Die Perspektive der Verfassungsschutzbehörden

Die entsprechenden Gefahrenanalysen liefern die Bundesund Landesämter für Verfassungsschutz in ihren jährlichen Jahresberichten. So sieht das zuständige Bundesamt den Rechtsextremismus als ein Feld, dessen Protagonisten durch ein gemeinsames "ideologisches Band" zusammengehalten werden:

"Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus sowie generelle Demokratiekritik sind nur einige Aspekte der rechtsextremistischen Weltanschauung" (Bundesministerium der Innern (BMI) 2014: 62).

Diese Ideologieelemente fallen insoweit unter den Arbeitsauftrag der Behörde, als dass sie Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung darstellen können, die ein Tätigwerden im Bereich der Vorfeldaufklärung, ggf. unter Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel, rechtfertigen. Schon hier deutet sich an, dass die Frage, ab wann die entsprechenden Ideologieelemente in ihrer Summe die Grenze einer extremistischen Bedrohung konkret überschreiten, keineswegs trivial ist.

Nach Angaben des Bundesverfassungsschutzes waren dem rechtsextremistischen Spektrum 2013 nach wie vor mehr als 20 000 Personen zuzurechnen von denen mehr als 9 500 als gewaltbereit eingestuft werden (BMI 2014: 68). Zum rechtsextremen Personenpotential zählt die Behörde zum einen die Anhängerschaft rechtsextremer Subkulturen, das neonazistische Spektrum und die Mitgliederbasis rechtsextremer Parteien und anderer ideologisch gleichgesinnter Organisationen. Mehr als 16 500 Straftaten gingen auch 2013 auf das Konto rechtsextremistisch motivierter Täter (ebd.: 38).

Wie die Abbildung dokumentiert, war die Zahl der behördlich als Rechtsextremisten erfassten Personen in den vergangenen zehn Jahren deutlich rückläufig, was sich vor allem aus der Entwicklung innerhalb der rechten Parteienlandschaft erklärt: Während die – zuletzt mit 6000 Mitgliedern erfassten – Republikaner (REP) seit 2007 nicht mehr in den Statistiken des Verfassungsschutzes erscheinen, trat 2012 die neu gegründete Partei Die RECHTE hinzu, was den anhaltenden Mitgliederschwund der schwächelnden NPD statistisch annähernd kompensierte. Bereits im Jahr zuvor hatte sich die zuletzt auf 1000 Mitglieder geschrumpfte DVU aufgelöst und war mit der NPD fusioniert, wobei ehemalige DVU-Funktionäre maßgeblich an der Gründung von Die RECHTE mitwirkten.

Abseits dieser eher quantitativen Einschätzungen liefern die Berichte des Verfassungsschutzes einen Überblick zu aktuellen Entwicklungen innerhalb der jeweiligen

Abbildung 1 Rechtsextremistisches Personenpotential im Zeitverlauf (Datenquelle: Verfassungsschutzberichte des Bundes und der Länder)

politischen Spektren, die das gegenwärtige Bild des deutschen Rechtsextremismus bis weit hinein in die publizistische Berichterstattung prägen. So präsentiert sich Rechtsextremismus auch aus Sicht von Verfassungsschützern als planvoll ausgestaltete Erlebniswelt (Glaser/Pfeiffer 2013), deren Angebote auf die Bedürfnisse heterogener Teilzielgruppen zugeschnitten sind. Längst hat die Szene auch das Web 2.0 und die Sozialen Netzwerke für sich erschlossen. Wie das Modellprojekt no-nazi.net dokumentiert, ist es Rechtsaußen-Parteien in den vergangenen Jahren gelungen, über verschiedene, mehr oder weniger offen rechte Facebook-Auftritte ein enormes Maß an Aufmerksamkeit und Zustimmung zu generieren: "Gemessen an Like-Zahlen und dem Verbreitungsgrad der Inhalte haben sie es mittlerweile geschafft, die demokratischen Parteien deutlich zu überholen" (Baldauf/Switkes vel Wittels i. Ersch.). Dabei versuchen sie verstärkt, an laufende gesellschaftliche Debatten anzuknüpfen, die Ökologie, Tierschutz, Kindesmissbrauch oder die Solidarität mit Katastrophenopfern betreffen und diese schleichend zu Propagandabühnen umzufunktionieren (vgl. BMI 2014: 67 f.). Zudem wird gezielt Stimmung gegen die Unterbringung von Asylsuchenden und Flüchtlingen gemacht, um – z. T. unter dem Deckmantel von Bürgerinitiativen – Wasser auf die rechten Mühlen zu leiten.

Der moderne Rechtsextremismus bietet seinen Anhängerinnen und Anhängern eine breite Palette von Medienund Eventangeboten, beispielsweise – nach unterschiedlichsten Sparten diversifizierte – Szenemusik sowie ideologisch einschlägige Comics und Computerspiele. In der Gesamtschau ist eine anhaltende Diversifikation des Spektrums zu beobachten, das tendenziell zwar kleiner wird, dessen harter Kern sich aber weiter (auch nach Einschätzung der Behörden) radikalisiert.

Da der Extremismusbegriff in seiner exekutiven Dimension eine Maßgabe staatlichen Verwaltungshandelns darstellt, gestaltet es sich grundsätzlich schwierig, die wissenschaftliche Nutzung des Terminus aus dem Kontext politischer Debatten (und juristischer Auseinandersetzungen) herauszuheben.

"Viele gängige Definitionen (…) beziehen sich im Hinblick auf die zugrundeliegenden Werteordnungen auf das Grundgesetz und die dort festgelegten Vorschriften und Wertentscheidungen. So gesehen kann man von einem breiten Konsens darüber ausgehen, wie eine positive Bestimmung des Extremismus vorzunehmen wäre, nicht aber in der Frage, wem die Autorität der Anwendung zuzuschreiben ist." (Jaschke 2006: 19)

Gerade in Deutschland markiert der Terminus eine Grenze, deren Überschreitung für die Teilnehmer des pluralistischen Diskurses mit schwer wiegenden gesellschaftlichen Sanktionen verbunden sein kann. Als extrem eingestufte Positionen unterliegen einer besonders kritischen Beobachtung durch die Öffentlichkeit und werden ggf. auch mit rechtsstaatlichen Mitteln bekämpft.

Es verwundert von daher nicht, dass der Streit um die behördliche und wissenschaftliche Verortung bestimmter Akteure, Gruppen und Organisationen vor allem dort besonders intensiv geführt wird, wo die Abgrenzung sich schwierig gestaltet. Mit Blick auf das rechte Spektrum betrifft dies in erster Linie die Netzwerke (vgl. Braun/Hörsch 2004) der so genannten "Neuen Rechten", der – je nach Standpunkt – eine intermediäre Scharnierfunktion zwischen Konservativismus und Rechtsextremismus (Gessenharter 1994: 426 f.) oder eine spezielle Positionierung innerhalb des rechtsextremen Kontextes zugeschrieben wird. Aus letzterem Blickwinkel erscheint sie "als Avantgarde – somit auch als eine Ideologieschmiede – sowie als Brücke zur gesellschaftlichen Mitte" (vgl. Pfeiffer 2004b: 68). In Gesprächskreisen, Seminaren oder eigenen Messen bemühen sich die führenden neurechten Köpfe, mehr oder weniger einmütig und erfolgreich, unterschiedliche Strömungen innerhalb des rechten Spektrums miteinander ins Gespräch zu bringen, politische Begriffe zu besetzen und über gesellschaftlich-kulturelle Debatten Einfluss auf die Politik zu nehmen. Die Neue Rechte beruft sich dabei insbesondere auf antidemokratische Theoretiker, die in der Weimarer Republik für eine "konservative Revolution" von rechts eintraten, und konnte in der Vergangenheit zumindest in Ansätzen erfolgreich auf eine "Erosion der Abgrenzung zwischen demokratisch-konservativen und extremistisch-rechten Intellektuellen auf publizistischer Ebene" (Pfahl-Traughber 2006: 46) hinwirken.

Ihre Janusköpfigkeit teilt die eher metapolitisch orientierte "Neue Rechte" mit jener Partei, in der sich gegenwärtig die parteipolitischen Hoffnung ihrer Anhänger bündeln: der Alternative für Deutschland, deren politische Verortung einen Kern nationalkonservativer und neoliberalen Ideen umkreist, gerade in ihren rechtspopulistischen Ausfällen immer wieder die Grenze zum Rechtsradikalismus streift (vgl. Häusler/Teubert/Roeser 2013).

So verwundert es nicht, dass die rechte Wochenzeitung Junge Freiheit (JF) die aktuelle Entwicklung der AfD journalistisch überaus intensiv begleitet. So erklärte JFGründer und Chefredakteur Dieter Stein unter der Rubrik "in eigener Sache":

"Schreiben wir in der JUNGEN FREIHEIT zuviel über die junge Partei Alternative für Deutschland (AfD)? Es gibt Leser, die uns dafür kritisieren. Einzelne werfen uns vor, wir seien "fast schon eine Parteizeitung". Das ist selbstverständlich nicht unsere Absicht. Woher aber dann das besondere Interesse? Wenn wir 20 Jahre Wochenzeitung JF Revue passieren lassen, dann hat die Frage einer Erweiterung oder Ergänzung des deutschen Parteienspektrums eine konstante und zentrale Rolle in unserer Berichterstattung gespielt. (…) Zweifellos ist die bisherige Entwicklung der AfD für die Parteiengeschichte der Bundesrepublik ohne Beispiel. Seit dem Verschwinden der Deutschen Partei, die von der CDU in den sechziger Jahren aufgesaugt worden war, ist sie die erste ernsthafte konservative Herausforderung für sie und die CSU, die an die Substanz gehen könnte. Insofern ist es für die künftige Ausrichtung der Republik von enormer Bedeutung, ob sich die Arithmetik durch die AfD verschiebt: Die Union verliert ihr Monopol auf Vertretung der bürgerlichen Mitte, die FDP geht als linksliberaler Faktor unter, und es eröffnen sich so Spielräume für rechtsliberale, konservative Politikinhalte." (Stein 2014)

Auch wenn die Junge Freiheit in ihrer Geschichte eine durchaus spürbare rhetorische Mäßigung durchlaufen hat, dürfte die Bewertung dessen, was für Stein rechtsliberale und konservative Inhalte darstellt, je nach politischer Perspektive überaus unterschiedlich ausfallen. Denn nach wie vor gilt die umstrittene Wochenzeitung als publizistisches Flaggschiff (vgl. Braun/Geisler/Gerster 2007) einer Strömung, deren erklärtes Ziel es ist, die Grenzen des gesellschaftlich toleriert Sagbaren nach rechts zu verschieben, bis letztlich die "kulturelle Hegemonie" (vgl. Salzborn 2014: 61; Puttkamer 2004: 212 f.) errungen ist.

Eine allzu stark auf den harten Kern des Rechtsextremismus verengte Perspektive birgt die Gefahr, problematische Dynamiken im Wechselspiel mit der Mehrheitsgesellschaft auszublenden – insbesondere dort, wo es um die Grenzen dessen geht, was noch als konservativ gelten darf (bzw. bereits als extrem rechts gelten muss):

"Die Grenzen zwischen Rechtsextremismus und gerade Konservatismus sind empirisch wie historisch offensichtlich fließend – ob hier allerdings stärker die Gemeinsamkeiten zwischen Rechtsextremismus und Konservatismus betont werden, oder stärker die – zweifelsfrei auch gewichtigen – Differenzen, hängt eben vom politischen und erkenntnistheoretischen Standort des Forschers ab" (Salzborn 2014: 9).

Auch darüber hinaus stellt sich der Einfluss der damit verbundenen behördlichen Definitionsmacht nur bedingt fruchtbar für die wissenschaftliche Erforschung des Gesamtkomplexes dar [1]:

"Eine Reduktion auf den Verfassungsbogen und die Problematik der streitbaren Demokratie allein kann aus politikwissenschaftlicher Sicht der Sache nicht gerecht werden, denn damit wird der politische Extremismus per definitionem verkürzt auf die Messlatte des Grundgesetzes. Internationale Entwicklungen auf der einen Seite, historisch langfristige Tendenzen, die weit vor 1949 ansetzen, geraten so leicht aus dem Blick." (Jaschke 2006: 26)

  • [1] Eben deshalb geht die gelegentlich geäußerte Unterstellung ins Leere, das Konzept der extremen Rechten ziele nachgerade zwanghaft darauf ab, irreführende Parallelen der heutigen extremen Rechten zum historischen Nationalsozialismus zu zeichnen, um hinter allem Rechten unterschiedslos "die Fratze Hitlers freizulegen" (Brodkorb 2008). Gerade die Modernisierungsversuche der NPD sind ein Beispiel dafür, wie sich der gegenwärtige Rechtsextremismus bemüht, die allzu offensichtliche Verherrlichung Hitlers oder des historischen Nationalsozialismus zu vermeiden. Analog beziehen sich Teile der so genannten "Neuen Rechten" gezielt auf antidemokratische Vordenker aus Weimarer Tagen, um einen historisch nicht desavouierten Anknüpfungspunkt zur Verbreitung rechter Ideologie zu besetzen (vgl. Braun/Geisler/Gerster 2007: 25).
 
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