NGOs als „Schulen der Demokratie“?

Laut Sudbery (2003: 89f) tendieren NGOs dazu, effektive Zielerreichung in Gestalt von Interessenvertretung über den Bedarf zu stellen, unter den Mitgliedern, ein Bewusstsein für die jeweilige Problemlage zu generieren. Gleichermaßen findet Warleigh (2001) keine Hinweise darauf, dass NGO-Mitarbeiter die Mitglieder über die Notwendigkeit politischer Einflussnahme auf EU-Institutionen aufklären oder sie zu dieser motivieren. Zwar ist ein genereller Sozialisierungsanspruch der untersuchten NGOs zu bezweifeln, da zum einen nicht bei allen Versuche der Mitgliedersozialisierung gegeben sind und zum anderen sowohl Frequenz und Quantität, als auch Qualität der Inhalte stark variieren – trotzdem können Sudberys und Warleighs Befunde nur bedingt untermauert werden. So gehören neben Bestrebungen den Mitgliedern die Funktionsweise des EU-Systems zu verdeutlichen, die Vermittlung gesellschaftlich relevanter EU-Themen und europäischer Entscheidungen sowie Komplexitätsreduzierung für die Mehrheit der NGOs, und damit auch für die hoch professionalisierten, zu ihrem kommunikativen Alltag. Im Zuge jener edukativ-sozialisatorischen Bemühungen der Initiierung von Lernprozessen unter den Mitgliedern, können den untersuchten NGOs gewisse Potenziale der Erhöhung der Output-Legitimation nicht abgesprochen werden.

Grundsätzlich stellt sich vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Analyse und des von einigen Interviewpartnern hervorgehobenen, mangelnden Interesses bzw. fehlender Kenntnisse der Mitglieder (beides bedingt sich gegenseitig) aber die Frage, inwieweit Versuche der NGOs fruchten, die top-down Komponente der Linkage, in Gestalt der Vermittlung europäischer Entscheidungen und gesellschaftlich relevanter EU-Themen, umzusetzen respektive, ob ihre Bemühungen genügen. Zwar weisen andere NGO-Vertreter auf das ausgeprägte Wissen der Mitglieder hin, sodass ihre Aktivitäten lediglich in einer gewissen Kumulierung und Komplexitätsreduzierung liegen, doch sind derartige Schwierigkeiten für die Realisierung von Linkage nicht zu unterschätzen.

Beteiligungsund Mitsprachemöglichkeiten sind nicht nur für authentische Interessenvertretung bedeutsam. Konkrete praktische Erfahrungen dieser Art werden als Prämisse politischer Sozialisation gesehen (Almond & Verba 1963). So kommen einige Autoren (u.a. Maloney 2007; Saurugger 2006) zu dem Schluss, dass NGOs wegen ihrer undemokratischen internen Strukturen nicht als Katalysator der Bürgerpartizipation fungieren können. Laut Warleigh (2001) sind sie nicht in der Lage, die politische Sozialisation ihrer Mitglieder zu fördern, da für gewöhnlich auf deren Input verzichtet wird. Wie bereits dargelegt, kann man die meisten der untersuchten NGOs in dieser Hinsicht nicht als undemokratisch bezeichnen. Gleichwohl ist, infolge der häufig fehlenden Mitgliedschaftsoption für natürliche Personen im Zusammenspiel mit der Mehrebenenorganisation, kein nennenswerter Beitrag zur Herausbildung von politischen Fähigkeiten und zur Verbreitung des Bewusstseins für demokratische Grundsätze unter den EU-Bürgern zu erwarten. Denn die Partizipation eines weiteren Personenkreises ist nur bei wenigen NGOs vorgesehen. Es mangelt erheblich an Anreizen und der Entstehung von Civic Skills und Virtues förderlichen Möglichkeiten aktiven Engagements. Auf Beteiligungsund Mitsprachemöglichkeiten für die Basis wurde bereits im Kontext der authentischen Interessenvertretung eingegangen. Nur ein Bruchteil dehnt die Veranstaltungsangebote auf die (individuellen) Mitglieder ihrer Mitgliedsorganisationen und interessierte Individuen aus oder ermöglicht Freiwilligen, sie bei ihrer Arbeit im EU-Sekretariat zu unterstützen und bietet den EU-Bürgern damit alternative Opportunitäten der Partizipation. Die von der Kommission angeführten, durch NGOs geschaffenen Chancen, die Bürger aktiv an der Verwirklichung der Unionsziele zu beteiligen (Kom 2001: 19f), werden nur von wenigen Organisationen realisiert.

Die daraus resultierende negative Bewertung muss relativiert werden, da davon auszugehen ist, dass aufgrund der Kosten die Zahl derer, die sich in einer auf EU-Ebene ansässigen NGO engagieren oder aber zu Veranstaltungen in Brüssel kommen würden, sehr begrenzt ist. Indessen sind, wie schon erwähnt, auch von der NGO-Spitze vorangetriebene Optionen auf nationaler Ebene nicht die Regel. Überdies findet zum Zweck der Mobilisierung zwar einseitige Kommunikation via Website statt, interaktive Möglichkeiten und Bemühungen, die Bürger durch direkte Beteiligungschancen zu erreichen, sind jedoch ausbaufähig. Letztere beschränken sich vornehmlich – soweit vorhanden – auf Petitionen oder vorgefertigte Briefe an Politiker. So werden Newsletter, Social Media und Website nur von wenigen NGOs, im Sinne politischer Partizipation, für koordinierte Aktionen und die Verbreitung von Material zur sofortigen Nutzung seitens der Bürger, instrumentalisiert. In Anbetracht dessen zeigen sich weitere Möglichkeiten des Einsatzes dieser Kanäle für die Mobilisierung, aber auch den Ausbau des aktiven Engagements (Kiefer 2013: 387) und damit die Förderung von Civic Skills und Virtues.

Die angeführten punktuellen Engagementoptionen sind in Bezug auf die Funktion als „Schulen der Demokratie“ zu problematisieren. Allerdings muss in diesem Zusammenhang in gleicher Weise berücksichtigt werden, dass sie den Präferenzen der Unterstützer, sprich deren wachsender Abneigung, sich langfristig an eine Organisationen zu binden und der vergleichsweise hohen Bereitschaft sich für spezifische Anliegen zu engagieren, entgegenkommen (KohlerKoch & Buth 2011: 207; Leggewie 2003: 93f; Marschall 2001: 148); was begründete Zweifel aufkommen lässt, ob umfangreichere Angebote überhaupt Anklang fänden. Selbst wenn NGOs derartige Strukturen zur individuellen Partizipation etablieren würden, ließe dies nicht zwangsläufig auf einen maßgeblichen Beitrag zur partizipativen Demokratie, in Gestalt einer aktiven Bürgerschaft, schließen. In dieser Hinsicht scheinen andere, auf Seiten der Bürger zu verortende, Faktoren ihr Demokratisierungspotenzial zu beeinträchtigen, weshalb die Verantwortung für die „Linkage-Fehlfunktionen“ nicht allein bei den Organisationen liegt.

„Thus checkbook participation is widely accepted by many citizens. Groups see it as the most efficient way to mobilize and – more crucially from a civil society perspective – many citizens see such limited involvement as attractive. On the demand side, most members/supporters are content to embrace a politically marginal role (…). Many citizens perceive passive involvement as a 'benefit' and would consider leaving organizations that sought to impose the 'cost' of active involvement in group activities.” (Maloney 2008: 76f [Herv. i. O.])

Dieses Ergebnis ist nicht nur relevant in Bezug auf fehlende Aktivitäten bzw. Angebote seitens der NGOs oder deren Organisationsstruktur, als ihre Rolle als Linkage-Agenten beeinträchtigende Faktoren: Selbst wenn NGOs eine breite individuelle Mitgliedschaft hätten und Beteiligungsoptionen anbieten würden, wäre dies nicht unbedingt mit verstärkter Bürgerpartizipation verbunden

[1]. Doch ist ihnen aufgrund der Passivität der Mitglieder die Legitimation, d.h. ihre Repräsentativität und Fähigkeit, die Interessen ihrer Anhänger zu artikulieren, abzusprechen?

In dieser Arbeit wird primär die normative Seite der NGO-Legitimation betrachtet, welche u.a. auf Partizipation und Responsivität gegenüber den Anliegen der Mitglieder bzw. der Basis basiert. Unter Bezugnahme auf Maloneys (2008) Ergebnisse und die Ausführungen zum variierenden Aktivitätsniveau der Mitglieder der untersuchten NGOs soll an dieser Stelle aber auch eine andere Perspektive angenommen werden. So stehen hinsichtlich ihrer empirischen Legitimation die Akzeptanz und Glaubwürdigkeit der Organisation im Fokus. Mitglieder und Unterstützer sind zumeist durch eine spezifische kollektive Identität sowie geteilte Überzeugungen und Problemdeutungen mit der jeweiligen NGO verbunden, weswegen ihre Passivität auch als Akzeptanz der NGO-Handlungen gedeutet werden kann. Das Vertrauen der Mitglieder in die Arbeit des EU-Sekretariats wird von etlichen Interviewpartnern hervorgehoben. Obgleich solche Selbstaussagen, ohne Einsichten in die Mitgliedsorganisationen, mit Vorsicht zu betrachten sind, stellt sich jedoch die Frage, inwieweit sich Mitglieder und Basis von der NGO-Spitze entfremdet fühlen. Betrachtet man die generellen Vertrauenswerte, wie sie etwa jährlich mittels des Edelman Trust Barometers erhoben werden, zeigt sich, dass NGOs im Vergleich konstant am besten abschneiden und vor Medien, Regierungen und Wirtschaft liegen [2]. In dieser Hinsicht kann Professionalisierung, als optimaler Einsatz des Humankapitals sowie vermehrte Expertise und damit verbesserte Chancen der Interessenvertretung, die Anerkennung einer NGO bzw. deren empirische Legitimation sogar steigern. Fundierte Aussagen über diesen Zusammenhang bedürfen allerdings weiterer vergleichender Forschungsarbeiten.

Mit Referenz auf die geringe Mitgliederbeteiligung mag außerdem eingewandt werden, dass Repräsentativität – verstanden als grundsätzliche Interessenkongruenz einer NGO und ihrer Mitgliedern bzw. Basis – nicht allein durch Partizipation realisiert werden kann:

„Civil society organisations at the EU level give expression to citizens' preferences by responding to 'signals' (such as public opinion polls, media coverage of public debates) and/or to demands directly addressed to them either by ordinary citizens or by their members (by mandating representatives through elections) or supporters. Civil society organisations, on their part, will channel the (aggregated) preferences into the decision-making process.” (Kohler-Koch 2008b [Herv. i. O.])

Auf Basis der erhobenen Daten ist jedoch zu bezweifeln, dass NGOs derartige Bemühungen systematisch verfolgen. Zwar weisen Einzelne Umfragen und Medienberichterstattung in bestimmten Situationen große Bedeutung zu, normalerweise werden der EU-Ebene die Informationen aber über die Mitglieder zugetragen – deren Partizipation ist somit unabdinglich. Ferner scheint Responsivität für diese Signale nur in spezifischen Fällen gegeben.

  • [1] Ebenso konnte für Parteien nachgewiesen werden, dass auch jene, die das Partizipationspostulat verwirklichen, keine deutlich höhere Partizipationsrate verzeichnen können, da sich nur die Minderheit der Mitglieder aktiv am Parteileben beteiligt (Poguntke 2000: 218).

    Zudem stellen Maloney (2008) bzw. Maloney und Jordan (2007) ebenfalls eine segmentierte Mobilisierung mit Bezug auf den Organisationserhalt fest. NGOs rekrutieren verstärkt besser gestellte Bürger, was wiederum in einem Repräsentations-Bias resultieren kann

  • [2] Edelman Trust Barometer 2013: edelman.com/trust-downloads/global-results-2/
 
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