Wohlstand als„narzisstische Plombe“

Der Zusammenhang von Deprivation und antidemokratischer Einstellung wird immer wieder beschrieben und in empirischen Untersuchungen eindrücklich bestätigt. Die Zunahme rechtsextremer Einstellung in Deutschland, aber auch in den europäischen Nachbarländern (Heitmeyer 2010; Küpper und Zick 2010; Decker et al. 2012) wird in den Zusammenhang erfahrener oder drohender Abstiegserfahrung oder wirtschaftlichen Krisensituationen gebracht. Und damit gleichzeitig das Integrationspotential einer ökonomische Teilhabe, bzw. umgekehrt der Legitimationsverlust der Gesellschaft beschrieben, wenn diese Teilhabe ausbleibt (Heitmeyer und Endrikat 2008). Dass dieser Legitimationsverlust vor allem von Ressentiment geladenen Ideologien begleitet wird, ist auffällig genug. Ob sie als Faschismus, Rechtsextremismus oder Autoritarismus gemessen werden (Feldman und Stenner 1997; Cohrs und Ibler 2009), Deprivationserfahrung hängt eng mit dieser destruktiven Abwendung von den Grundlagen eines demokratischen Miteinander und der Anerkennung des Anderen zusammen. Das gilt nicht nur für die ökonomische Deprivationserfahrung, sondern zu gleichen Teilen auch für die politische und soziale Deprivation (Decker und Brähler 2006). Der Zusammenhang scheint als gesichert gelten zu können und prägt die Forschung zum Rechtsextremismus insbesondere in Deutschland seit Jahren (Heitmeyer 1994; Endrikat et al. 2002; Schmidt et al. 2003), Es ist also kein Wunder, wenn die Deprivation als „key concept of social psychology“ bezeichnet wird (Pettigrew 2001). Seitdem das Konzept der relativen Deprivation von der Arbeitsgruppe um Stouffer in die Forschung eingebracht worden ist (Stouffer et al. 1949), findet es in der Sozialpsychologie breite Rezeption (Smith et al. 2011).

Auch wenn die Bemühungen auf eine theoretische Integration zielen (Rippl und Seipel 2002), ein Manko in der Diskussion lässt sich deutlich ausmachen: Mit dem Befund alleine ist ein Zusammenhang weder erklärt noch verstanden. Dass die Vermittlungsprozesse zwischen gesellschaftlichen Lage und ihrer individuellen Wirkung selbst erklärungsbedürftig sind, ist für eine Sozialpsychologie so selbstverständlich wie die Aufgabe im konkreten Fall noch nicht erledigt ist. Zwar wurden früh die Konzepte verfeinert und zwischen „individual“ und „fraternal“, also der Deprivation der Peer Group differenziert (Runciman 1966), allerdings wurde dem Warum wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Damit ist der Einflussfaktor „sozialer Abstieg“ aber noch nicht in seinen Wirkungsmechanismen verstanden. Genau um den Versuch einer Antwort auf diese Frage soll es hier gehen. Ein Hinweis zur Bedeutung des wirtschaftlichen Wohlstands wurde im Rahmen der Studie „Ein Blick in die Mitte“ in Gruppendiskussionen zur politischen Einstellung gefunden: Wohlstand hat in Deutschland einen historischen Index und er wirkt als „narzisstische Plombe“ (Decker et al. 2008). Dieser Gedanke soll kurz ausgeführt werden: In den Diskussionen ist eine Verbindung von wirtschaftlichem Aufschwung der Nachkriegsjahre und dem Selbstwert der Menschen deutlich hervorgetreten. Mit dieser These – Wohlstand als „narzisstische Plombe“ – schlossen wir inhaltlich an die Zeitdiagnose von Alexander und Margarethe Mitscherlich (Mitscherlich und Mitscherlich 1967) an, die in den 1960er Jahren über die „Unfähigkeit zu trauern“ geschrieben hatten. Der von ihnen verwendete Begriff der Trauer verweist auf die psychoanalytische Theorie und beschreibt die Reaktion auf den Verlust einer Autorität oder eines Selbstwerts. Für ein sozialpsychologisches Verständnis der Nachkriegsgesellschaft nahmen sie einen Begriff aus der Individualpsychologie zu Hilfe. In Anlehnung an Sigmund Freud bezeichneten sie eine gelungene Trauerreaktion, etwa auf den Tod eines geliebten Menschen, in der Sprache der Psychoanalyse als „[…] ein langsames Ablösen von verlorenen Objektbeziehungen“ (Mitscherlich und Mitscherlich 1967, S. 83). Eine solche gelungene Trauerreaktion ist gekennzeichnet durch „die definitive Veränderung der Realität durch den Verlust des Objekts zu akzeptieren“ (Mitscherlich und Mitscherlich 1967, S. 80). Was für den Verlust eines geliebten Menschen gilt, wäre in Nachkriegsdeutschland dringend geboten gewesen. Von dieser psychoanalytischen Vorstellung über die Reaktion auf einen Objektverlust schlagen Mitscherlich & Mitscherlich die Brücke zur Gesellschaft. Nach ihrer Auffassung ist das Objekt, das die Deutschen verloren haben, ihr Größen-Selbst, das von Hitler als „Führer“ verkörpert wurde.

„Als Anlass zur Trauer wirkt […] vor allem das Erlöschen seiner Repräsentanz als kollektives Ideal. Er war ein Objekt, an das man sich anlehnte […]. Sein Tod und seine Entwertung durch die Sieger bedeutete auch den Verlust eines narzisstischen Selbst und damit eine Ichoder Selbstverarmung und -entwertung“ (Mitscherlich und Mitscherlich 1967, S. 34 f.). Und weiter: „Dieser [Führer trat, A.d.V.] an die Stelle des Ich-Ideals jedes Einzelnen, jenes seelischen Selbstbildes, das von den kühnsten Phantasien über eigene Bedeutung, Vollkommenheit und Überlegenheit […] gekennzeichnet wird. Indem ich dem Führer folge, verwirkliche ich ein Stück dieses phantasierten Ich-Ideals“ (Mitscherlich und Mitscherlich 1967, S. 71 f.).

Somit wiesen die Mitscherlichs auf den Zusammenhang der Abwehr der narzisstischen Kränkung und den Wiederaufbau in Nachkriegsdeutschland hin. Der nun eigentlich anzuerkennende Verlust dieses idealen Größen-Selbst sei durch den Wirtschaftsaufschwung nicht nur überdeckt, sondern auch ersetzt worden. [1] Zudem hätten die Deutschen nicht nur ein ideales Größen-Selbst betrauern, sondern auch den Vernichtungskrieg und den von den Deutschen organisierten Holocaust anerkennen müssen.

Dieser Befund einer narzisstischen Plombe wirft auch ein Licht auf die noch heute bestehende, relative Unfähigkeit, Demokratie als eigenes Projekt zu begreifen. Das zeigen zum Beispiel die hohen Ablehnungswerte zur Demokratie in Deutschland, wie wir sie in unserer Studie von 2006 beobachtet haben. Viele Teilnehmende an den Gruppendiskussionen konnten Demokratie ebenfalls nicht als eigenes Projekt verstehen und es ist zu vermuten, dass es sich hierbei auch um ein intergenerationell weitergegebenes Unvermögen handelt (Decker et al. 2008). Trifft die Zeitdiagnose von Alexander und Margarete Mitscherlich zu, dann trat an die Stelle des „kollektiven Narzißmus […], der durch den Zusammenbruch des Hitlerregimes auf schwerste geschädigt worden (ist), […] der wirtschaftliche Aufschwung, das Bewußtsein, wie tüchtig wir sind […]“ (Adorno 1959, S. 563 f.). Demokratie wurde akzeptiert, „weil es einstweilen unter der Demokratie zu gut geht“ (Adorno 1959, S. 559), aber sie wurde nicht gelebt und auch nicht vorgelebt. Selbst eine nachholende Entwicklung hat wahrscheinlich nicht alle Schichten erfasst, zumal das Sich-Begreifen als Subjekt der Demokratie sich auch an den Bedingungen brechen kann, die den Menschen täglich immer mehr zum Objekt anonymer Institutionen machen.

  • [1] Der Stellenwert des Konsums und damit des Wohlstands für die Regulation von Konflikten war nicht auf die Bundesrepublik Deutschland beschränkt, auch wenn es aus heutiger Perspektive den Anschein hat. Im Osten Deutschlands versuchte die Staatsführung ebenfalls auf die Bedürfnisse der Bevölkerung mit diesem Regulativ früh zu reagieren (Kaminsky 2001). So war die öffentliche Inszenierung von Produkten und die damit verbundenen Verheißungen in der DDR – auch ohne Marktkonkurrenz – gang und gäbe (Gries 2003) und transportierte ein nicht einzulösendes, aber dringend benötigtes Versprechen der Teilhabe an einer „Plombe“. Der Machtwechsel von Walter Ulbricht zu Erich Honecker 1971 wurde nach Interpretation der historischen Quellen unter anderem durch ein forciertes Konsumversprechen und die künstliche Stabilisierung von Marktpreisen möglich (Schindelbeck 2004; Skyba 2004). Zu guter Letzt deutet die späte Forderung zur Zeit der Friedlichen Revolution auf die Lücke und die Plombe hin, welche sie schließen sollte („Entweder die D-Mark kommt zu uns oder wir zur D-Mark“ war auf Transparenten der Leipziger Montagsdemonstrationen zu lesen)
 
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