Die Idee der abgestuften Integration
Die Idee der abgestuften Integration ist nicht neu (vgl. Grabitz und Franzmeyer 1984; Breuss und Griller 1998; Herz und Hill 2007; Maurer 2007; Schäfer 2007; Keutel 2012a, b). Sie tauchte vor allem in Krisenzeiten auf und wurde in solchen auch von prominenten PolitikerInnen und Intellektuellen vertreten. Aber auch in jüngerer Zeit wird die Idee wieder ventiliert, so von Angela Merkel („Europa der zwei Geschwindigkeiten“) oder von Guy Verhofstedt („konzentrische Kreise“). Von anderen wird diese Idee aber auch kritisiert als ein fragwürdiges „Europa à la carte“, wo sich jedes Mitgliedsland die Rosinen herauspicken könne; es werde damit die Grundidee der umfassenden und solidarischen Integration Europas in Frage gestellt.
Die faktische Integration der EU entspricht in wichtigen Aspekten aber tatsächlich der Idee der abgestuften Integration. Beispiele sind das Schengener Abkommen von 1997, das zunächst von einigen Mitgliedsstaaten ohne Einbezug der EU beschlossen und 1997 in den Vertrag von Amsterdam eingeschlossen wurde; die ständige Zusammenarbeit im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheitsund Verteidigungspolitik; und vor allem die Europäische Währungsunion, der Großbritannien, Dänemark und Schweden nicht beigetreten sind. Im Vertrag von Amsterdam wurde eine spezifische Form abgestufter Integration, die „verstärkte Zusammenarbeit“ zwischen einer Untergruppe von mindestens neun Mitgliedsstaaten, sogar institutionalisiert; de facto wurde diese Möglichkeit aber noch kaum in Anspruch genommen. Ich folge hier jenen Autoren, welche die Idee der abgestuften Integration befürworten als eine sinnvolle Strategie und Möglichkeit, sowohl der Heterogenität Europas wie auch der Sinnhaftigkeit von Integration in bestimmen Bereichen gerecht zu werden (vgl. auch Schäfer 2007, S. 476). Man kann vier Formen abgestufter Integration unterscheiden (Maurer 2007): a) Eine rechtlich-vertraglich abgesicherte Form der Zusammenarbeit bzw. Integration, wie in der Währungsunion; diese kann auch negativ entstehen, durch opting-out eines oder mehrerer Staaten; b) durch verstärkte Integration geographisch-regional fokussierter Gruppen; c) als frei schwebende Funktionsverbünde oder ad-hoc Koalitionen zur Durchsetzung bestimmter Ziele; d) als „Lenkungsgruppen“, wobei meist wenige größere Staaten zusammenarbeiten, so insbesondere die Achse Deutschland-Frankreich.
Hinter den folgenden Überlegungen steht die Idee einer abgestuften Integration, welche vor allem die erste, zum Teil aber auch die zweite Kategorie einschließt, also eine vertraglich-institutionelle Form der Zusammenarbeit, welche auf geographisch-regionale Zugehörigkeit abstellt. Es wird ein Modell von drei Untergruppen oder konzentrischen Kreisen vorgeschlagen: 1) Kerneuropa, das die sechs Gründungsmitglieder der EU und vielleicht noch einige weitere, benachbarte Staaten einschließt, die auch den Euro übernommen haben; 2) die weiteren EU-Mitgliedsstaaten sowie die durch bilaterale Verträge sehr eng mit der EU verflochtene Länder (Norwegen, Schweiz); 3) Staaten außerhalb der EU, die entweder eindeutig zum geographischen Raum „Europa“ gehören (wie Russland), oder für welche Europa der mit Abstand wichtigste ökonomische und politische Partner ist (wie die nordafrikanischen Staaten). Im Hinblick auf die weitere institutionelle Entwicklung wird die These vertreten, dass für Kerneuropa noch in mancher Hinsicht Vertiefungen notwendig, in anderer jedoch – genauso wie für die gesamte EU – eher Rücknahmen bestimmter Aspekte der Integration geboten sind. Für den erweiterten „Großraum Europa“ wären jedoch zusätzliche Integrationsschritte notwendig.