Empirische Befunde zu Solidaritätsbrüchen in Europa

Solidarität – eine einfache Gleichung? Gerechtigkeitsvorstellungen von ÖsterreicherInnen in Zeiten einer europäischen Krise

Elisabeth Donat

Die Wirtschaftsund Finanzkrise, die quer durch Europa zu Beginn des neuen Jahrtausends ihre Schatten warf, stellt und stellte die Europäische Union vor eine noch nie da gewesene Probe der Solidarität. Abseits kleinerer Rezensionen und größerer Krisen, wie beispielsweise in den 1970er Jahren (z.B. Kaelble 2014) folgten insbesondere die mittelund westeuropäischen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union einem stetigen, linearen Aufwärtstrend in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung. Zahlreiche gesellschaftliche Systeme und wohlfahrtsstaatliche Institutionen waren an diese wirtschaftlichen Entwicklungen gekoppelt, und stellten so Sicherheitsnetze im Falle individueller Risikound Problemlagen dar. Ende der 90er Jahre begannen stagnierende Wachstumsraten und steigende Arbeitslosigkeitsraten auf ein Ende des stetigen wirtschaftlichen Aufschwungs hinzuweisen. Kurz vor diese Zeit fiel auch der EU-Beitritt Österreichs, von dem sich viele einen neuen, wirtschaftlichen Aufschwung für das Land erhofften. Mit dem Zerfall des kommunistischen Regimes in Osteuropa rückte Österreich einmal mehr in den Mittelpunkt Europas, und wurde von den politischen Verantwortlichen als wichtiges Bindeglied zu den neuen, potentiellen Mitgliedsstaaten gesehen. Die schrittweise Aufnahme dieser neuen Mitgliedsländer ließ die Europäische Union in vergleichsweise kurzer Zeit ihrer Geschichte zu einem beträchtlichen Ausmaß von heute 28 Mitgliedsländern wachsen. 2004 wurden im Rahmen der sogenannten „Osterweiterung“ zehn neue Mitgliedsländer auf einmal aufgenommen, und so die größte Erweiterung in der Europäischen Union seit ihrem Bestehen vollzogen. Besonders in Österreich war der öffentliche Diskurs um die Osterweiterung von Skepsis rund um die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der neuen Mitgliedsstaaten geprägt und Befürchtungen über steigende „Nettozahlungen“ zum europäischen Projekt wurden laut (Weiss und Strodl 2003). Die Euphorie über den Zerfall des sogenannten eisernen Vorhangs wich einer Furcht über die gerechte Verteilung des Wohlstandes und der Öffnung des europäischen Arbeitsmarktes für neue Arbeitskräfte aus dem Osten. Das europäische Projekt wurde zunehmend als Projekt der „Eliten“ (Haller 2009) wahrgenommen, und erreichte in der folgenden Wirtschaftsund Finanzkrise um die Jahrtausendwende den vorläufigen Höhepunkt der Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Angeheizt durch mediale Darstellungen, die sich vor allem auf die Darstellung von Protesten im Süden Europas konzentrierten, sank die Solidarität mit der Idee einer gemeinsamen Europäischen Union in Österreich zusehends. Die vorliegenden Interviews zeigen, dass jenen Staaten (z.B. Deutschland, Großbritannien und Frankreich) sowohl Bewunderung als auch Skepsis entgegengebracht wird. Insgesamt stieg aber der Unmut oder zumindest das Unverständnis gegenüber der Europäischen Union in der österreichischen Bevölkerung in den letzten 10 Jahren zunehmend (vgl. Europäische Kommission 2013; Ulram und Tributsch 2013). Wenngleich Optionen abseits einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union heute vielen noch relativ abstrakt erscheinen, „(…) ist ein Zerfallen der Union solange unwahrscheinlich, wie die wirtschaftliche Entwicklung den meisten Mitgliedsstaaten als günstig erscheint und so lange die reicheren Länder nicht das Gefühl haben, dass die Schwächeren nur einen Klotz an ihrem Bein darstellen“ (Haller 2009, S. 289).

Auch vor Österreich machten die Entwicklungen, die auf gesamteuropäischer Ebene skizziert wurden, nicht Halt: ein langsameres Wirtschaftswachstum bei gleichzeitig wachsendem Haushaltsdefizit brachten seit den 90er Jahren auch neue Herausforderungen für das hiesige Wirtschaftsund Sozialsystem mit sich. Das geringere Wirtschaftswachstum rief in Österreich zwar keine abrupten oder massiven Änderungen in den Arbeitslosenraten hervor, jedoch aber zumindest eine schleichende Zunahme sogenannter prekärer Beschäftigungsverhältnisse. Wie auch in anderen Ländern der Europäischen Union wurden diese wirtschaftlichen Entwicklungen von einem steigenden Zulauf zu populistischen Parteien begleitet. [1] Diese wiederum schürten Ängste um die gerechte Verteilung des (scheinbar rückläufigen) Wohlstands, welche durch die Wirtschaftsund Finanzkrise um die Jahrtausendwende weiter angefacht wurden. In einer sozialen und wirtschaftlichen Situation, die zunehmend als unberechenbar auf der individuellen und kollektiven Ebene wahrgenommen wurde, erstarkte in den letzten 10 Jahren der Ruf nach einem „starken Führer“ in Österreich, der ohne Rücksicht auf Wahlergebnisse hart durchgreifen kann (Rathkolb et al. 2014). Auf europäischer Ebene ließen durchsetzungsstarke Persönlichkeiten wie Angela Merkel neben ambivalenten Gefühlen auch Bewunderung aufkommen: neben Bevormundungsängsten durch die deutsch-französische Krisenpolitik, wurden ebenso Großmachtsphantasien durch einen erstarkten europäischen Gemeinschaftsraum genährt. Anhand des vorliegenden Interviewmaterials sollen diese und andere Zusammenhänge zwischen individuellen Biographien und den Entwicklung auf europäischer bzw. nationalstaatlicher Ebene in den „Krisenjahren“ um die Jahrtausendwende aufgezeigt, und deren Auswirkungen auf Solidaritätsbekundungen bzw. -antipathien in der europäischen Gemeinschaft analysiert werden. Das europäische „Projekt“ ist in und außerhalb Österreichs mehr denn je auf eine Integrationsprobe gestellt.

  • [1] Antieuropäische Ressentiments wurden (wie so oft) im Nationalratswahlkampf 2013 von der FPÖ direkt mit dem Slogan „Nächstenliebe beginnt zu Hause – Österreich zuerst“ aufgegriffen. Die sogenannte „positive Wahlkampagne“ der FPÖ in diesem Wahlkampf führte zu einem dreiprozentigen Zuwachs an Stimmen gesamt, so wie der Position der stimmenstärksten Partei unter jungen Männern und Arbeitern. (sora.at/fileadmin/downloads/ wahlen/2013_NRW_Wahlanalyse.pdf; 13.12.2013; sora.at/fileadmin/…/2013_NRW_Wahltagsbefragung-Grafiken.pdf‎; 13.12.2013)
 
< Zurück   INHALT   Weiter >