Invalidität und Invalidenversicherung
Die Invalidenversicherung (IV) ist wie die Altersund Hinterlassenenversicherung (AHV) eine obligatorische Versicherung für alle Personen, die in der Schweiz wohnen oder in der Schweiz erwerbstätig sind. Ziel der IV ist es, den versicherten Personen durch Geldleistungen oder mittels Eingliederungsmaßnahmen die Existenzgrundlage zu sichern, sobald diese invalid werden. In der Schweizer Invalidenversicherung existieren drei notwendige Bedingungen für eine Anerkennung der Invalidität im Sinne eines Anspruchs auf eine Invalidenrente:
1. Es liegt ein körperlicher, psychischer oder geistiger Gesundheitsschaden vor (egal ob von Geburt an, durch Krankheit oder Unfall).
2. Es besteht eine längere oder bleibende Erwerbsunfähigkeit bzw. Unfähigkeit, sich im bisherigen Aufgabenbereich (beispielsweise im Haushalt) zu betätigen.
3. Die Erwerbsunfähigkeit ist durch den Gesundheitsschaden verursacht.
Nach der Anmeldung bei der zuständigen IV-Stelle beginnt ein Abklärungsverfahren. Mit der Unterstützung von Fachpersonen der beruflichen Eingliederung und der Arbeitsvermittlung sowie Ärztinnen und Ärzten des regionalen ärztlichen Dienstes (RAD) wird ein Bild der Problemlage entwickelt. Darüber hinaus können die IV-Stellen Gutachten von Fachärzten oder medizinischen Abklärungsstellen (MEDAS) einholen (Kocher und Leuenberger 2009). Innerhalb dieses Abklärungsprozesses wird festgestellt und festgelegt, ob ein Rentenanspruch besteht.
Die Bestimmung der Arbeitsmarktfähigkeit [1] ist damit weitestgehend eine medizinische Frage, wobei im Prozess der Prüfung des Rentenanspruchs insbesondere Ärztinnen und Ärzte eine zentrale Rolle einnehmen (vgl. z. B. Baer et al. 2009). Diese medizinische Abklärung basiert auf einer gesetzlichen Grundlage, die vorgibt, wer Anspruch auf eine Invalidenrente hat. Robert Castel (2008) schuf für die in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen konstruierte Gruppe der Menschen, die nicht fähig sind, für die eigenen Grundbedürfnisse zu arbeiten, den Begriff der Handicapologie. Bei Castel ist diese Gruppe breit gefasst und beinhaltet auch „alte Leute“ und „elternlose Kinder“. Gesellschaftliche Aushandlungsprozesse bestimmen die Trennlinie zwischen Arbeitsfähigkeit und -unfähigkeit (Castel 2008, S. 27), wobei Interessenund Machtlagen mitentscheidend sind: In der Schweiz nimmt die IV in diesem gesellschaftlichen Aushandlungsprozess als zentrale Institution und Meinungsführerin eine wichtige Funktion ein, die Patrick Caduff und Monica Budowski (2012) folgendermaßen auf den Punkt bringen:
Man kann die IV als eine juristisch-politische Materialisierung der Handicapologie verstehen: Ihre immer wieder revidierten gesetzlichen Bestimmungen sind Ausdruck der zum jeweiligen Zeitpunkt herrschenden politischen Handicapologie. (Caduff und Budowski 2012, S. 71)
Die jeweils vorherrschende Handicapologie hat in erster Linie ökonomische Konsequenzen. Sie bestimmt, wer die bezugsberechtigten Personen von Rentenleistungen der Invalidenversicherung sind. Gleichzeitig beeinflusst sie allerdings auch die gesellschaftliche Vorstellung davon, welche Personen berechtigterweise nicht arbeiten müssen, da ihnen eine Arbeitsstelle bzw. eine Erwerbsarbeit im ersten Arbeitsmarkt nicht zugemutet werden kann. Die Handicapologie änderte sich in den letzten Jahren insbesondere hinsichtlich nicht sichtbarer (und damit nicht objektivierbarer) Beeinträchtigungen, die größtenteils nicht mehr als Grund für eine Arbeitsunfähigkeit angesehen werden. Schmerzstörungen, Fibromyalgie und an- dere schwer objektivierbare Störungen sind damit keine hinreichenden Faktoren mehr für einen Anspruch auf eine IV-Rente (Kirchner 2011). Dadurch richtet sich die IV zunehmend am technischen Objektivierungsvermögen der Medizin aus (Caduff und Budowski 2012, S. 76) und es kommt zu einer Unterscheidung von „echten“ und „unechten“ Behinderungen (vgl. Weisser 2005).[2] Durch die veränderte Gesetzgebung wird die Medizin als eine exakte Wissenschaft dargestellt, die nicht nur trennscharf zwischen gesund und krank unterscheiden kann, sondern darüber hinaus in der Lage ist, die „Restarbeitsfähigkeit“ einer Person zu bestimmen.[3]
- [1] In der Invalidenversicherung ist nicht von Arbeitsmarktfähigkeit sondern von Arbeitsfähigkeit sowie Arbeitsunfähigkeit die Rede. Je nach Grad der Arbeitsunfähigkeit besteht Anspruch auf eine Viertelsrente, eine halbe Rente, eine Dreiviertelsrente oder eine ganze Rente
- [2] Jüngstes Beispiel hierfür ist der Einsatz sogenannter Hirnscans im Kanton Luzern zur Überprüfung von psychiatrischen oder neurologischen Erkrankungen (Reye 2014). Dabei werden beispielsweise ergebniskorrelierte Potenziale gemessen und mit den Werten von gesunden Personen verglichen, wodurch Funktionseinbußen im Gehirn festgestellt werden können (Niederer 2014)
- [3] Die Schwierigkeiten dieser Abklärungen werden auch selbstkritisch in der Schweizerischen Ärztezeitung thematisiert (vgl. Conne 2003)