualisierung der von dem Leser realisierten Bedeutung des Textes. Die Bereitschaft des Lesers, sich auf fremde Erfahrungen einzulassen, ist Bedingung für die literarische Erfahrung.552 Steinmetz (1977) sieht, ähnlich wie Iser, das ästhetische Moment im Prozess der Bedeutungskonstituierung impliziert. Das Neuartige, was die ästhetische Erfahrung kennzeichnet, besteht bei Hebel (1979) und Steinmetz (1977) in der Relativierung des Eigenen, in der Erfahrung der Mehrund Vieldeutigkeit der eigenen Wirklichkeit, in der Offenheit gegenüber dem Fremden und Unbekannten. Steinmetz (1977) weist außerdem darauf hin, dass die neue Erfahrung nicht ohne weiteres als Ganzes von dem Leser übernommen wird. Der Leser bezieht das von dem Text angebotene Realitätsmodell und sein eigenes aufeinander, ohne dass er gezwungen wäre, das Literarische an der alltäglichen Welt und dem darin gültigen Wahrheitsbegriff zu messen.553 Für die Dauer der Lektüre ist der Leser bereit, sich auf das Fremde und Unbekannte einzulassen. An dieser Stelle kann man darauf hinweisen, dass sich ein Unterschied zwischen ästhetischer Erfahrung bzw. literarischer Erfahrung im Sinne hermeneutischer und wirkungsästhetischer Forschung und Literarizität kognitiver Prägung abzeichnet: Ästhetische bzw. literarische Erfahrung ist durch ein Moment des Genusses gekennzeichnet, während sich Literarizität auf die Einflüsse der Verarbeitung von im Text angebotenen Realitätsmodellen auf die Wissensstruktur(en) des Lesers durch Probehandeln bezieht. Eine ästhetische Erfahrung ist nach Schram (1991) durch ein Moment ästhetischer Distanz oder Kontemplation gekennzeichnet, das nicht interessenlos ist, jedoch die Hervorbringung des Objekts in der Vorstellung des Betrachters voraussetzt.554 In der Rezeption von Literatur erscheint der Text unzureichend als Objekt der ästhetischen Kontemplation. Der Grund dafür ist simpel. Im Gegensatz zu einem Kunstwerk der bildenden Kunst kann ein literarisches Kunstwerk in keiner Phase seiner Rezeption als ganzes Werk auf einmal zur Erfassung zur Verfügung stehen.555 Berücksichtigt man diese Unterschiede, so kommt man zu dem Schluss, dass ästhetische (bzw. literarische) Erfahrung nicht mit der Erfahrung der Literarizität556 gleichgesetzt werden kann.
Wie kann man diese Beobachtungen auf die Untersuchung einer thematischen Abstraktion anwenden und übertragen? Nach dem jetzigen Stand der Forschung sowohl in der Literaturwissenschaft als auch in den Kognitionswissenschaften können meines Erachtens nur Vorschläge gemacht werden. Bevor ich meine eigenen Vorschläge einführe, werde ich hier wiederholen, was in dieser Arbeit mit thematischer Abstraktion gemeint ist. Eine thematische Abstraktion stellt das Ergebnis der Textverarbeitung dar. Sie kommt durch kognitive Phasen der Informationsselektion,
-verarbeitung und –abschottung bei der Interaktion des Lesers mit dem fiktionalen Text zustande. Der Weg zur Aufdeckung einer thematischen Abstraktion schweißt die verschiedenen einzelnen Phasen der Rezeption eines literarischen Kunstwerkes zusammen.557 Die thematische Abstraktion kann als ein Element angesehen werden, das als das Endergebnis der Rezeption eines literarischen Kunstwerkes gilt. Sie besteht aus einer propositionalen Form und aus einem kognitiv-emotionalen Gehalt, die voneinander zu unterscheiden sind. Die Hervorbringung des emotionalen und moralischen Untertons der thematischen Abstraktion erfolgt nicht auf dem Niveau der propositionalen Formulierung der thematischen Abstraktion selber, sondern sie ist auf dem Niveau des aktivierten nicht-propositionalen Wissens des Lesers zu suchen. Dieses zeichnet sich durch die aktivierte phänomenologische Erfahrung in der Vorstellung des Lesers aus. Die thematische Abstraktion wird durch die formalästhetischen Eigenschaften eines Textes im Prozess der Erfahrung der Literarizität im Leser hervorgebracht. Mit Literarizität ist hier die interaktive Literarizität von Miall und Kuiken gemeint. Anders gesagt: Literarizität betrachte ich als eine Bedingung für die ästhetische Erfahrung bei der Erfassung eines literarischen Kunstwerkes. In der Tat wird die ästhetische Distanz im Falle einer thematischen Abstraktion nicht gegenüber dem Text als Kunstwerk erlebt. Die ästhetische Distanz ist gegenüber dem, was die durch Literarizität begleitete thematische Abstraktion auf dem Niveau emotionaler Erfahrung im Leser hervorgerufen hat. Die emotionsgeladenen Erfahrungen der als Moral formulierten thematischen Abstraktion sind das Objekt der ästhetischen Erfahrung bzw. Kontemplation. Die ästhetische Distanz gegenüber dem subjektiven phänomenologischen Ton einer thematischen Abstraktion kann erfolgen, nachdem die propositionale Form der thematischen Abstraktion durch die Erfahrung der Literarizität zustande gekommen ist. Die kognitivemotionalen Phasen, die der Leser erlebt und mitgestaltet, steuern sie. Diese sind der sprachliche Stil des literarischen Textes, die darauf folgende Reaktion der Verfremdung und schema refreshment durch das Erwecken emotionaler Zustände. Man kann sagen, dass sich ästhetische Erfahrung als solche allein als ein von dem Leser erlebtes Merkmal der Erfahrung der interaktiven Literarizität erweist. Die Schwierigkeit, ästhetische Erfahrung in Hinblick auf die kognitiv-emotionalen Reaktionen des Lesers zu charakterisieren, hat bekanntlich auch das Interesse der neurokognitiven Forschung erweckt. Der Neurowissenschaftler Semir Zeki, zum Beispiel, hat die Neuroästhetik gegründet. Die Neuroästhetik sucht Hirnareale, die während der Verarbeitung eines Kunstwerkes aktiviert werden. Es wird angenommen, dass sie auf neuronaler Ebene sowohl für die Wahrnehmung des Schönen als auch für den ästhetischen Genuss zuständig sind.558 Zekis Neuroästhetik untersucht neuronale Reaktionen auf ‚schön' und ‚hässlich' als Gegenstand der Ästhetik. Das, was als schön wahrgenommen wird, löst im Betrachter bzw. im wahrnehmenden Subjekt ästhetischen Genuss und ein ästhetisches Urteil aus. Dies spiegelt sich in den Aktivitäten des Wahrnehmenden wider.559 Allerdings scheint in der Forschung die Erkenntnis Resonanz gefunden zu haben, dass sich Kunst nicht durch das Prinzip des Schönen, sondern durch das Prinzip des Interessanten bzw. der Interessenerregung kennzeichnet, wie auch Breidbach (2003)560 deutlich macht.561 Auch die Neuroästhetik scheint sich dafür zu interessieren, wie Interessenerregung und die Aktivierung von Hirnarealen zusammenhängen. V. S. Ramachandran & Hirstein (1999) bringen das Prinzip des Schönen mit dem Prinzip des Außergewöhnlichen bei einer ästhetischen Erfahrung in Verbindung. Die beiden Autoren gehen davon aus, dass Kunst (vor allem visuelle Kunst) durch die übertriebene Verformung einiger Züge des dargestellten Objekts das Kunstwerk interessant und anziehend macht.562 So vielversprechend die Neuroästhetik zu sein scheint, so einseitig ist sie. Indem sich die Neuroästhetik darauf konzentriert, die verallgemeinernde Rolle des Gehirnes in den Vordergrund zu stellen, übersieht diese Forschungsrichtung die facettenreiche Funktion der Interaktion zwischen kognitiv agierenden Wahrnehmenden und Kunstobjekten. An Ramachandran & Hirstein (1999) kritisiert Miall (2006) in Anbetracht der Interessenschwerpunkte der Literaturwissenschaft vor allem die Tatsache, dass in ihrer Studie die Rolle der Emotionen bei einer ästhetischen Erfahrung außer Acht gelassen wird. Im Prozess der Erfahrung der Literarizität sind Emotionen aber ausschlaggebend. An Semir Zekis Auffassung von ästhetischem Genuss ist nach Miall Zekis Behauptung zu kritisieren, dass Kunst nach dem Schönen und daher nach dem Konstanten und Dauerhaften suche. Sowohl die Studie von Ramachandran & Hirstein (1999) als auch Zekis Neuroästhetik563 sind in Hinblick auf literarische Kunstwerke irreführend, denn nach Miall (2006) sind Emotionen und die Einzigartigkeit der durch die Interaktion mit dem Text evozierten individuellen Erfahrungen des Lesers bei der Erfahrung des Lesens literarischer Kunstwerke entscheidender.564 Trotz aller interdisziplinären Bemühungen, um ästhetische Erfahrung zu erfassen, beobachtet auch Habeck (2001), dass Kunsttheorien der ästhetischen Erfahrung meistens nicht dazu geeignet seien, literarische Phänomene zu analysieren. Sie bekommen die bedeutungshafte Seite literarischer Kunst nicht in den Blick, denn sie sind an den Raumkünsten entwickelt worden.565 Vor diesem Hintergrund soll an dieser Stelle erneut die leitende Frage dieses Kapitels gestellt werden: Wie kann der Zusammenhang zwischen einer thematischen Abstraktion, die durch das Ergebnis der kognitiven Prozesse der Literarizität eine Schemaänderung vermitteln soll, und einer ästhetischen Erfahrung erhellt werden? Im Folgenden soll diese Frage in drei Schritten beantwortet werden. Zuerst soll auf John Deweys Begriff der ästhetischen Erfahrung eingegangen werden. Anschließend werden Jauß' (1982) und Isers (2006) Interpretationen von Deweys Arbeit berücksichtigt. Dabei soll besonders dem Begriff ‚Erfahrung' in der Interaktion des Subjekts mit seiner Umwelt Aufmerksamkeit geschenkt werden. Deweys Ansichten sollen als Übergang zu den kognitiven Voraussetzungen für die Beschäftigung mit den Begriffen ‚ästhetische Erfahrung' und ‚literarische ästhetische Erfahrung' fungieren, die Kuiken u.a. (2004) entwickelt haben. Kuiken u.a. (2004) haben deutlich gemacht, dass einer literarischen ästhetischen Erfahrung der Prozess der Apperzeption zugrunde liege. Apperzeption kann in Anlehnung an Lipps (1923) 566 als der Prozess bezeichnet werden, während dessen der Rezipient seine Aufmerksamkeit auf seine eigenen Empfindungen, Wahrnehmungen, Vorstellungen lenkt und sie auf sich selbst richten lässt. Vor diesem Hintergrund möchte ich im Falle einer thematischen Abstraktion festhalten, dass der literarische Text durch seine formal-ästhetischen Eigenschaften die Fähigkeit hat, Empfindungen und Vorstellungen bzw. emotionale Erfahrungen zu erwecken und daher eine bestimmte Wirkung im Leser hervorzurufen, die die Züge der „Apperzeption“567 hat bzw. haben könnte. Der literarische Text bleibt daher allein Träger eines Triggers.568 Im Folgenden soll auf Deweys Begriff von ästhetischer Erfahrung und dessen Gemeinsamkeiten mit dem Begriff der Verkörperung (embodiment) eingegangen werden.