Implikationen für die weitere Forschung
Die vergleichende Analyse zeigt unverkennbar, dass auf EU-Ebene agierende NGOs trotz Professionalisierung nicht zwangsläufig den Kontakt zu ihren Mitgliedern verlieren. Je nach Organisation sind allerdings mehrere Ebenen bis zur Basis zu überwinden und die Aussagen der Interviewpartner gehen mehrheitlich in die Richtung, dass für die NGO-Spitze nicht nachvollziehbar ist, ob die Inhalte an der Basis ankommen. Im Rahmen dieser Arbeit können daher in erster Linie Rückschlüsse bezüglich der von NGOs geschaffenen Voraussetzungen zur Verwirklichung von Linkage getroffen werden.
Im Zuge mangelnder Kenntnisse über die Prozesse in den Mitgliedsorganisationen bleibt jedoch die Frage, wie die Mitglieder mit den Inhalten und Informationen verfahren genauer gesagt wie sie diese verarbeiten. Werden sie weitergeleitet und wenn ja, in welcher Form und in welchem Umfang? Kommen sie an der Basis, bei den individuellen Mitglieder oder Begünstigten (soweit für diese relevant), an? Die meisten Studien (u.a. Steffek et al. 2010; Sudbery 2003; Warleigh 2001), die sich mit den vertikalen Beziehungen von NGOs bzw. zivilgesellschaftlichen Organisationen und ihren Mitgliedern befassen – und die vorliegende Untersuchung bildet, basierend auf den Aussagen Aussagen der NGOVertreter, keine Ausnahme – kommen zu dem Ergebnis, dass die Mitglieder oft kein Interesse an weiterführenden Inhalten bekunden und z.T. sehr inaktiv in der Äußerung ihrer Anliegen, im Kommentieren der Positionspapiere oder generell in Hinblick auf organisationsinterne Beteiligungschancen sind.
Wünschenswert wären in dieser Hinsicht sowohl eine umfassende vergleichende Analyse der top-down Prozesse, inklusive der Mitgliederebene und aller weiteren Organisationsebenen bis zur Basis, als auch die systematische Betrachtung der genauso essenziellen bottom-up Prozesse zur Erfassung der Anliegen der Basis sowie deren Einspeisung in organisationsinterne Willensbildungsund Entscheidungsprozesse. Eine solche Datengrundlage, welche die Mechanismen der Mitglieder abbildet, könnte nicht nur die empirischen Ergebnisse der Experteninterviews ergänzen und validieren, da sie erlaubt, dem Bild, das die NGOVertreter von den Mitgliedern zeichnen, deren Selbstbild gegenüberzustellen. Sie böte zudem wertvolle Einblicke zur weiteren Bewertung der Linkage-Leistung von NGOs (auch auf nationaler Ebene) sowie, in Kombination mit entsprechenden Rezeptionsanalysen, einer von Mitgliedern und Basis wahrgenommenen Entfremdung oder Problemen innerorganisatorischer Demokratie. Vor allem aber könnte eine derartige Datengrundlage – mit Blick auf Faktoren, welche die Mitgliederbeteiligung und Weiterleitung der Inhalte hemmen – auch Potenziale und praktische Lösungswege zur Verbesserung der organisationsinternen Prozesse aufzeigen.
In diesem Kontext ergeben sich weitere Forschungsansätze. Bereits jetzt ist eine, insbesondere durch die technische Entwicklung bedingte, Qualitätssteigerung in der Mitgliederkommunikation auszumachen, sodass derart negative Beurteilungen, wie sie noch von Warleigh (2001) oder Sudbery (2003) zu Beginn des Jahrtausends vorgenommen wurden, relativiert werden müssen. Inwieweit sich, bspw. durch Social Media oder die oben angeführten anderweitigen Bestrebungen der NGOs, die Einbindung der Mitglieder zu verbessern, eine Entwicklung hin zu mehr Mitgliederkommunikation und Offenheit der Beteiligung im Allgemeinen vollzieht, bleibt zu beobachten.
Ebenso gibt der Aspekt der räumlichen Nähe bzw. das Risiko der Loslösung von der Basis in Folge der Mehrebenenorganisation Anlass zu weiteren Nachfragen zur Situation auf nationaler Ebene. Ist bei den Mitgliedsorganisationen oder generell bei auf nationaler Ebene agierenden NGOs der (persönliche) Kontakt zur Basis intensiver und die kommunikative Rückkopplung stärker? Ergänzende, systematisch vergleichende Analysen der Linkage-Leistung europäischer und nationaler NGOs wären wünschenswert, um den Faktor räumliche Nähe in seiner Bedeutung adäquat einschätzen zu können und versprechen wertvolle Einblicke in Bezug auf die an NGOs adressierten Erwartungen.
Die Befunde der durchgeführten Studie lassen nicht nur auf den Einfluss weiterer Faktoren auf die Linkage-Leistung, sondern auch auf den intervenierenden Effekt, etwa der Mitgliedschaftsoption und der Charakteristika des EUSystems schließen. Die Größe der hier zugrundeliegenden Stichprobe erlaubt zwar keine generalisierenden Rückschlüsse auf die Stärke des Einflusses von Organisationsstruktur, Alter und Mitgliedschaftsoption bzw. deren Zusammenspiel – die Fallzahl für die jeweiligen Kombinationen der Faktoren ist zu gering. Trotz allem können die Ergebnisse als Ausgangspunkt für weitere umfassendere Erhebungen dienen.
Eine Reihe von Aspekten verdeutlicht demnach den Bedarf an weiterführenden, empirischen Arbeiten bzw. Langzeitbeobachtungen. An dieser Stelle wurde der Stand der Professionalisierung von in der CSCG assoziierten und auf EU-Ebene agierenden NGOs erfasst. Der Ansatz erlaubt Rückschlüsse auf die Forschungsfragen der Studie, kann aber nicht alle Aspekte des aus diversen Forschungsdisziplinen interessanten Phänomens der Professionalisierung von intermediären Akteuren adressieren. Auch Klüver und Saurugger (2013) weisen auf den Mangel an Langzeitdaten und Zeitreihenanalysen hin, die Aussagen über den Verlauf und die Folgen der Professionalisierung gestatten würden. Darüber hinaus plädiert Eising (2008) dafür, die Grenzen zwischen den einzelnen Forschungslinien aufzubrechen, um den Kontroversen und Unklarheiten über die Rolle und Funktion zivilgesellschaftlicher Organisationen im EU-System angemessen zu begegnen. Diese Forschungsdesiderate gilt es aufzufüllen. Speziell für Fragestellungen, die sich dem Konnex von Professionalisierung, Institutionalisierung und Potenzialen der Demokratisierung widmen, scheint dabei eine Verbindung von NGO-, Bewegungsund Parteienforschung folgerichtig und wertvoll. Die vorliegende Arbeit mit ihrem vergleichenden Ansatz und ihrem Fokus auf ein originär auf Parteien ausgelegtes Konzept ist nur ein erster Schritt in diese Richtung.
Die Analyse zeigt, dass Michels ehernes Gesetz der Oligarchie nicht die Realität der Organisationsstrukturen von auf EU-Ebene agierenden NGOs trifft. Auch in der Parteienforschung wird mittlerweile von „lose verkoppelten Anarchien“ (Lösche 1993) oder einem „pluralistischen Stratarchiemodell“ (Niedermayer 1993; Jun 2004a) gesprochen. Parteien zerfallen danach in zahlreiche Gruppen und Subeinheiten, die weitgehend unverbunden nebeneinander stehen. In Kombination mit den defizitären innerparteilichen Kommunikationsnetzwerken erlaubt dies den Subeinheiten relativ große Autonomie, sodass eine Partei in Bezug auf Machtverteilung und Kontrolle nicht hierarchisch strukturiert ist, sondern eher einer Stratarchie gleicht, die nur bedingt von oben steuerbar ist. Die Fragmentierung führt zu einer Verselbstständigung und Abschottung der Organisationsteile, die sich in einem geringen Maß an Kooperation manifestiert (Jun 2010: 17). Zumindest in Teilen scheinen diese Beobachtungen auf NGOs übertragbar. Die große Autonomie der Mitgliedsorganisationen wird betont, daneben wird von manchen NGO-Vertretern Sorge über den geringen Kontakts der Mitglieder untereinander geäußert. Inwieweit sich diese Modelle zur Analyse von NGOs eignen, bleibt dennoch zu überprüfen. In jedem Fall aber bieten sie einen ergiebigen Ansatz und können die künftige NGO-Debatte bereichern.
Eine mit der Situation in Parteien vergleichbare Professionalisierung der Kommunikation, festgemacht etwa an der Rekrutierung externer Kommunikationsdienstleister und Kampagnenmacher sowie der Adaption an mediale Kriterien der Aufmerksamkeitserzeugung (Jun 2009; Donges 2008; Römmele 2007; Falter & Römmele 2002), lässt sich auf Basis der untersuchten Stichprobe nicht feststellen. Gleichwohl sind derartige Entwicklungen nicht auszuschließen. Die Betrachtungsweise der Professionalisierung aus Perspektive der Parteiorganisationsforschung birgt auch hier vielversprechende Ansätze: Bei beiden Organisationstypen handelt es sich um intermediäre Akteure, die eine, obgleich infolge zahlreicher Einflussfaktoren beeinträchtigte Linkage-Funktion erfüllen, weswegen die Bezugnahme auf Konzepte und Theorien diesen Forschungszweiges ge-
eignet erscheint, um Gemeinsamkeiten, aber auch eventuelle Unterschiede zwi-
schen Parteien und NGOs systematisch zu erforschen. Beispielsweise identifizieren Gibson und Römmele (2009; 2001) anhand ihrer parteienzentrierten Theorie der Professionalisierung mit Organisationsgröße, -ideologie und -ressourcen verschiedene organisationsimmanente Schlüsselvariablen, welche die Professionalisierung der Kommunikation beeinflussen. Ihr Ansatz verschiebt den Fokus von institutionellen und soziokulturellen auf interne Faktoren und erlaubt demgemäß auf einzelne Parteien bezogene Vorhersagen zur professionalisierten Kommunikation. Wenigstens zwei der Faktoren greifen auch für NGOs, weshalb dieser Ansatz ebenfalls geeignet zur deren Analyse scheint und aufschlussreiche Erkenntnisse verspricht.
Im Übrigen müssen Veränderungen in Konsequenz der strukturellen und institutionellen Rahmenbedingungen des EU-Systems weiter beobachtet werden. Nicht nur, dass es sich bei NGOs um eine relativ junge Akteursgruppe auf EUEbene handelt. Zahlreiche Instrumente der Zusammenarbeit oder des Dialogs mit zivilgesellschaftlichen Akteuren wurden erst vor wenigen Jahren etabliert. Deren Rückwirkungen auf die Organisationen selbst sind und bleiben ein zukunftsträchtiges Forschungsfeld. Die Professionalisierung sowie deren Folgen für NGOs als Linkage-Agenten sind ein Aspekt der Rückwirkungen, dem sich in dieser Arbeit angenähert wurde. Das gesamte Ausmaß konnte damit jedoch nicht berücksichtigt werden. Ferner handelt es sich um einen Prozess, dessen zukünftige Entwicklung aufgrund der Vielzahl an Einflussfaktoren unklar ist und weitere theoretische wie empirisch vergleichende Forschung bedarf.