Tafeln als Sozialkonzern und moralisches Unternehmen
Als Sozialkonzern versorgen die Tafeln mithilfe von ca. 50.000 Ehrenamtlichen, tausenden Bundesfreiwilligen sowie Arbeitslosen in Arbeitsmaßnahmen (nach eigenen Angaben) etwa 1,5 Mio. Bedürftige bundesweit in rund 1000 lokalen Tafeln mit Lebensmitteln. [1] Insbesondere nach Einführung der Hartz IV-Gesetzgebung 2005 kam es zu einem rasanten Anstieg von Tafelneugründungen, wobei die meisten Tafeln in den wohlhabenderen Regionen entstanden, da sich dort erfahrungsgemäß mehr Ehrenamtliche mobilisieren lassen. Das Tafelsystem ist daher bis heute von starken regionalen Disparitäten geprägt und entspricht damit keiner flächendeckende Armutsversorgung (Sedelmeier 2011).
Als moralische Unternehmen dienen Tafeln der zeitgeistkonformen Vermarktung gesellschaftlicher Verantwortung. Tafeln greifen dabei immer häufiger auf ökologische Argumente zurück. ‚Erfolgreich' ist diejenige Tafel, die möglichst viele Lebensmittel von den SpenderInnen zu den Ausgabestellen transportiert.
„Lebensmittelrettung“ wird dabei als unhinterfragbare moralische Aufgabe stilisiert und avanciert zur Legitimationsbasis der Bewegung.
Am Ort der Tafeln begegnen sich unterschiedliche Akteursgruppen mit unverträglichen Interessen. Gilt das Engagement den ehrenamtlichen HelferInnen als Sinnund Strukturgeber des eigenen Lebens, bedeutet die Nutzung einer Tafel für Armutsbetroffene meist den Bruch mit eigenen Normalitätsvorstellungen und eine Gefährdung des eigenen Selbstbildes. Auffallend ist, dass durch Tafeln „das Gute“ in der Form positiv bewerteter und sozial erwünschter Handlungen repräsentiert werden soll, während gleichzeitig belastende Schamund Aberkennungserfahrungen zugelassen oder sogar institutionalisiert werden (Selke 2013b). Wie lässt sich diese Gleichzeitigkeit der Akzeptanz positiv konnotierter Aufwertungslogiken (für ehrenamtliches Engagement) und negativ konnotierter Abwertungserfahrungen (durch schambesetzte Machtund Abhängigkeitsverhältnisse, Individualisierung von Schuld und Selbstexklusion von Armutsbetroffenen) in einer vermeintlich solidarischen Gesellschaft erklären? Stehen die Tafeln möglicherweise symptomatisch für neue Entsolidarisierungsprozesse bzw. für eine De-Institutionalisierung solidarischer Praktiken? Übergreifend stellt sich daher die Frage, ob und wie sich durch die Etablierung und Verstetigung von Tafeln gesellschaftlich vorrätige Solidaritätsformen erkennbar verändern. Bedeutet die funktionale Abhängigkeit innerhalb sog. „KlientInnenbeziehungen“ sowie die Konkurrenz um das knappe Hilfsgut Lebensmittel nicht auch die Abnahme interpersoneller Solidaritätsbeziehungen am Ort der Tafel selbst?
Hieraus lassen sich zwei Thesen ableiten: Erstens korreliert die Institutionalisierung der Tafeln als Teil des Wohlfahrtsmix' mit der Entpolitisierung struktureller Armut innerhalb eines Neosozialstaats (vgl. Lessenich 2008) – Solidarität ist in diesem Kontext lediglich in inszenierter Form erkennbar. Zweitens sind Tafeln auf der praktischen Ebene „Stressräume“ (Selke und Maar 2011), in denen durch Parallelweltbildung Solidarität nur noch in komprimierter Form zugelassen wird. Inszenierte und komprimierte Solidarität markieren daher die beiden fundamentalen Solidaritätsbrüche durch Tafeln.
- [1] Gleichzeitig bieten Tafeln vermehrt andere Güter wie z. B. Medikamenten oder Brillen an. Auf die Differenzierung des Tafelangebots und ihre Folgen kann an dieser Stelle jedoch nicht näher eingegangen werden