EU-System, Medialisierung und Optionen des Medienzugangs
Es ist unverkennbar, dass gemäß des Multilevel-Governance-Ansatzes nationale politische Autoritäten nicht obsolet geworden sind (Eising 2008: 10; Ruzza 2006). Einige NGOs adressieren die Entscheidungsträger in den EU-Staaten direkt, die Mehrheit verortet diese Aufgabe aber bei den Mitgliedern und das, entgegen der Annahme von Ruzza (2006), meist ohne erhebliche Koordinierungsund Mobilisierungsleistung seitens der NGO. Vielmehr herrscht eine arbeitsteilige Struktur vor: Das EU-Sekretariat adressiert Entscheidungsträger in Brüssel, die Mitglieder die nationale Ebene. Auch wirkt sich die große Bedeutung der Interaktion mit politischen Autoritäten nicht negativ auf die kommunikative Rückkopplung mit den Mitgliedern aus.
Die in Kapitel 7.1 und 7.2 erläuterten Faktoren „Politische Gelegenheitsstruktur“ und „Nähe zu Entscheidungsträgern und -prozessen“ wirken dennoch eindeutig auf die NGOs. Der Faktor räumliche Nähe wurde durch die Fallauswahl konstant gehalten und die Interviewpartner bestätigen dessen Bedeutung für die effektive Interaktion mit Entscheidungsträgern. Ferner sind alle advocacy-treibenden NGOs, nicht nur im Zuge ihrer Akkreditierung, zu den Insidern zu zählen, was ihnen einerseits die Interessenvermittlung erleichtert und sich andererseits – wie vermutetet – im Fokus auf Elitestrategien äußert. Eine starke Orientierung an politischen Autoritäten bzw. deren Arbeitsroutinen ist erkennbar. Diese ist aber, ebenso wie die große Bedeutung politischer Entscheidungsträger und die vorherrschenden Interaktionsmuster, größtenteils nicht auf den Professionalisierungsgrad zurückzuführen. Die Ergebnisse stehen im Einklang mit den Resultaten von Kohler-Koch und Buth (2011: 170), welche neben dem Einflussfaktor Organisationsstruktur, in Gestalt der Mehrebenenorganisation der NGOs, auf die prägende Kraft ihres institutionellen Umfelds hinweisen. Die Wirkkraft des Faktors „Politische Gelegenheitsstruktur“, der dazu führt, dass die Organisationen im EU-Kontext seltener auf traditionelle zivilgesellschaftliche Formen der Einflussnahme zurückgreifen, kann auf Basis der vorliegenden Daten eindeutig bekräftigt werden. In Konsequenz der wahrgenommenen besseren Wirksamkeit elitebasierter Einflussnahme und der fehlenden europäischen Öffentlichkeit initiiert keine NGO (regelmäßig) öffentliche Proteste bzw. verfolgt primär öffentlichkeitsund unterstützerbasierte Einflussnahmestrategien. In dieser Beziehung kann die Argumentation von Marks und McAdams (1999) sowie von Frantz (2007) untermauert werden. Zugleich ist nicht erkennbar, dass weniger professionalisierte Organisationen stärker in klassischen zivilgesellschaftlichen Handlungsmustern der Einflussnahme verhaftet sind.
Wirkungszusammenhänge, wie sie in der Medialisierungsthese formuliert werden, scheinen für auf EU-Ebene ansässige NGOs nicht in vermutetem Maße zu greifen. Nur für circa 1/3 der untersuchten Organisationen sind die Medien eine Zielgruppe, weniger als die Hälfte sehen sie als Adressaten der Interessenvermittlung. Die große Bedeutung der Anpassung an die massenmediale Handlungslogik, um die interessenpolitische Wirkung zu steigern, ist nicht zu erkennen. Für die Mehrheit ist dies kein wesentliches Anliegen und lediglich von einem Bruchteil werden dahingehend systematische Versuche unternommen. Zudem greifen die NGOs meist nur auf themenspezifische Fachpresse oder EUMedien zurück, um direkt Vertreter der EU-Institutionen, als deren vorrangige Leserschaft, zu erreichen.
Folglich ist der Einfluss des Faktors Medienzugang ambivalent einzuschätzen. Die NGOs finden, nach eigenen Angaben, (zumindest manchmal) Eingang in die Brüsseler Presse. Sie werden in einigen Fällen sogar von den Medienvertretern in ihrer Rolle als Experten für spezifische Themen kontaktiert. Trotzdem ist die Anzahl der EU-Medien begrenzt und die Zahl der NGOs, die versuchen ihre Themen zu platzieren hoch. Die NGO-Vertreter sind sich dieser Situation bewusst und begründen damit mangelnde Bestrebungen in Richtung Massenmedien. Indessen scheint die Frage des medialen Zugangs (siehe Kapitel 7.6) mit Referenz auf die Rezipienten der Medienformate fehlgeleitet, da mediale Aufmerksamkeit in diesem Fall selten in öffentlicher Aufmerksamkeit resultiert. Die Zuständigkeit für die in dieser Angelegenheit relevanteren, nationalen Medien wird aber in erster Linie bei den Mitgliedern verortet. Es zeigt sich, dass wegen der adressierten Zielgruppe die „Optionen des Medienzugangs“ für die untersuchten NGOs untrennbar mit der „Politischen Gelegenheitsstruktur“ verbunden sind. Die Frage, welcher Faktor die Wahl der Einflussnahmestrategie, aber auch die Linkage-Leistung insgesamt stärker beeinflusst, die Besonderheiten der Entscheidungssysteme auf EU-Ebene oder der fehlende mediale Zugang der NGOs, kann daher an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Nicht zuletzt deshalb liegt jedoch die Vermutung nahe, dass die Charakteristika des EU-Systems als intervenierende Variable wirken und sowohl die Professionalisierung, als auch die Linkage-Leistung beeinflussen.