Kulturelle Folgen – Identifikationsprozesse bei den EUBürgerInnen

Analysiert man die europasoziologischen Arbeiten, die sich auf die Ausformungen der europäischen Gesellschaft konzentrieren, so ist auch bei den Identitätsansätzen eine Lagerbildung zwischen den SkeptikerInnen und den BefürworterInnenn einer kulturellen Europäisierung zu konstatieren. Während die OptimistInnen die Chancen einer nachgeordneten Sozialintegration bei einer Vertiefung der politischen Integration betonen, vertreten die PessimistInnen stärker die Ansicht, dass gerade die zunehmende Integration auf der Systemebene die Identifikation mit Europa verhindert und Renationalisierungstendenzen im Kontext der Krise an Bedeutung gewinnen könnten (vgl. Eigmüller und Mau 2010, S. 11).

Eine Europasoziologie, die auf die lebensweltliche Integration gerichtet ist, sollte danach trachten, die Perspektive „der Leute“ (Vobruba 2009) einzunehmen:

Indem die Soziologie die Beobachtungen, Interpretationen und Handlungen der Leute selbst beobachtet und interpretiert, dies also als ihre Empirie aufnimmt, schließt sie an den Realitätszwang der Leute an und entgeht so der Gefahr, in Beliebigkeiten der eigenen Begriffsbildung unterzugehen. (Vobruba 2010, S. 435),

Eine mikrosoziologische Betrachtung der europäischen Integration muss deshalb stets empirisch offen und differenziert nach gesellschaftlichen Gruppen vorgehen. Im Sinne einer positiven Beziehung bildet sich nachgeordnet zur Institutionenbildung eine europäische Bewusstseinsbildung aus. Im Sinne einer fehlenden Beziehung bleibt die Bevölkerung indifferent gegenüber der EU und im Sinne einer negativen Beziehung kollidiert die Bewusstseinsentwicklung mit der Institutionenentwicklung (vgl. Vobruba 2010, S. 448). Es ist auch plausibel, dass alle drei Prozesse gleichzeitig ablaufen. Wenn soziale Gruppen Sachverhalte national oder europäisch rahmen, sind damit unterschiedliche Motivlagen, Interessen, Einstellungen und Handlungsorientierungen verbunden (vgl. Vobruba 2008, S. 34). Bei allem Enthusiasmus für ein vernetztes Europa zeigen aktuelle Entwicklungsten- denzen, dass Wunschvorstellungen einer normativ orientierten Soziologie (z. B. Beck 2005) und einer Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft, die auf Basis empirischer Erkenntnisse arbeitet, weit auseinanderdriften. So schreibt beispielsweise Ulrich Beck (2005):

Wenn es eine Idee gibt, die die Europäer heute einen könnte, dann ist es die eines kosmopolitischen Europas, weil diese den Europäern die Angst vor Identitätsverlust nimmt, die konstitutionelle Toleranz im Umgang der vielen europäischen Nationen miteinander zum Ziel erhebt und zugleich neue politische Handlungsräume in einer globalisierten Welt eröffnet. (Beck 2005, S. 12).

Während zahlreiche EuropasoziologInnen ähnliche Plädoyers für ein Europa jenseits des Nationalstaats bekunden, scheint die Sichtweise Immerfalls (2013) auf Basis empirischer Untersuchungen der Lebensrealität der BürgerInnen stärker zu entsprechen.[1]

Die zunehmende Sichtbarkeit der EU in der Lebenswirklichkeit der Bürger birgt die paradoxe Entwicklung, dass auch Anti-EU-Einstellungen sichtbarer werden. Die EU wird gerade nicht selbstverständlicher, sondern es bilden sich in nicht wenigen Ländern national-populistische Stimmungen heraus. (Immerfall 2013, S. 17),

Es soll nun diesen Tendenzen nachgespürt werden, wobei im Zentrum der Analyse steht, welche kulturellen Folgen ökonomische und politische Handlungsimperative der europäischen Integration zeitigen und inwiefern die angesprochenen Systemmechanismen destruktiv auf die Lebenswelt zurückschlagen und Formen einer Kolonialisierung und Entkoppelung einnehmen. Dabei ist es jedoch nötig, sich die grundlegenden Thesen aus dem breiten Oeuvre von Habermas nochmals in Erinnerung zu rufen.

  • [1] Gerade aufgrund der polarisierenden Haltungen, die sich auch zwischen gesellschaftlichen Schichten unterschiedlich manifestieren, sollten nationalstaatliche Konzeptionen der Soziologie nicht bedingungslos als veraltet eingestuft werden. Denn solange die Gesellschaft von den BürgerInnen überwiegend nationalstaatlich gerahmt wird, repräsentiert die Suche nach neuen transnationalen Gesellschaftsbegriffen ebenfalls ein wissenschaftliches Elitenprojekt, das, abgehoben von der Mehrzahl der BürgerInnen, vorangetrieben und deren Lebensrealität nicht gerecht wird. Damit soll die Relevanz der Transnationalisierungsforschung (z. B. Pries 2008) keinesfalls bestritten werden. Eine Mikroperspektive, die sich mit den Perspektiven der Leute (z. B. Vobruba 2009) auseinandersetzt, kann durchaus den Nationalstaat wählen, während die europäische Sozialstrukturanalyse und systemisch orientierte Makroperspektiven nicht mehr ohne transnationale Bezugsebenen auskommen. Je nach Forschungsinteresse sollten geeignete Analyseeinheiten ausgewählt werden
 
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