Die aktuelle Relevanz von Habermas – Kolonialisierung und Entkoppelung einer individualisierten Lebenswelt

Seit der Jahrtausendwende wirft die Individualisierung – die ursprünglich weitgehend als neutrales Phänomen gedeutet (z. B. Beck 1986) und in optimistisch gefärbten Zeitdiagnosen Eingang gefunden hat (z. B. Schulze 1992) – einen langen Schatten auf die Lebensgestaltung. Erweitere Optionen werden als Entscheidungszwänge und Freisetzungstendenzen als Entsicherungen (Heitmeyer 2012) umgedeutet. Es kommt auch im deutschsprachigen Raum zu einer Renaissance der Klassendiskussion. Einen Wendepunkt markiert beispielsweise Castel (2000), der die Wiederkehr der sozialen Unsicherheit besonders einprägsam mit drei Typen der Beschäftigung beschreibt. Die Zone der Integration (Normalarbeitsverhältnisse) verringert sich zunehmend, während die Zone der Prekarität im Steigen begriffen ist. Darunter fallen heterogene Arbeitsformen, deren gemeinsames Merkmal die fehlende dauerhafte Existenzsicherung ist. Prekäre Arbeitsformen reichen von Leihund Zeitarbeit über erzwungene Teilzeitbeschäftigung bis zur Solo-Selbständigkeit. Schließlich existiert auch eine immer größere Zone der Entkoppelung, die dauerhaft vom Arbeitsmarkt Exkludierte umfasst. In der aktuellen Individualisierungsdebatte ist somit mehr denn je eine sozialstrukturell angemessene Debatte erforderlich. So argumentiert beispielsweise Koppetsch (2010): „Paradoxerweise führt das Ideal individualisierter Lebensführung heute, anders als in der Prosperitätsphase der Bundesrepublik, nicht mehr aus der Klassengesellschaft heraus, sondern trägt, im Gegenteil, zur Rückkehr klassengesellschaftlicher Strukturen und Lebensformen im neuen Gewand bei.“ (Koppetsch 2010, S. 225)

Die Versprechungen der Individualisierung werden somit zu einem Privileg höherer Schichten, die den zur allgemeinen Norm erhobenen Anspruch auf eine selbstverantwortliche Lebensgestaltung in materieller Hinsicht erreichen und im individuellen Lebensstil einlösen können.[1] Gerade das gesamtgesellschaftliche Ideal dieser Lebensführung bewirkt jedoch mangels Realisierungschancen für benachteiligte Gruppen neuartige Flugbahnen negativer Individualisierung, die von hohen psychischen und sozialen Kosten begleitet sind (vgl. Koppetsch 2010, S. 226). Die Wiederkehr sozialer Unsicherheit (vgl. Castel 2009) treibt also Risse durch die Mitte der Gesellschaft und führt zu zunehmenden gesellschaftlichen Spaltungstendenzen. Kosmopolitisch orientierte Eliten werden zu den Trägern der Europäisierung. Dazwischen steht die zögernde und verunsicherte Masse, die einerseits nach Anpassung strebt und sich andererseits an die Sicherheit des Nationalstaats klammert, während die Modernisierungsverlierer den Verlust nationaler Solidarität als Bedrohung einstufen (vgl. Münch 2001, S. 211).

Die Brisanz des e dernisierun ntstehenden Unbehagens ergibt sich gerade aus diesem Zusammenspiel zwischen Prekarisierung auf der einen (Seite) und Subjektivierungsdynamiken auf der anderen Seite. Denn Arbeit und Leistung wird auf allen gesellschaftlichen Ebenen aufgewertet. Beruflicher Erfolg wird zu einem knappen Gut und stellt die tragfähigste Basis zur Selbstverwirklichung dar (vgl. Hardering 2011, S. 174). Es bleibt einem gar nichts anderes übrig, als sich egoistisch den Weg durch die Masse an Konkurrenten zu bahnen und das Handeln „kühl und rational nach persönlichem Vorteil und persönlichem Nutzen (Heitmeyer 1994, S. 397) auszurichten. In Bezugnahme auf Habermas (1981a, b) könnte man durchaus festhalten, dass Systemzwänge und die Dominanz der Marktlogik in den am Wettbewerb erfolgreich teilnehmenden Individuen gespiegelt werden und somit die Systemrealität destruktiv auf die Lebenswelt zurückschlägt. Das moralische Fundament gerät ins Wanken und die Verfechter einer moralischen Erneuerung der Gesellschaft (z. B. Etzioni 1995; Putnam 2000) kämpfen vielfach auf verlorenem Posten, weil einerseits das Rad der Zeit nicht zurückgedreht werden kann und andererseits die mächtigen ökonomischen Steuerungsinstanzen das Geschehen bestimmen.

Die Kolonialisierungsthese spiegelt sich also gegenwärtig in der Ökonomisierung des Sozialen wider, während Entkoppelung nach Habermas (1981a, b, S. 488) „in einer elitären Abspaltung der Expertenkulturen von den Zusammenhängen kommunikativen Handelns“ ihren Ausdruck findet. In Anlehnung an Nahles (2012) können vier Ebenen der Entkoppelung zwischen Politik und BürgerInnen konstatiert werden. Die politische Sphäre verliert an Legitimation, weil nationalen und supranationalen politischen Institutionen eine fehlende Wirkmächtigkeit im Kontext der globalen Spielregeln der Ökonomie unterstellt wird. Die Komplexität der ökonomischen Wirkungen ist für die Bevölkerung nicht vermittelbar und bleibt unverständlich. Somit erscheint die Politik unfähig und rein von den Märkten getrieben. Die traditionelle Parteienlandschaft wird im Kontext einer bunten und hochgradig individualisierten und pluralisierten Lebenswelt als nicht mehr zeitgemäß interpretiert. PolitikerInnen werden als starre Eliten wahrgenommen, die sich für neue flexible und wandelbare Formen der gesellschaftlichen Partizipation wenig empfänglich zeigen (vgl. Nahles 2012, S. 94 ff.). All diese Prozesse führen dazu, dass sich BürgerInnen und PolitikerInnen immer mehr aus den Augen verlieren und Verbindungen zwischen Politik und Lebenswelt brüchig werden. Nach Boeser und Schnebel (2013) führt dies zu einem Teufelskreislauf. Denn auch die PolitikerInnen vollziehen von ihren Wählern, sie agieren abgehoben von der Bevölkerung und spüren den fehlenden Rückhalt. Umgekehrt werden ihnen fehlende Perspektiven und Ideale unterstellt, und sie werden als Marionetten ohne Rückgrat wahrgenommen (vgl. Boeser und Schnebel 2013, S. 54 ff.).

Nach Crouch (2008) kann die Demokratie „nur dann gedeihen, wenn die Masse der normalen BürgerInnen wirklich die Gelegenheit hat, sich durch Diskussionen und im Rahmen unabhängiger Organisationen aktiv an der Gestaltung des öffentlichen Lebens zu beteiligen – und wenn sie diese Gelegenheiten auch aktiv nutzt.“ (Crouch 2008, S. 8 f.). Aus seiner Sicht verkommen in einem Zeitalter der Postdemokratie aktuelle Wahlen zu einem öffentlichen Theater, PR-ExpertInnen bestimmen und lenken die Themen, die Mehrheit der BürgerInnen sieht dem politischen Treiben apathisch zu. „Im Schatten dieser Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht.“ (Crouch 2008, S. 10), wobei vor allem die Interessen der Eliten und Wirtschaftstreibenden berücksichtigt werden. Nachtwey (2012) nennt weitere Beispiele, die auf postdemokratische Tendenzen hindeuten. Nationalen PolitikerInnen werden Entscheidungen nach ökonomischen Maßstäben aufoktroyiert (z. B. durch Rating-Agenturen), und transnationale Wirtschaftseliten diktieren, wer regieren darf.[2] Es scheint sich also durch die Wirtschaftskrise zunehmend eine Krise des politischen Systems abzuzeichnen, weil das Klima demokratischen Vertrauens nachhaltig gestört ist. Dies betrifft nicht nur die Nationalregierungen sondern insgesamt die EU, sie wurde jüngst in einer ländervergleichenden Forschung des Pew Global Attitudes Projekt (2013) als „New Sick Man of Europe“ bezeichnet.

Die Lesart des/der entkoppelten BürgerIn weist – aus einer Mikroperspektive betrachtet – auf die zweite Dimension des Dreigestirns der Individualisierungsdynamik (Freisetzung – Entzauberung – Reintegration) (vgl. Beck 1986) hin. Es geht um die Entzauberung von zentralen Institutionen der Moderne, die über lange Zeit allgemein verbindliche gesellschaftliche Normen und Werte garantiert haben. Nicht nur die Parteien sondern zahlreiche Interessenverbände wie Gewerkschaften sind mit Vertrauensverlusten und Mitgliederschwund konfrontiert. Die BürgerInnen stehen den rasanten und unvorhersehbaren Veränderungen teilnahmslos gegenüber, sie erleben sich als ZuschauerInnen in einem fremdbestimmten Wandlungsprozess. Die breite Unzufriedenheit, die aufgrund der fehlenden Einflussmöglichkeiten kursiert, bedingt das Erstarken neuer Protestparteien. Auch das europaweite Erstarken des Rechtspopulismus und die Hinwendung zu rückwärtsgewandten Ideologien und zu scheinbar einfachen Rezepten zur Lösung der Krise kann aus den Ohnmachtsgefühlen abgeleitet werden.

Die Dimension des entkoppelten Selbst in einer eingeläuteten Ära der Postdemokratie (Crouch 2008) tangiert besonders die Spannung zwischen Individualisierung und Integration. Die Bindungen zu den klassischen Institutionen und Vergemeinschaftungsformen (von Parteien über Verbände und Vereine bis hin zu Kirchengemeinden, Nachbarschaft und Familie) werden zunehmend aufgebrochen. Dennoch muss betont werden, dass die Freisetzung der Individuen und die damit einhergehende Abschwächung der Bindung an Institutionen nicht zwangsläufig zu einer Vereinzelung des Individuums führt. Beck (1986) hat in seinen unzähligen Ausführungen zur Individualisierungstheorie stets betont, dass neben Individualisierung auch Tendenzen der Wiedereinbindung und neue sekundäre Vergemeinschaftungsprozesse zu beobachten sind. Individualisierung und gesellschaftliche Partizipation widersprechen sich nicht, nur ist diese in ein neues Gewand gekleidet. Dies wird beispielsweise an unkonventionell agierenden sozialen Bewegungen sichtbar. Dieser formieren sich kurzfristig, organisieren sich häufig über neue Medien und wählen den direkten Weg der politischen Einmischung abseits der als zäh und unwirksam wahrgenommenen Kanäle politischer Parteibildung. Die Welt der politischen Institutionen scheint zugunsten einer Welt der politischen Alltagspraxis (Beck 1993, S. 155) an Boden zu verlieren.

  • [1] Dabei ist jedoch Beck zugute zu halten, dass dieser bereits 1986 durchaus ähnliche Vermutungen angestellt hat, denn „das was die Klassen gestern und heute individualisiert hat, kann morgen oder übermorgen unter anderen Rahmenbedingungen – etwa sich radikal verschärfende Ungleichheiten … auch wiederum in neuartige […] „Klassenbildungsprozesse“ umschlagen“ (Beck 1986, S. 139)
  • [2] Dies zeigte sich in Griechenland und Italien beispielsweise mit der Einsetzung der Expertenregierung Papademos und Monti
 
< Zurück   INHALT   Weiter >