Abstiegsangst und Tritt nach unten? Die Verbreitung von Vorurteilen und die Rolle sozialer Unsicherheit bei der Entstehung dieser am Beispiel Österreichs
Julia Hofmann
Einleitung
Der Begriff der „Solidarität“ ist – wie alle großen philosophischen Konzepte – schwer zu bestimmen und politisch stark umkämpft (Kreisky 1999). Die gesellschaftspolitischen Diskussionen ranken sich meist um Fragen wie: Wer soll wem gegenüber solidarisch sein? Was heißt Solidarität konkret, also als gelebte Praxis? Und: Wo liegen die Grenzen der Solidarität? Solidarität wird im „Kleinen Lexikon der Politik“ als „wechselseitige Verpflichtung (der, A.d.V.) Mitglieder von Gruppen oder Organisationen füreinander einzustehen“ (Nohlen 2002, S. 501) definiert. Als „Zentrumsbegriff der Moderne“ (Metz 1998, S. 172) geht Solidarität über reine Nächstenliebe hinaus und bildet somit ein „symbolisches Band zwischen den Mitgliedern einer Gesellschaft der Individuen“ (Arendt 1974, S. 9).
Solidaritätsbrüche sind demgegenüber Prozesse und Mechanismen, bei denen Gesellschaftsmitgliedern diese Unterstützungsleistung entzogen wird. In ihrer extremsten Form können Solidaritätsbrüche auch dazu führen, dass Personen(-gruppen) nicht mehr als Teil des Ganzen anerkannt und ausgestoßen werden. Die Gren- zen der Solidarität sind somit nicht als fix anzusehen; sie werden in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen permanent neu verhandelt. Émile Durkheim hat diesen Prozess der Konstruktion und Rekonstruktion von Zugehörigkeit mit dem Begriff der „organischen Solidarität“ zu fassen versucht (Durkheim 1893/1977, S. 111 ff.). Insbesondere in (ökonomischen) Krisenzeiten mehren sich die Auseinandersetzungen um die Grenzen von Solidarität. Eine Folge der Zunahme materieller Verteilungskonflikte kann sein, dass die Grenzen enger gezogen werden, indem zwischen „primären“ und „sekundären“ Gesellschaftsmitgliedern – auf Basis nationaler, kultureller, ethnischer und religiöser Zuschreibungen – unterschieden wird. Marginalisierte soziale Gruppen werden durch solche Grenzziehungsprozesse oftmals als „BürgerInnen zweiter Klasse“ definiert; dadurch wird ihnen ihr Anspruch auf Solidarität diskursiv entzogen.
Ein Indikator für einen kommenden Solidaritätsbruch gegenüber marginalisierten sozialen Gruppen kann die Zunahme von Vorurteilen sein. Zwar schlagen sich Einstellungen nicht automatisch in sozialem Handeln nieder (Mummendey 1988), dennoch können sie als Nährboden für ein bestimmtes Verhalten dienen. Je verbreiteter Vorurteile in einer Gesellschaft sind, umso eher können sie also einen Solidaritätsbruch zur Folge haben und den sozialen Zusammenhalt an sich gefährden (Heitmeyer 1992; Decker et al. 2010).
Dementsprechend setzt sich der vorliegende Beitrag auch näher mit dem Thema der Vorurteile gegenüber marginalisierten sozialen Gruppen[1] auseinander. Das Konzept der „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (Heitmeyer 2002–2011) nutzend werden zwei Ziele verfolgt: In Abschn. 1 setzt er sich mit der Verbreitung von Vorurteilen gegenüber marginalisierten sozialen Gruppen am Beispiel Österreichs auseinander. In Abschn. 2 soll geklärt werden, ob und wenn ja, welchen Einfluss soziale Unsicherheiten – also objektiv prekäre soziale Lagen – und Verunsicherungen – wie etwa subjektive Abstiegsängste – auf Grenzziehungsprozesse und Solidaritätsbrüche im Land haben.
- [1] In Anlehnung an Heitmeyer (2002–2011) werden die folgenden sozialen Gruppen als marginalisiert betrachtet: JüdInnen, MuslimInnen, AsylwerberInnen, MigrantInnen im Allgemeinen sowie sozial Schwache (etwa „Langzeitarbeitslose“ und Obdachlose)