Diskussion
Historisch war eine besondere Anfälligkeit der „Mitte“ der Gesellschaft für antidemokratische Einstellungen zu beobachten, die den Nazis die Machtübernahme ermöglichte und die auch heute noch Grund zur Sorge bereitet. Der vorliegende Beitrag argumentiert, dass die Gefahr insbesondere in der Plombenfunktion des kapitalistischen Konsumversprechens liegt. Ein Wegbrechen der Plombe, d. h. die Enttäuschung der geglaubten Versprechen, führt aufgrund der latent gebliebenen autoritären Grundstruktur der Gesellschaft zu autoritären Reaktion gegen Schwächere bzw. „Andere“. Dies lässt sich als antidemokratische, oder wie im Falle der Leipziger „Mitte“-Studien, als rechtsextreme Einstellung empirisch beschreiben und als sekundärer Autoritarismus bezeichnen.
Die vorgestellten, einen Zeitverlauf über 12 Jahre abbildenden Ergebnisse bestätigen die theoretischen Überlegungen insbesondere insofern als die geglaubten und dann enttäuschten Versprechen auf Konsum in Ostdeutschland das Wegbrechen einer Plombe offensichtlich machen. In der Sozialforschung ist bekannt, dass die rechtsextreme Einstellung in Zeiten der wirtschaftlichen Krise zunimmt. 2014 sehen wir den umgekehrten Fall: Die Bundesrepublik Deutschland befindet sich bildlich gesprochen in einer Insellage. Die wirtschaftliche Gesamtentwicklung ist mit Wirtschaftswachstum und Exportsteigerung so gut wie seit Jahren nicht mehr. Dass die wirtschaftliche Situation damit auch noch in einem deutlichen Kontrast zu allen anderen Ländern in Europa steht, akzentuiert die Entwicklung und stabilisiert die Mitte der Gesellschaft.
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Priv.-Doz. Dr. phil. Oliver Decker PD Dr. phil. Sprecher des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismusund Demokratieforschung, Universität Leipzig und Leiter des Forschungsbereichs Werte und Einstellung der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie. Seit 2002 zusammen mit Elmar Brähler Leiter der „Mitte“-Studien, 2015 als Visiting Professor im Studiengang Critical Theory and the Arts, School of Visual Arts, New York. Letzte Monographie: (2014) Commodified Bodies. Organ Transplantation and the Organ Trade. New York: Routledge.
Johannes Kiess MA ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Sozialwissenschaften der Universität Siegen und hier beschäftigt im EU-Pojekt „LIVEWHAT – Living with Hard Times: How European Citizens Deal with Economic Crisis and Their Social and Political Consequences“. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Rechtsextremismusforschung, Europasoziologie, industrielle Beziehungen und politische Theorie.
Prof. Dr. rer. biol. hum. Elmar Brähler war Leiter der Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie der Universität Leipzig, affiliert an der Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Universitätsmedizin Mainz. Letzte Buchveröffentlichung (zus. mit Oliver Decker und Johannes Kiess; 2015) Rechtsextremismus der Mitte und sekundärer Autoritarismus. Gießen: Psychosozial-Verlag.