Soziale Unsicherheit, Verunsicherung und relative Deprivation in Österreich
Aus der Ungleichheitsforschung ist bekannt, dass soziale Unsicherheiten und Verunsicherungen in den westlichen Gesellschaften (und demnach auch in Österreich) spätestens seit den 1990er Jahren wieder allgegenwärtig sind. Der französische Soziologe Robert Castel (2009) führt diese Wiederkehr sozialer Unsicherheit auf die Krise der Lohnarbeit und die schleichende Erosion des Sozialstaates seit den 1980er Jahren zurück. Die Bandbreite der von Castel identifizierten Probleme reicht dabei von neuen prekären Arbeitsund Lebenswelten bis hin zu Abstiegsund Positionsängsten in der sogenannten „Mitte“ der Gesellschaft. Die gegenwärtige Wirtschaftskrise und die Krisenbewältigungsstrategien lassen, Castel folgend, eine Vertiefung dieser gesellschaftlichen Spaltungen erwarten.
Zieht man alleinig ökonomische Kennziffern heran, so wird die Wiederkehr sozialer Unsicherheit in Österreich kaum deutlich: Nach zwei Jahren der annähernden Stagnation liegt das Wirtschaftswachstum laut Prognosen 2014 bei 1,5 %. Die Arbeitslosenrate ist im Verhältnis zu anderen EU-Ländern relativ gering; innerhalb der EU-28 hatte Österreich 2013 sogar die niedrigste Arbeitslosenrate zu verzeichnen (Eurostat 2014). Des Weiteren ist das System der Arbeitsbeziehungen relativ stabil; über 90 % der unselbstständig Erwerbstätigen unterliegen beispielsweise einem Kollektivvertrag (OECD 2012). Auch die sozialstaatlichen Leistungen sind weiterhin umfassend ausgebaut: Die Sozialquote liegt konstant bei 25–30 % des BIP und damit im oberen Drittel der EU-28 Staaten; der Gini-Index liegt bei 0,263, in den EU-28 bei 0,3 (Leibetseder 2012).
Diese ökonomischen Kennzahlen täuschen jedoch darüber hinweg, dass wir es auch in Österreich mit einer Zunahme sozialer Unsicherheit und von Verunsicherungen zu tun haben. ArbeitssoziologInnen weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass auch das oft als „Insel der Seligen“ bezeichnete Land von Wandlungsprozessen am Arbeitsmarkt und im Sozialbereich betroffen ist: Das österreichische Nachkriegsmodell (der sogenannte Austro-Keynesianismus) geriet Mitte der 1980er Jahre zunehmend in die Krise, die Arbeitslosenraten stiegen im Verhältnis zu den 1970er Jahren an und die notwendigen Sozialausgaben erhöhten sich (Haller 2008; Hermann und Atzmüller 2009). Seit den 1980er Jahren kam es daher zu weitreichenden Veränderungen in der Arbeitsund Sozialpolitik Österreichs, u. a. zu Flexibilisierungen am Arbeitsmarkt sowie Aktivierungsund Sparmaßnahmen im Bereich der Sozialpolitik. Eine Folge dieser veränderten Politiken und des Austro-Neoliberalismus war der Anstieg prekärer Beschäftigungsverhältnisse (Geisberger und Knittler 2010) sowie stagnierende bzw. sinkende Reallöhne (Schulten 2013). Insbesondere sozial Benachteiligte, Frauen, junge Menschen und MigrantInnen wurden und werden in Österreich durch diese Politiken benachtei- ligt; die soziale Mobilität nimmt ab, es kommt vermehrt zu sozialer Schließung und zu einer Spaltung der Gesellschaft (Beigewum et al. 2002). Hinsichtlich der aktuellen Wirtschaftskrise seit 2008 muss man in Österreich zwar etwas genauer hinsehen als in den stark krisengeschüttelten Ländern, wie etwa Spanien, Irland oder Griechenland, dennoch sind zahlreiche ÖsterreicherInnen eigenen Angaben zufolge auch hierzulande mit kleinteiligen Krisenbetroffenheiten konfrontiert: Über 50 % der Befragten geben etwa an, dass sie größere Investitionen seit Ausbruch der Krise verschieben mussten, knapp 60 % kaufen vermehrt im Ausverkauf, 40 % sparen in der Freizeit, d. h. sie verzichten auf Kino-, Theateroder etwaige andere Veranstaltungsbesuche (eigene Erhebung 2012).
Neben der Zunahme der (objektiven) sozialen Unsicherheit ist das Ausmaß der (subjektiven) sozialen Verunsicherung ein weiterer wichtiger Indikator. Unter sozialer Verunsicherung werden meist alle individuellen bzw. gruppenbezogenen Ängste subsumiert, die sich auf die Bereiche der „Arbeit“ und des „Sozialen“ beziehen. Auf individueller Ebene kann das neben der Angst vor Verschuldung die Angst vor Arbeitslosigkeit oder die Angst, dass sich die eigene wirtschaftliche Lage in naher Zukunft verschlechtert, sein. Auf gruppenbezogener (meist gleichbedeutend mit nationaler) Ebene versteht man unter sozialer Verunsicherung die Angst vor Verschlechterungen oder Kürzungen im Sozialbereich sowie die Angst, dass sich die wirtschaftliche Lage des eigenen Landes verschlechtert. Neben der sozialen Verunsicherung wird immer wieder auch das Ausmaß (individueller) relativer Deprivation als Indikator herangezogen. Unter individueller relativer Deprivation wird ein Gefühl der Benachteiligung verstanden, dass sich aus dem Vergleich mit anderen Bevölkerungsgruppen ergibt. Personen, die der Meinung sind nicht ihren gerechten Anteil in der Gesellschaft zu erhalten (meist finanziell gesehen), erfahren soziale Wandlungsprozesse – wie Habermas (1973, S. 12) es ausgedrückt hat – „bestandskritisch“ und fühlen sich in ihrer sozialen Identität bedroht.
Eigene Daten zeigen, dass insbesondere die gruppenbezogene (= nationale) Verunsicherung in Österreich trotz der Wirtschaftsdaten und des gut ausgebauten Sozialstaates sehr verbreitet ist: Knapp 60 % der Befragten machen sich oft (ca. 20 %) bzw. manchmal Sorgen darüber, dass sich das österreichische Sozialsystem verschlechtert; 50 % (davon 15 % oft) sorgen sich über Verschlechterungen am Arbeitsmarkt. Die individuelle Verunsicherung ist in Österreich zwar nicht ganz so stark ausgeprägt wie die gruppenbezogene Verunsicherung, dennoch: Ca. 20 % haben Angst in naher Zukunft arbeitslos zu werden und ca. 40 % machen sich Sorgen darüber, dass sich ihr Lebensstandard verschlechtern könnte (vgl. Abb. 11.7). Dieses Ausmaß der Verunsicherung ist vergleichbar mit deutschen Daten – laut den letzten Daten des 10-Jahres-Projekt „Deutsche Zustände“ waren 2012 etwa rund 30 % der Deutschen der Meinung, dass sich ihr Lebensstandard in Zukunft ver-
Abb. 11.7 Ausmaß sozialer Verunsicherung in Österreich. (Quelle: eigene Daten 2012 (Ifes) © Julia Hofmann)
schlechtern würde. Ebenso viele hatten Angst in nächster Zeit arbeitslos zu werden (Mansel et al. 2012, S. 114 ff.).
Gleichzeitig ist auch das Ausmaß individueller relativer Deprivation [1] mit knapp 36 % in Österreich relativ hoch – 36 % der Bevölkerung sind also der Meinung, dass ihnen weniger als ihr gerechter Anteil zu Verfügung steht. Demgegenüber sind 64 % nicht depriviert – 62 % sind zufrieden mit ihrem Anteil; 2 % sind der Meinung, dass ihnen mehr als ihr gerechter Anteil zu Verfügung steht (vgl. Abb. 11.8).
Abb. 11.8 Relative Deprivation in Österreich. (Quelle: eigene Daten 2012 (Ifes) © Julia Hofmann)
- [1] Hier gemessen mit einem Item: „Im Vergleich dazu wie andere hier in Österreich leben: Wie viel glauben Sie, erhalten Sie persönlich? a) mehr als meinen gerechten Anteil, b) meinen gerechten Anteil, c) weniger als meinen gerechten Anteil“