Ein Zusammenhang von unerwarteter Seite: Wohlstand und (Alltags-) Religion
Man sollte aber nicht vergessen, dass die Identifikation mit einem Führer, mit allem, wofür „Hitler“ stand, selbst bereits eine Reaktion war. Wenn Lipset und Geiger richtig lagen, war es ein Versuch, die „Verwirrung“ zu stabilisieren, die wiederum eng mit der Wirtschaft, präzise gesagt, mit einer ökonomischen Krise zusammenhing. Das „Wirtschaftswunder“ zur Stabilisierung des Selbstwertes – als
„narzisstische Plombe“ –und die starke Wirtschaft als „sekundären Führer“ einzusetzen, das funktionierte wahrscheinlich deshalb so gut, weil diese Verbindung bereits existierte. Ein „Wirtschaftswunder“, darauf hat gerade der Historiker Ulrich Herbert in seiner monumentalen „Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert“ hingewiesen (Herbert 2013), ereignete sich nicht erst im Nachkriegsdeutschland. Vielmehr wurde der Begriff bereits 1936 durch den Ökonom Hans Priester (1936) verwendet, um die wirtschaftliche Entwicklung nach der Machtübernahme der NSDAP zu beschreiben. Integriert hat dieses erste deutsche Wirtschaftswunder. Obwohl faktisch bei den BürgerInnen nichts ankames war ein Produktionsgüter und vor allem Kriegsgüterboom-, wurde durch dieses erste Wirtschaftswunder anhand „immaterieller Kollektivgüter“ (Spoerer 2005, S. 434). Gemeinschaftsgefühl und Nationalstolz hergestellt. Es gab also in Nazideutschland einen Führer als ideales Selbstobjekt, restaurierte nationale Stärke – und eine starke Ökonomie. Bis auf die Identifikation damit hatte der/die Einzelne also wenig Gewinn, aber dafür die Möglichkeit, der autoritären Aggression in einem Vernichtungsfeldzug freien Lauf zu lassen.
Deshalb war es nach dem Krieg so einfach, einen Teil für die Sache selbst zu nehmen: Die Wirtschaft als „gleichsam sekundären Führer“ (Decker et al. 2014). Dass bedeutet aber auch, dass die Gegenwartsgesellschaft mit ihrem Primat des Ökonomischen einer autoritären Dynamik unterliegt. Und für einen sekundären Autoritarismus spricht einiges, zum Beispiel der Stellenwert, der der Wirtschaft bis heute eingeräumt wird. Die Deutschen identifizieren sich, das zeigen auch die Erhebungen des International Social Survey Programms seit Jahren, viel stärker als andere Nationen mit ihrer Wirtschaft (Haller und Ressler 2006; Davidov 2009). Schon bei der antidemokratischen Reaktion auf die Weltwirtschaftskrise und den Untergang des Kaiserreiches ging es um den Verlust einer Autorität. Diese musste durch die Identifikation mit Größe und Macht ersetzt werden. Aber nicht nur das: Die sich lösende Bindung an die alte Autorität ließ eine Aggression über das Versagen genau dieser Autorität mit der aufgestauten Aggression gegen sie Bahn brechen – und in eine vernichtende Wut gegen Juden münden. Anders gesagt: Wird die Teilhabe an Macht und Wohlstand der Autorität (Führer, Wirtschaftswun-der) versagt, verliert die Autorität selbst ihre Macht – und dann entladen sich die aufgestauten Aggressionen gegenüber denjenigen, die als schwächer wahrgenommen werden.
Der Zusammenhang von Ökonomie, Mitte und Rechtsextremismus ist allerdings nicht nur als eine Endlosschleife der Ersetzung zu verstehen. Der eingangs zitierte „Fetisch der Mitte“ weist den Weg: Zum Warenfetisch und zur Warenästhetik (Haug 1971, 2008) als weiteren hier relevanten Zusammenhang.
Mit feinem seismografischen Gespür erkannte Ludwig Erhard, Wirtschaftsminister von 1949 bis 1963, späterer Bundeskanzler und Autor des Buches „Wohlstand für Alle“ (Erhard 1957), den Stellenwert des Konsums für die Deutschen nach dem Krieg. Gleich zu Anfang der jungen Bundesrepublik rückte er den Konsum als „wesentliches demokratisches Grundrecht“ in die Mitte der Nachkriegsgesellschaft (Erhard 1957). Die „langen 50er Jahre“ (Abelshauser 1987) begannen und bereiteten mit ihren Konsummöglichkeiten den Boden für eine Demokratie, bevor sie mit der ersten Nachkriegswirtschaftskrise 1967 endeten und die Mitscherlichs die „Unfähigkeit zu trauern“ feststellten. Es war kein Zufall, dass die NPD in dieser Zeit erstarkte und dass ihr am Ende 1960er-Jahre und in den Folgejahren der Einzug in zahlreiche Landesparlamente Westdeutschlands gelang.
Die Integrationskraft bezog die Demokratie aus dem Aufstiegsund damit Konsumversprechen: Der Mittelstand wurde zur zentralen, scheinbar einzig verbliebenen Schicht (Schelsky 1955, S. 218). Ihr anzugehören ging mit dem Versprechen eines grenzenlosen Konsums einher (Andersen 1997). Allerdings ist das Nachkriegsdeutschland kein Einzelfall. Irgendetwas musste bereits mit dem Konsum verbunden gewesen sein, damit er für die Deutschen als narzisstisches Regulativ funktionieren konnte. Um diese Rekonstruktion muss es gehen, wenn man verstehen möchte, was es mit dem antidemokratischen Reflex auf wirtschaftliche Krisenszenarien in der Mitte der Gesellschaft auf sich hat. Hierfür bedarf es des Verständnisses einer Gesellschaft, in deren Mittelpunkt die Ware steht, deren Konsum über Wohl und Wehe ihrer demokratischen Verfasstheit entscheidet. Dass, wie Marcuse es prognostizierte, der „Kapitalismus“ als Gesellschaftsform zum integrierenden Ideal werden konnte, bedeutet jene Verschiebung, die aus dem Veralten des Autoritären Charakters resultiert: Nicht mehr die Identifikation mit der Autorität ist mit dem Versprechen verschwistert, selbst an Macht und Wohlstand teilzuhaben, sondern der Wohlstand wird selbst zum idealen Objekt von Stärke und Macht. Wie ein Drogenabhängiger an der Nadel, so hängen die Gesellschaftsmitglieder an den Waren. Im Entzug kann dann für nichts mehr garantiert werden. Dabei ist die Not eine relative: „Wer sich nicht nach den ökonomischen Regeln verhält, wird heutzutage selten sogleich untergehen.“ (Adorno 1955, S. 47). Das macht es schwer verständlich, dass bei ausbleibender Teilhabe am Wohlstand die Aggression ein- setzt, auch wenn „am Horizont die Deklassierung sich ab(zeichnet)“ (Adorno 1955, S. 47). Und es lässt den Verdacht aufkommen, dass in einer Ökonomie, die auf Warenproduktion setzt, etwas offenbar dringender gebraucht wird als es die Befriedigung der Bedürfnisse notwendig machen würde. Der Hype um jedes neue Apple-Produkt illustriert dies beispielhaft. Die Bedeutung, die dieser Wohlstand hat, die Ökonomie als gemeinsames Ideal und der Konsum als individueller Ertrag derselben, ist bisher kaum erhellt worden (Siegrist 1997). Kulturwissenschaftliche Untersuchungen zum „Distinktionsgewinn“ verschärfen den Erklärungsnotstand eher noch, als dass sie ihn aufheben könnten (Bourdieu 1984). Auch hier kann nur eine Richtung skizziert werden. Die Verhältnisse in dieser Gesellschaft sind immer noch von autoritären Strukturen geprägt. Das Verhältnis zur Autorität allerdings zeichnet aus, das hat Horkheimer schon 1936 festgestellt, einer Hoffnung auf „Gnadenwahl“ gleichzukommen (Horkheimer 1936, S. 384). Gnadenwahl, das ist eigentlich eine religiöse Dimension. Ökonomie und Religion, wie passt das, zumal in einer säkularen Gesellschaft, zusammen?
Nehmen wir diesen Hinweis ernst und schließen an den Gedanken von Marcuse zum „Kapitalismus“ als Erbe eines Führers oder einer Autorität und damit als neues gemeinsames Ideal Vieler an (Marcuse 1963, S. 69), dann bietet sich ein Ansatzpunkt. Weber (1920), ein der Kapitalismuskritik gänzlich unverdächtiger Soziologe, untersuchte den Stellenwert der Warenwelt und kam dabei zu dem Ergebnis, dass der Kapitalismus keine so große Religionsferne hat, wie die Fürsprecher einer ökonomischen Rationalität es behaupteten. Im Gegenteil: Die Waren produzierende Gesellschaft lebt nach Webers Auffassung von einem theologischen Versprechen, das die Wirkung ökonomischer Teilhabe oder des Ausgeschlossenseins von ihr schlagartig erhellt. Die kapitalistische Ökonomie ist aufs Engste mit religiöser Vorstellung verbunden. Trotz der einsetzenden Säkularisierung, so Weber, konnte auch der moderne Mensch nicht auf eine Rückversicherung, am Ende seiner Tage nicht von Gott verworfen zu werden, verzichten. Nach der christlichen Idee, dass an einem verdorrten Baum auch keine Frucht gedeihen könne, wurde der weltliche Reichtum als Ausweis der „Gnadenwahl“ genommen: Die Verfügung über die Warenwelt wurde so zur Versicherung der Erwähltheit, zunächst jener durch den christlichen Gott. Weber stellte im Verlaufe seiner Untersuchungen fest, dass diese rationalisierte und bezifferbare Rückversicherung, der abstrakte Reichtum, das akkumulierte Kapital, von der Transzendenz des Bestehenden nicht ausgeschlossen zu sein, auch dringend gebraucht worden ist.
Hierin lässt sich die Verwurzelung der warenproduzierenden Gesellschaft in der Erneuerung des Heilsversprechens wieder finden. So könnte man sagen, dass die Stellung des Rechtsextremismus als „Alltagsreligion (das) Nebenprodukt missglückter Säkularisierung (ist)“ (Claussen 1992, S. 163) und damit gleichzeitig die Heilsbotschaft dieser Gesellschaft wie ihre Unzulänglichkeit illustriert. Schließlich kann es an Gnadenversicherung nie genug geben, sie wird so dringend gebraucht, dass der kapitalistische Markt, auf dem ihre Verfügbarkeit sichergestellt wird, immer expandieren muss. „Die im Geldvermögen angelegte ‚Utopie', nämlich die Verheißung privater Verfügung über die Totalität menschlicher Möglichkeiten, holt das Reich Gottes auf die Erde und stellt es dem Individuum zur Disposition.“ (Deutschmann 1999, S. 104). Die Rückversicherung der Gnadenwahl über den akkumulierten Reichtum – jene Logik, die Max Weber im Protestantismus ausgemacht hat – verweist nicht allein auf eine Gnade im Jenseits, sie ist der Versuch, den Trostmitteln im Diesseits habhaft zu werden. Diese Trostmittel sind Waren (Decker 2014). Nicht, dass irgendeineR wirklich glaubt, mit der Ware über ein Heilsgut zu verfügen. Aber mit der Radikalisierung der Diesseitigkeit der Gnadenwahl wird nun der Markt selbst zu fast so etwas wie einem Gott. Er kann erwählen und verstoßen und anders als alle anderen Waren erfährt der Mensch diese Verworfenheit vom Markt selbst (Türcke 2002, S. 187). Nicht mehr die Identifikation und die Unterwerfung unter eine Autorität gewähren Schutz. Die einzig verbliebene Autorität des Marktes lässt als Schutz scheinbar nur noch die Aggression gegen jene zu, die nicht mehr dazugehören. Eines scheint klar zu sein: Der Rechtsextremismus ist „unauflöslich mit missglückter Emanzipation aus vorkapitalistischen Verhältnissen verknüpft.“ (Claussen 1991, S. 194). Wird die soziale Akzeptanz – und das ist in einer kapitalistischen Gesellschaft immer die des Marktes – entzogen, dann werden die Prekarisierung und deren Radikalisierung in Krisen zur Gefahr für die Demokratie.