Reduzieren NGOs die Kluft zwischen der EU und ihren Bürgern?
Damit NGOs ihr Demokratisierungspotenzial entfalten können, müssen ihre Inhalte Mitglieder, Basis und Öffentlichkeit auch erreichen und von diesen aufgenommen werden. Die Frage, inwieweit NGOs den EU-Organen neben den Massenmedien als adäquate Kanäle der Bürgeransprache dienen und zu einem informierten, öffentlichen Diskurs bzw. der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit beitragen, erfordert weiterführende Nutzungsund Wirkungsforschung sowie Rezeptionsanalysen (Bonfadelli 2004) bezüglich ihrer Kommunikationsangebote. Gestützt durch die erhobenen Daten zu den von den NGOs realisierten Voraussetzungen sprechen jedoch diverse Faktoren gegen einen substanziellen Beitrag.
Zunächst sei nochmals hervorgehoben, dass mehrere NGOs in ihrer Basis weniger die Mitglieder ihrer Mitgliedsorganisationen in den verschiedenen EU-Staaten, als ihre Begünstigten sehen. Basisnähe, sofern vorhanden, bezieht sich also nicht zwangsläufig auf EU-Bürger, als die für EU-Institutionen relevante Zielgruppe. Nur wenige Organisationen intendieren, Linkage in dem von den EUOrganen erhofften Ausmaß herzustellen. Generell sind Basis und Öffentlichkeit für viele NGOs von geringer Bedeutung, sodass sich sowohl auf strategischer Ebene, als auch in den faktischen Kommunikationsbemühungen teils massive Defizite offenbaren. Die Zahl derer, die ihre Bemühungen aktiv an jene Zielgruppen richten, welche, so von den EU-Institutionen erhofft, durch NGOs besonders gut erreicht werden können, ist gering: Nur die Hälfte versucht, einem über ihre Mitglieder hinausgehenden Adressatenkreis komplizierte politische Sachverhalte verständlich zu machen. Ein noch geringerer Teil bemüht sich, gesellschaftlich relevante EU-Themen und politische Entscheidungen zu vermitteln, und realisiert diese Seite der Linkage sowie die als Wert an sich, ebenso wie als Vorstufe der Partizipation so wichtige Komplexitätsreduzierung. Auch deshalb muss das Demokratisierungspotenzial aus Sicht partizipatorischer Theorien, d.h. die Stimulierung des Bürgerengagements zum Ausgleich der Defizite repräsentativer Strukturen (Maloney 2008: 70) und zur Förderung der Volkssouveränität, relativiert werden.
Zwar informiert fast die Hälfte der NGOs Interessierte über Einflussnahmeoptionen; insgesamt wird der Vermittlung der Bedeutung von Partizipation und der Funktionsweise der EU aber meist wenig Gewicht beigemessen. Beide Aspekte sind für die EU-Organe in hohem Maße relevant. Während sich durch die, in Folge effektiver Vermittlung des erstgenannten Aspekts, bestenfalls gestiegene Beteiligung der EU-Bürger, z.B. bei den Wahlen zum EP oder an Konsultationen, deren Input-Legitimation erhöht, ist umfassenderes Wissen über die Funktionsweise des Systems unmittelbar mit dessen empirischer Legitimation verbunden. Zudem trägt größeres Verständnis über europäische Angelegenheiten bzw. eine Sensibilisierung für ebendiese dazu bei, dessen wahrgenommene Komplexität und die Kluft zwischen Bürgern und Institutionen zu reduzieren sowie die Bedeutung der EU, auch für das tägliche Leben der Bürger greifbar zu machen; was wiederum die Beteiligung erhöhen kann.
Knapp über die Hälfte der NGOs adressiert die breite Öffentlichkeit, um Unterstützung für ihre Anliegen zu generieren; nur ein Bruchteil die Basis, wobei sich für beide Zielgruppen strategische Defizite zeigen. Ein noch geringerer Teil verfolgt zumindest punktuelle Aktivitäten der Initiierung transnationaler Diskurse. Insgesamt sind Bemühungen der Massenmobilisierung jedoch die Ausnahme. Die fehlenden Bestrebungen sind nicht nur in Bezug auf Mobilisierung, als zentralem Faktor, um den Anspruch der Repräsentativität aufrecht zu erhalten und Legitimation zu generieren, sondern auch in Hinblick auf die an NGOs adressierten Erwartungen im Kontext der Demokratisierung der EU zu problematisieren. Die Ergebnisse der Analyse lassen begründete Zweifel am erhofften Beitrag zur Formierung einer europäischen öffentlichen Meinung (Kom 2000: 5ff) aufkommen.
Sudbery (2003: 90) argumentiert, dass NGOs angesichts limitierter Ressourcen effektiven Resultaten in Bezug auf ihre politischen Forderungen gegenüber der Generierung öffentlicher Aufmerksamkeit den Vorrang geben. Fehlende Kapazitäten, da andere Stakeholdern wichtiger sind, werden auch von den Interviewpartnern als Begründung angeführt. Andere NGOs verzichten wegen der angenommenen Komplexität der für die Organisation relevanten Themen darauf, Strategien für Basis und Öffentlichkeit zu entwickeln. Wieder andere begründen das niedrige Aktivitätsniveau mit fehlendem Interesse der Basis. Die Mehrzahl sieht es als Aufgabe der Mitglieder, Basis und Öffentlichkeit zu adressieren. Dieses Ergebnis steht abermals in Einklang mit Sudberys (2003: 89) Resultaten. Ein mit der Situation in Parteien vergleichbarer, u.a. durch den medialen Fortschritt induzierter, Bedeutungsverlust der Mitglieder für die Kommunikation (Jun 2004b; Poguntke 2000), ist folglich nicht festzustellen.
Der Anteil der NGOs, welche – abgesehen von der Bereitstellung von Material – systematische Maßnahmen verfolgen, um über die Mitglieder Basis und Öffentlichkeit zum Zweck der Mobilisierung und Sozialisierung zu erreichen und die damit nicht nur einen Beitrag zur Reduzierung der Kluft zwischen der EU und ihren Bürgern zu leisten vermögen, sondern auch organisatorische Linkage fördern, ist allerdings sehr gering. Des Weiteren fehlt es mehrheitlich an Bemühungen, welche die Wahrscheinlichkeit der Verbreitung der Inhalte bzw. die Umsetzung mobilisierender und sozialisierender Aktivitäten durch die Mitglieder erhöhen. Der Mangel an fördernden Mechanismen und entsprechender Kontrolle – z.B. in Gestalt von systematischem Nachfassen – ist als problematisch anzusehen, da die Kommunikation der NGOs, unabhängig vom Zweck, nicht immer auf offene Ohren unter den Mitgliedern trifft.
„Several interviewees cited the lack of interest and understanding of EU affairs on the part of colleagues in member organisations as a barrier to effective communication.” (Sudbery 2003: 89)
Fehlendes Interesse wird auch von einigen der hier interviewten NGO-Vertreter angeführt. Es beeinträchtigt nicht nur die Kommunikation zwischen NGO und Mitgliedern, sondern – da sich die Mehrheit vornehmlich auf die Mitglieder verlässt, um Basis und Öffentlichkeit zu erreichen – gleichfalls die Kommunikation mit den Bürgern und Bemühungen der Herstellung von Öffentlichkeit. Viele NGOs verweisen für den Erfolg ihrer Kommunikation auf die Abhängigkeit vom Willen und von den Kapazitäten der Mitglieder und neben der Tatsache, dass Informationen auf dem Weg „nach unten“ schlicht und ergreifend verloren gehen, auf das Problem der Sprachbarriere. Die Dokumente sind überwiegend in Englisch verfasst und bedürfen einer Übersetzung, welche die NGOs im Zuge fehlender Kapazitäten der Mitglieder nur in wichtigen Fällen realisiert sehen. Der Fokus auf die Arbeit vor Ort und die z.T. geringe Professionalisierung der Mitglieder verstärken das Problem zusätzlich (Kohler-Koch & Buth 2011).
Trotz mangelnder Massenmobilisierung und fehlender koordinierter Bemühungen über die Mitglieder an Basis und Öffentlichkeit heranzutreten, vermögen die auf der Website und im Newsletter publizierten Inhalte, sogar unabhängig von der Intention der NGOs bzw. der anvisierten Zielgruppe, zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit für gesellschaftlich relevante europäische Themen, zur Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit und zur Konstitution europäischer Diskurse beizutragen. Durch die neue Vielfalt an Kanälen hat sich die öffentliche Kommunikation der untersuchten NGOs merklich verbessert. So finden sich in den meisten Newslettern Passagen, die nicht nur der Willensbildung bzw. Sensibilisierung, sondern auch der Wissensvermittlung bzw. Komplexitätsreduzierung dienen und als Linkage im Sinne sozialisatorischer Leistungen sowie der Mobilisierung gewertet werden können. Die Stichprobe legt die Vermutung nahe, dass trotz fehlenden Bestrebens, einen breiten Adressatenkreis zu erreichen, von der Mehrzahl der NGOs wenigstens unregelmäßig diese Leistung erbracht wird und sie dementsprechend die diesbezüglichen demokratisierenden Potenziale zeigen.
Doch selbst jene, welche die Rolle des Transmitters von für die einzelnen Linkage-Dimensionen relevanten Details an eine breitere europäische Öffentlichkeit erfüllen und entsprechende Inhalte auf der Website oder im Newsletter veröffentlichen, erreichen nicht zwangsläufig die Bürger in einem anspruchsvollen Sinne, der nicht nur die pure Wahrnehmung, sondern das Aufnehmen und Verstehen der Information beinhaltet.
Aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht ist unbeschränkte Kommunikation, zu der alle freien Zugang haben, ein zentraler Bestandteil der Öffentlichkeit (Wimmer 2007: 33). Das bedeutet, dass öffentliche Kommunikation allgemein verständlich sein muss (Gerhards & Neidhardt 1990: 16f), weshalb die Generierung öffentlicher Aufmerksamkeit den Verzicht auf Expertensprache erfordert. Indes sprechen sowohl die Newsletteranalyse, als auch die Aussagen der Interviewpartner dafür, dass es sich bei den von den NGOs kommunizierten Inhalten meist um sehr spezifische Themen handelt, die oft in entsprechendem Fachjargon präsentiert werden. Daneben sind fast alle Newsletter ausschließlich in Englisch verfügbar und obwohl manche NGOs ihre Website, zumindest in Teilen, in bis zu fünf Sprachen zugänglich machen, wird die Sprachbarriere, welche die Linkage-Leistung massiv beeinflusst, bis dato nicht überwunden. Keine der Organisationen schafft es, diese immense Übersetzungsleistung zu erbringen.
Allein diese Faktoren machen es NGOs fast unmöglich, die an sie adressierten hohen Ansprüche, zu erfüllen:
„Um die Brüsseler Verbandsarbeit den Mitgliedern nahezubringen, ist Übersetzungsarbeit zu leisten, die sich nicht in der Übersetzung in die jeweilige Landesprache erschöpft. Vielmehr ist bereits der EU-Jargon für die Basis oft ein Problem und es fehlt an spezifischem Wissen über EU-Themen und an Einsicht in die europäischen Entscheidungsverfahren.“ (Kohler-Koch & Buth 2011: 205)
Die Annahme, dass den Bürgern mithilfe von NGOs gesellschaftlich relevante EU-Themen besser vermittelbar sind (Kom 2000: 5ff), da diese Problemlagen oder Konsequenzen von Entscheidungen allgemeinverständlich darstellen, muss folglich nicht nur anlässlich mangelnder Initiative der NGOs relativiert werden. Ebenso erscheinen vor diesem Hintergrund Erwartungen, sie könnten als Kanäle dienen, um mit Informationen über die EU und deren Politik möglichst viele Europäer zu erreichen und somit einen substanziellen Beitrag zur Entstehung transnationaler Diskurse und Herausbildung einer europäischen Öffentlichkeit leisten, als zu hoch gegriffen.