Die Staatsschuldenkrise und das Auseinanderdriften von Zentrum und Peripherie

In der Europäischen Union kann in den letzten Jahren ein zeitlich verdichteter Verlauf der Einbindung neuer Mitgliedsstaaten beobachtet werden, der anfangs wirtschaftlich und nach Vollendung des Binnenmarkts mit den vier Freiheiten (Waren, Dienstleistungen, Kapital und Personen) auch stark politisch motiviert war (vgl. Bayer et al. 2005, S. 343 ff.). Die rasche Eingliederung neuer europäischer Länder in die EU ging jedoch mit einem Vertrauensverlust zwischen den Mitgliedsländern einher, wie Delhey (2010) in einer empirischen Studie nachweist. Durch die Osterweiterung hat sich folglich „die Schwere zwischen Systemund Sozialintegration geöffnet“ (Delhey 2010, S. 207). Insgesamt scheinen sich die Fronten zwischen Geberund Empfängerstaaten von Transferzahlungen, zwischen Sphären verstärkter Zusammenarbeit gepaart mit starken Interessensverflechtungen und neuen Konkurrenzbeziehungen zu verschärfen. Als übergeordnete Theoriestränge lassen sich im Kontext der europäischen Integration vorrangig Zentrum-Peripherie-Modelle anwenden. Die EU könnte als Spannungsfeld beschrieben werden, das durch eine Konzentration der Kräfte im Zentrum und eine Kräftezersplitterung an der Peripherie gekennzeichnet ist. In den inneren Zentren liegt die Entscheidungshoheit, die nach außen (in die Randgebiete) schwer kommunizierund vermittelbar bleibt (vgl. Kreckel 1992, S. 42). Vobruba (2007), der die Dynamik der europäischen Integration zwischen stetiger Vertiefung und Erweiterung thematisiert, sieht die Entwicklung der EU als Muster konzentrischer Kreise. Nicht zuletzt deshalb ist der Profit der Mitgliedschaft in der EU schwierig vermittelbar, weil sich soziale Klassen, Altersgruppen, Regionen und Industriesektoren in einem unterschiedlichen Sog der Einflüsse befinden (vgl. Offe 2001, S. 431). Die markantesten Demarkationslinien sind sozialstrukturelle Unterschiede, also die Asymmetrien zwischen Städten und ländlichen Regionen sowie das Wohlstandsgefälle zwischen einzelnen Staaten. Ökonomische Disparitäten gewannen durch die Osterweiterung der EU deutlich an Gewicht und erhielten durch die sich verschärfende Nord-SüdDiskrepanz im Zuge der Wirtschaftskrise neue Brisanz. Wie aktuelle Arbeiten im Kontext der Wirtschaftskrise herausstreichen, hat die EU der zunehmenden Erweiterung und Integration stets Priorität verliehen und erst im Nachhinein entsprechende Schritte gesetzt, um notwendige institutionelle Reformen durchzuführen. Ein folgenreiches Beispiel, das relativ übereinstimmend als Hauptauslöser der derzeitigen Krise genannt wird, ist die Verwirklichung der Währungsunion. Der Begriff des Euromonetarismus, der von Bach (2008) gebraucht wird, umschreibt die dominante Ausrichtung der Währungspolitik als maßgebliches Bestimmungsmerkmal europäischer Wirtschaftspolitik. Die Priorität der Preisniveaustabilität führt in den Peripherien zu Wachstumsschwäche und einer Verschärfung von Arbeitslosigkeit. Die rigiden Vorgaben der Haushaltspolitik, die den Krisenstaaten aufoktroyiert werden, schränken den nationalen Spielraum für arbeitsmarktunterstützende und sozialpolitische Maßnahmen drastisch ein und verschärfen die Ungleichheitsdynamik weiter. In seinem Bestseller „Gekaufte Zeit“ ist die zentrale These Streecks (2013), dass die Politik seit den 1970er Jahren auf die Krise des Kapitalismus mit dem „Kaufen von Zeit mit Hilfe von Geld“ (Streeck 2013, S. 15) reagiert. Mit Kreditvergaben nach Schaffung der Währungsunion wurde ein letztes Mal Zeit gekauft, bis die Finanzkrise dieser Strategie ein Ende bereitete. Durch die budgetäre Notlage in vielen Staaten verschärfen sich nun die Konflikte zwischen den europäischen Mitgliedsstaaten. Hilfsgelder werden von den Einwohnern der Nettozahler-Staaten als „Fass ohne Boden“ interpretiert, während die Bevölkerung in den südlichen EU-Ländern der Ansicht ist, die Last der zu leistenden Reformen ungerechtfertigt tragen zu müssen. Mit dem Euro verketten sich die Länder zu einer Schicksalsgemeinschaft, und die gesamte wirtschaftspolitische Agenda der nächsten Jahre bleibt auf die Rettung der gemeinsamen Währung beschränkt.[1] Die EU unterwirft sich somit quasi dem Diktat der Finanzmärkte und ordnet die Marktgesellschaft der Marktökonomie unter, während die BürgerInnen ungeschützt der Marktdynamik ausgeliefert sind. Eine drastische Folge davon ist die Verschärfung von sozialer Ungleichheit im gesamteuropäischen Maßstab (vgl. Bach 2008, S. 32 ff.). Obwohl weltweit betrachtet die zwischenstaatlichen Ungleichheiten im Abnehmen begriffen sind (vgl. Firebaugh 2003), zeigt sich in Europa eine Verschärfung struktureller Spannungen sowohl zwischenstaatlich als auch innerstaatlich (z. B. Fredriksen 2012). Häufig wird zwischen Modernisierungsgewinnern (UnternehmerInnen und hochflexible, hochgebildete Arbeitskräfte), dem verunsicherten Mittelstand und kurzoder langfristigen Verlierern unterschieden. Die neuen Dynamiken auf der sozialen Stufenleiter ziehen auch auf kultureller Ebene Polarisierungen nach sich. Es zeigt sich häufig, dass einkommensund bildungsschwache Gruppen und Angehörige strukturschwacher Gebiete lokal und national verwurzelt bleiben, während sich gesellschaftliche Eliten zunehmend in einem transnationalen Raum bewegen, wobei die Bedeutsamkeit der transnationalen und kosmopolitischen Lebensstile als Motor für eine europäische Identifikation und Identität noch nicht eindeutig abschätzbar ist (vgl. Bach 2008, S. 10).

  • [1] Insofern ist die veritable Eurokrise ein Paradebeispiel für ein unreflektiertes und vorschnelles politisches Handeln, wobei die wirtschaftliche Dynamik dieser Maßnahme die EU im Zuge der Finanzkrise quasi überrollt und vor kaum lösbare Probleme gestellt hat
 
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