Theodor Eschenburg als Spiegelbild der Brüche deutscher Zeitgeschichte
Wenn Marion Gräfin Dönhoff in späteren Jahren an Eschenburg schrieb, nannte sie ihn „lieber Meister“. Am 18. April 1957 hatte sie ihm eine regelmäßige Mitarbeit in Aufsatzform bei der Zeit offeriert, zu Themen seiner Wahl und gegen ein nicht unbeträchtliches monatliches Honorar: „Wenn ich mir zum Beispiel Ihr Buch vom vorigen Jahr ansehe oder Ihre Broschüren und Aufsätze zur Staatsbürgerkunde oder ähnlichen Themen, so scheint mir, dass in jeder dieser Arbeiten eine ganze Fülle von Aufsätzen enthalten ist, die nicht nur der Zeit zum Schmuck dienen würden, sondern auch einem erweiterten Leserkreis höchst zuträglich wären.“ Das Angebot schlug sich in einer am 27. Mai desselben Jahres getroffenen Vereinbarung nieder, wonach Eschenburg auf unbestimmte Zeit monatlich zwei bis drei Aufsätze liefern sollte.
Hinter Dönhoff lag eine Auseinandersetzung, die Dahrendorf als „siebenjährigen Krieg“ um die Zeit bezeichnet hat und in deren Mittelpunkt die Leiterin des Ressorts Politik 1954 gerückt war. Unter den Chefredakteuren Ernst Samhaber und seinem Nachfolger Richard Tüngel hatte die Zeit „rechts der Mitte“ gestanden, „weiter rechts als die CDU“ (Dahrendorf), wobei Tüngel „den Rechtsdrall des Blattes… forcierte“: Einer wachsenden Zahl an ehemaligen „Mitglieder[n] der Informationsund Presseabteilung des Ribbentropschen Auswärtigen Amtes“ bot er ein Forum. Dazu passte, dass Tüngel in „'Stürmer'-ähnliche[m] Jargon“ (Rainer Blasius) den Ankläger im Wilhelmstraßen-Prozess, Robert M. W. Kempner, als „Schädling“ titulierte, dem „das Handwerk gelegt werden“ müsse. Ein Dreivierteljahr später beschimpfte er Kempner und zwei Journalisten, die durch ihre Berichte über die Personalpolitik des wieder begründeten Auswärtigen Amtes die Einrichtung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses bewirkt hatten, in der Zeit als „seelische Krüppel“.
Dönhoff hatte den konservativ-nationalen Kurs des Blattes zunächst, wenngleich nuanciert, mitgetragen. Unter der Einwirkung westorientierter Zusammenschlüsse, die sie mitbegründete oder denen sie angehörte – Atlantik-Brücke, Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik, Kongress für kulturelle Freiheit –, begannen sich „die politischen Gräben“ zwischen ihr und Tüngel „zu vertiefen“. Über ihre Auffassung, „dass aktive, einstmals führend verantwortliche Nazis in der ‚Zeit' nicht zu Worte kommen sollten“ – es ging um Carl Schmitt, von dem Tüngel im Juli 1954 einen Artikel veröffentlicht hatte, sowie um Paul Karl Schmidt ('P. C. Holm', ‚Paul Carell'), der „bis zum Zusammenbruch täglich die Ribbentrop'sche Sprachregelung herausgab“ – kam es zum Bruch. Politischer und wirtschaftlicher Druck trug dazu bei, dass Zeit-Mitbegründer und -Hauptverleger Gerd Bucerius sich auf Dönhoffs Seite schlug. Ein Prozess brachte 1957 die endgültige Klärung zu seinen – und Dönhoffs – Gunsten.
Der Streit spielte sich vor dem Hintergrund eines rasanten wirtschaftlichen Niedergangs der Zeit ab. Dass sie „mit [ihrer] Stimme tatsächlich in sehr viele verschiedene Schichten und Ecken“ reichte, wie Dönhoff an Eschenburg schrieb, war zweifellos ihr Ziel. Der Realität entsprach die Aussage damals nicht. Dönhoff und Eschenburg kannten und schätzten einander; als sie 1954 aus der Zeit-Redaktion ausschied, hatte Eschenburg ihr seine Hilfe angeboten. „Glänzend“ und „lucide“ nannte sie seine Schreibweise in ihrem Brief. Eine neue, liberaler ausgerichtete Zeit musste ein Interregnum überbrücken – möglichst wenige bisherige Leser sollten abspenstig gemacht, möglichst viele neue hinzugewonnen werden. Ein konservativer „Tupfer“, wie Eschenburgs Artikel ihn repräsentieren würden, konnte dabei nicht schaden.
Hier wurde eine Allianz zum beiderseitigen Vorteil geschmiedet. Theo Sommers Empfehlung an Dönhoff durch Eschenburg folgte buchstäblich auf dem Fuße. Und hätte sie ihn nicht als regelmäßigen Mitarbeiter der Hamburger Wochenzeitung geworben, so wäre in mehr als drei Jahrzehnten jene kaum zu überblickende Zahl an Artikeln nicht erschienen, die Eschenburg „bundesweite Aufmerksamkeit… verschafften, … ihn überhaupt erst zum viel beschworenen praeceptor germaniae avancieren“ ließen – „zum ‚Gewissen der Nation', wie viele ihn genannt haben“. Die Leser der Zeit wurden auf Eschenburgs Artikel mit der Ankündigung eingestimmt, hier werde künftig jemand „zu aktuellen Fragen“ Stellung nehmen, dessen Karriere Stationen in Wirtschaft, Verwaltung und Wissenschaft aufweise und der „wie kein anderer die Probleme der innenpolitischen Machtabgrenzung“ kenne. Eschenburgs erste Beiträge befassten sich mit dem Versuch des BHE, seine Abgeordneten auf bestimmte Verhaltensweisen zu verpflichten; mit dem Problem des Parteibuch-Beamtentums; mit versuchter Einflussnahme bei öffentlichen Beschaffungen und anderen Praktiken des Lobbyismus. Die Beiträge folgten einem Muster, das sich am ehesten mit Überschrift und Untertitel eines EschenburgArtikels zur „Abhöraffäre“ 1963 charakterisieren lässt: „Verfall der Ordnung – Der Staatsapparat wird falsch bedient.“
Dieses Muster entsprach den Maximen, die Eschenburg in seiner Verfassungslehre Staat und Gesellschaft in Deutschland, respektive seiner späteren Schrift Über Autorität, vertrat:
- „Die Demokratie ist eine komplizierte Apparatur. Sie wird von vielen Händen bedient, ihre Schalthebel werden meist von mehreren gestellt, ihre Teile daher leicht verschmutzt und schnell abgenutzt. Es kommt daher immer wieder darauf an, die Schrauben festzuziehen, die Apparatur immer wieder zu säubern… und den Apparat zu reparieren oder zu verbessern, wo er dessen bedarf.“
- „Durch [die] pluralistische Konstruktion von Staat und Gesellschaft entsteht eine gewisse Labilität; es fehlt der haltgebende, von den Gruppen unabhängige Faktor. Was der Demokratie an haltgebenden Faktoren fehlt, muss durch die disziplinierte und einsichtsvolle Haltung des Volkes ergänzt werden… Keine Staatsform ist so sehr auf Staatsgesinnung angewiesen wie die Demokratie.“
- „Deshalb kommt es gerade auf die Festigkeit der demokratischen Organe an, damit sie bei wechselnder Besetzung die Kontinuität ihrer Autorität bewahren können. Die institutionelle Autorität bedarf der ständigen Pflege, an der es vielfach fehlt, weil die Aufgabe und das Problem nicht gesehen werden… Die Institutionen müssen um der Autorität ihrer Überordnung willen autoritätsgerecht bedient werden…“
Die aufgeführten Grundsätze leitete Eschenburg ausdrücklich aus seiner Erörterung der Demokratie als derjenigen Staatsform ab, „die am ehesten der pluralistischen Gesellschaft angemessen ist“, deren zahlreiche Machtzentren und widerstreitende Prinzipien jedoch „ein sehr kompliziertes politisches System“ erzeugen. Eschenburg wollte die Demokratie als Herrschaftssystem – als das „relativ erträglichste“ Herrschaftssystem – verstanden wissen. Für ihn blieb „die ‚Funktionalität' eines Systems entscheidend“. Deshalb stellte er „den Herrschaftscharakter des demokratischen Staates ganz stark heraus.“
Die Frage drängt sich auf, wie weit infolgedessen, nach 1945 nicht anders als zuvor, die Demokratie bei Eschenburg unweigerlich zurücktrat hinter den „Staat“. Zwei seiner Zeit-Artikel aus den Jahren 1967 und 1968, kontrastiert mit anderen Reaktionen, verdeutlichen das Problem.
Das Verhalten des Westberliner Senats und der Polizeiführung im Anschluss an den Schah-Besuch des 2. Juni 1967 löste auch in Westdeutschland zahlreiche Stellungnahmen aus. Der Bericht des Zeit-Korrespondenten Kai Hermann – der Geschichte und Politikwissenschaft unter anderem in Tübingen studiert hatte – erschien am 9. Juni unter dem Titel: „Die Polizeischlacht von Berlin. Nach der Tragödie: Die Verantwortlichen spielen sich als Unschuldige auf“. Hermann urteilte, die Polizei habe sich „als wildgewordenes Rollkommando“ gebärdet und
„gnadenlose Selbstjustiz“ geübt. „Keine“ der „mittlerweile vier“ offiziell verbreiteten Versionen über die Erschießung Benno Ohnesorgs „stimm[e] mit den Berichten der vielen Augenzeugen überein… Durch Falschmeldungen, Verweigerung von Informationen und Mangel an Informiertheit“ hätten „Senat und Polizei die Vorfälle… verschleier[t].“
In derselben Ausgabe der Zeit war unter der Überschrift „Zur Polizei und den Studenten“ eine zurückhaltend formulierte Anzeige abgedruckt, in der „nur die strikte Beachtung rechtsstaatlich-demokratischer Verfahrensprinzipien und eine rasche Aufklärung der Berliner Vorgänge angemahnt“ wurde. Sie war von 23 Personen unterzeichnet, darunter Marion Gräfin Dönhoff, Rudolf Augstein, Heinrich-Maria Ledig-Rowohlt, Siegfried Unseld, Martin Walser, Günter Grass, Alexander Mitscherlich, Georg Picht, Karl-Dietrich Bracher, Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas.
Ebenfalls in der Zeit-Ausgabe vom 9. Juni erschien einer der regelmäßigen Artikel Theodor Eschenburgs. Auch er war „aus Anlass des Schah-Besuches“ verfasst, bei dem „die Verkehrssperren auf den Autobahnen und in den Städten“ die Öffentlichkeit „erregt“ hätten. Eschenburg brach eine Lanze für das Bürgerinteresse an „zulässige[r] Verkehrsfreiheit“, wetterte gegen den „Neobyzantinismus“ hoher Würdenträger – „in einem demokratischen Rechtsstaat eine problematische Angelegenheit“ – und erkannte: Mit Vorwürfen „an die Adresse der Polizei“ mache man es sich „zu leicht“. Vorwürfe aus welchem Grund? Natürlich „wegen des Übermaßes an Verkehrssperrungen beim Schahbesuch“. Denn: „Alle anderen ersuchen oder befehlen, sie allein muss handeln.“
Ein Dreivierteljahr später riefen Senat, Abgeordnetenhaus samt dort vertretenen Parteien, DGB und Ring politischer Jugend „alle Berliner“ für den 21. Februar 1968 unter dem Motto: „Berlin steht für Frieden und Freiheit“ zu einer Kundgebung vor dem Rathaus Schöneberg auf. In dem Aufruf fanden sich die Sätze: „Wir wissen, wer unsere Freunde sind… Wir wissen auch, wo unsere Gegner stehen.“ Im Lauf verschiedener Demonstrationszüge aus den Berliner Bezirken sowie am Rand der Kundgebung selbst „entluden sich gegen eine politisch unbequeme Minderheit Aggressionen… Es kam zu zahlreichen Ausschreitungen“ gegen junge Leute, in denen man auf Grund ihres Aussehens Studenten vermutete. „Mehr als 40 Personen wurden verprügelt, drei mußten nach dem Bericht der Polizei ins Krankenhaus eingeliefert werden.“ Ein Mann, der irrtümlich für Dutschke gehalten wurde, musste in einem Polizeiwagen Schutz vor der Menge suchen. „Während des Vorfalls ertönten immer wieder Rufe wie ‚Lyncht ihn' und ‚Hängt ihn auf'.“
In seinem Artikel über die „Demonstration mit Nachhilfe“ verwendete Kai Hermann den Begriff „Pogromstimmung“. Der Zeit-Korrespondent, ein der CDU angehörender Rechtsanwalt und ein Kreisschulpfarrer waren von der Menge geschlagen worden, als sie sich vor Angegriffene stellten. Dieselbe Ausgabe enthielt eine bitterböse Satire Wolfgang Eberts über die „Freiheitsdemonstration“, die „der Senat… angeordnet“ hatte: „Natürlich habe ich nichts gegen Studenten. Ich habe auch anständige Studenten gekannt. Ein Großvater von mir war selber Student… Es würde die Sachlage sehr erleichtern, wenn man Studenten irgendwie – vielleicht durch einen Stern – kenntlich machen würde, was nicht diskriminierend gemeint ist, sondern nur dem Schutze Unschuldiger dienen soll… bietet sich vor allem die Auswanderung und Ansiedlung der Studenten in Madagaskar sozusagen als vorläufige Endlösung an. Lieber tot als rot…“.
Hermanns Begriff wurde von über 120 Publizisten und Wissenschaftlern aufgegriffen, deren „Appell an den Berliner Senat“ am 8. 3. 1968 gleichfalls in der Zeit erschien: „Am Mittwoch, dem 21. Februar, hat die Freiheitsglocke Pogromstimmung wachgeläutet. In Berlin wurden Studenten und Bürger, die aussahen wie Studenten, durch die Straßen gehetzt und geprügelt… Notwendig sind Diskussionen über die Methoden der studentischen Opposition. Jede Kritik muss jedoch verstummen, solange Studenten unter den Augen der Polizei wie Freiwild gejagt werden können… Wir fordern die politischen Parteien auf,… ihre Berliner Vertreter daran zu erinnern, welcher demokratischen Aufgabe diese Stadt verpflichtet ist.“ Zu den Unterzeichnern gehörten Zeit-Verleger Gerd Bucerius, der spätere Bundesinnen- minister Werner Maihofer, Wolfgang Abendroth, Ossip K. Flechtheim, Christian Graf von Krockow, Gilbert Ziebura, wiederum Adorno, Grass und Habermas, Herwig Blankertz, Ludwig von Friedeburg und seine Frau Ellen, Walter Jens, Joachim Kaiser, Eberhard Lämmert, Hans Mayer, Hans Werner Richter, Ulrich Sonnemann, Peter Wapnewski und Peter Zadek.
Bereits am 1. März war auf derselben Seite wie Hermanns Bericht Theodor Eschenburgs „Nachwort zu den Demonstrationen in Berlin“ erschienen, überschrieben „Den Revoluzzern nicht gewachsen – Das Dilemma der Obrigkeit [!]“. Eschenburg kritisierte den Senat wegen Nichtbeachtung einer „demokratische[n] Maxime“ – „freie Demonstrationen können und dürfen nur Sache der Gesellschaft und ihrer Organisationen sein“ – und wegen der „Rechtsumgehung… mehr oder minder sanften Druck[s] auf die öffentlichen Radiostationen, um eine möglichst hohe Demonstrationsbeteiligung zu erreichen.“ Dennoch urteilte er, man werde
„dieser Kundgebung ein beachtliches Maß von Spontaneität nicht absprechen können. Man sollte auch das Verdienst der Springer-Presse an der Kundgebung vom 21. Februar nicht überschätzen.“
Am ausführlichsten bekundete Eschenburg sein Verständnis für „Empörung und Zorn“ – nicht der Studenten, sondern derer, „die mit den Agierenden irgendwie in Berührung kommen, vor allem von Amts wegen“:
„Der SDS und verwandte Gruppen… haben Techniken erfunden, die den Menschen bis aufs Blut reizen können und damit nicht selten größeren Schaden zufügen als Körperverletzungen… Die Schlägereien soll man nicht bagatellisieren und auch nicht entschuldigen, aber sie sind doch eine zu erwartende Folgeerscheinung von Menschen und Menschengruppen, die sich aufs stärkste gereizt fühlen. Wenn die Polizei, die so stark durch zahllose massive und nicht immer angemessene Verurteilung in der öffentlichen Meinung eingeschüchtert [!] und desorientiert ist,…nicht oder nicht ausreichend einschritten, so ist das zwar vom Standpunkt der öffentlichen Ordnung [!] und ihrer Wahrung sehr zu bedauern, aber unter diesen Umständen nicht ganz verwunderlich.“
Eschenburg sprach von „Schlägereien“, obwohl dieser Begriff rechtlich eindeutig definiert ist als mit gegenseitigen Körperverletzungen verbundene Auseinandersetzung. Nach den vorliegenden Augenzeugenberichten handelte es sich am 21. Februar um die lynchjustiz-ähnliche Zufügung einseitiger Verletzungen.
Eschenburgs Fazit lautete: „Die Entrüstung, um nicht zu sagen der Zorn, über die revolutionären Aktionen in Berlin ist auch in weiten Kreisen der nicht unmittelbar beteiligten Bevölkerung der Bundesrepublik ungewöhnlich groß; wieviel stärker muss sie in Berlin sein.“
Es drehte sich nicht darum, Sympathien zu bekunden für die studentische Revolte oder für partizipatorische Demokratiemodelle. Es ging um die Bewertung eklatant zu Tage getretener Defizite im Umgang von Behörden mit den Spielregeln der rechtsstaatlich verfaßten parlamentarischen Demokratie, also um Eschenburgs ureigenes Thema. Die angemessene Lehre zog nicht Eschenburg in seinem Artikel, sondern die Süddeutsche Zeitung vom 22. Februar 1968 mit der Überschrift:
„Volkszorn ist ein untaugliches Mittel zum Schutz der Demokratie“.
In seinem Artikel vom 9. Juni 1967 hatte Eschenburg die eigentlichen Probleme, welche die Handhabung des Schah-Besuchs für den demokratischen Rechtsstaat aufwarf, entweder nicht erkannt oder sie bewußt, zu Gunsten des in seinen Augen von Mandatsträgern unnötig gefährdeten Bürgerrechts auf Verkehrsfreiheit, beiseite geschoben. In dem Aufsatz vom 1. März warb er, eigenen Empfindungen augenfällig nachgebend, um Verständnis für das Handeln „von Menschen und Menschengruppen, die sich aufs stärkste gereizt fühlen“. Gerade Eschenburg, der so viel auf institutionenbezogenes Handeln gab, hätte stattdessen nachdrücklich die Einsicht vertreten müssen, die Claus Heinrich Meyer in der SZ zusammenfaßte:
„Der sogenannte Volkszorn kennt keine Formfragen.“
Eschenburg als „Lehrer der Demokratie“, „Instanz, die Maßstäbe setzt“, „Gewissen der Nation“? Oder dies alles nur mit jenen Einschränkungen, welche die beiden hier erörterten, nicht eben unwichtigen Fälle nahelegen? Eine erschöpfende Probe aufs Exempel können zwei Beispiele nicht liefern. Sie werfen jedoch Zweifel und Fragen auf, „die erst geklärt werden [können], wenn die gesamte publizistische Tätigkeit Eschenburgs geprüft worden ist.“ Viel zu lange hat keiner genau hingeschaut, was der politische Publizist Eschenburg eigentlich geschrieben hat.
Wie ich an anderer Stelle vermerkt habe, mochte Theodor Eschenburgs Betonung institutioneller Autorität während der 1950er und frühen 1960 Jahre der westdeutschen politischen Kultur nicht unangemessen sein: Für einen Großteil der Gesellschaft musste der demokratische Staat sich zunächst als erfolgreich „bewähren“, hatte seine Leistungsfähigkeit („performance“, „output“) unter Beweis zu stellen. Erst allmählich entwickelten im Verlauf jener Phase passive Untertanen sich zu aktiven Staatsbürgern (von „subject orientation“ zur „citizen orientation“, in Gabriel Almonds und Sidney Verbas Terminologie). Aber noch Mitte der 1960er Jahre sprach Eschenburg der Bevölkerung jeglichen „schöpferischen Willen“ ab: „Diesen kann [ein Volk] gar nicht haben.“
Zum einen sicherten also die Zeit und der konservativ eingefärbte „Blick fürs Praktische“, den Theodor Eschenburg dort vertrat, ihm die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit ebenso wie Kontakte zu Regierungsstellen, bis ins Bundeskanzleramt. Zum anderen hätte ihm ohne das Blatt jene Plattform politischer Publizistik nicht zur Verfügung gestanden, von der aus er sich in den Fällen Globke, Schwerin von Krosigk und Weizsäcker an dem beteiligte, was Norbert Frei „Vergangenheitspolitik“ genannt hat: dem Versuch der Entlastung konservativer Funktionseliten, die dem NS-Regime wie Eschenburg selbst zugearbeitet hatten und zu Mittätern geworden waren. Wie schon bisher deutlich wurde, ist diese – mindestens teilweise – Beschönigung der NS-Vergangenheit jüngst wiederholt auf Kritik gestoßen. In mehreren Beiträgen des vorliegenden Bandes hat diese kritische Sicht sich niedergeschlagen.
Als Eschenburg 1977 Lutz Schwerin von Krosigk in der Zeit bescheinigte, er habe die sogenannte „Judenbuße“ 1938 „in der vergeblichen Hoffnung“ unterzeichnet, „eine Nacht der langen Messer gegen die Juden zu verhindern“ („erstaunlich“, kommentierte Joachim Perels kürzlich, hatte diese Nacht doch gerade stattgefunden), rezensierte er dessen Autobiografie. Seine Freisprechung Ernst von Weizsäckers zehn Jahre später von jeglicher Mitverantwortung für die Verbrechen des NS-Regimes erfolgte, indem er einen Nachwuchswissenschaftler abkanzelte. Hans-Jürgen Döschers Analyse der Diplomatie des Auswärtigen Amts „im Schatten der Endlösung“, schon seinerzeit von Andreas Hillgruber als „sehr große[r] Erkenntnisfortschritt“ eingestuft, heute als „Meilenstein“ bewertet, kritisierte Eschenburg noch weit schärfer als – wie erinnerlich – Kurt Sontheimers Habilitationsschrift in seinem IfZ-Gutachten: „„Wesentliches entgangen“, „Unkenntnis des ‚Ambiente', „Döscher hätte es wissen können“.
Ein begleitender Aufsatz Carl-Friedrich von Weizsäckers, überschrieben „Der Vater und das Jahrhundert“, ohne Rücksprache mit dem Verfasser von der Zeit untertitelt „Wider die ungenauen Schuldzuweisungen“ und verfasst mit dem Anspruch „Seine [Weizsäckers] Motive kenne ich besser, als sie vermutlich aus den Akten ein junger Historiker entnehmen kann“, ergänzte Eschenburgs Attacke. Die schroffen Angriffe, so ist rückblickend geurteilt worden, „hemmten… die Wirkung“ der Studie Döschers.
Die öffentliche Meinung zu Gunsten Ernst von Weizsäckers zu beeinflussen, war das Ziel der (nunmehrigen) Zeit-Mitherausgeberin Marion Gräfin Dönhoff geblieben, seit sie 1948 aus Anlass des Wilhelmstraßenprozesses (in dem bekanntlich auch Schwerin von Krosigk verurteilt wurde) geschrieben hatte: „Man muss jetzt von allen Seiten treiben… Der Wandel vom Morgentau [sic] zum Marshallplan ging eben auch dort nicht ganz spurlos vorbei. Hinzu kommt die… Kritik in… Juristenkreisen.“ Doch Dönhoffs Ehrgeiz beschränkte sich nicht auf den Prozeß. Zum einen war sie selbst interessiert an einer Position im Auswärtigen Amt. Ungeachtet ihres Einsatzes für Weizsäcker blieb deren Erlangung ihr infolge des „chauvinistische[n] Korpsgeistes“ verwehrt, der auch im neu errichteten Amt herrschte. Zum anderen sah Dönhoff in den Angeklagten des Wilhelmstraßenprozesses, vorrangig wiederum in Weizsäcker, Symbole ihrer eigenen, seit 1946 verfochtenen Deutung des 20. Juli 1944. Ihre Interpretationsfigur des Widerstands im Sinne einer vom preußischen Adel maßgeblich getragenen „Absage“ an den Materialismus und Nihilismus unserer Zeit „als Lebensform“ trachtete sie geschichtspolitisch zu etablieren. Wann immer sie glaubte, „politischen oder materialistischen Deutungen ihre moralische Sicht“ entgegensetzen zu müssen, begann sie selbst nach Jahrzehnten noch dafür zu „mobilisieren“. Eschenburgs Versuch, sich eine „Vetoposition“ als Zeitzeuge aufzubauen, kam Dönhoffs Bestrebungen bezüglich Weizsäckers, wie zuvor schon Schwerin von Krosigks, trefflich entgegen.
Zu denen, die auf Eschenburgs Artikel schriftlich reagierten, gehörten Robert Kempner sowie der Berliner Zeithistoriker Henning Köhler, der den neuralgischen Punkt traf: „Es geht [Eschenburg] nicht um die Rezension des Buches von Döscher, sondern um eine flankierende Maßnahme der Weizsäcker-Apologie.“ Kempner kritisierte seinerseits, „die prominente Rolle des Ribbentropschen Auswärtigen Amtes bei der Endlösung der Judenfrage“ werde bei Eschenburg „völlig unterschätzt.“ Sein Fazit am Ende eines zweieinhalb Seiten langen Briefs: Statt von „Schreibtischtätern“ zu sprechen, „erschein[e] es ihm zutreffender, die ‚Diplomaten' als Mit-Organisatoren der Endlösung zu bezeichnen, die moralisch schon infolge ihrer Vorbildung weit verwerflicher gehandelt haben, als der letzte SS-Mann bei der Vergasung.“
„Lieber Meister [,] Was machen wir damit?“ fragte Dönhoff in einer handschriftlichen Notiz für Eschenburg. „Beim flüchtigen Überfliegen scheint mir: Zu generell, nichts spezifisches – darum ablehnen. Aber angenehm ist mir das nicht. Oder soll man einen (welchen?) Absatz bringen?“
Kempners Brief erschien (wie auch Köhlers Zuschrift), um die Hälfte gekürzt, in der Zeit, mit einer knappen Zurückweisung Eschenburgs: Kempner habe „reiche Erkenntnisse, aber staatsanwaltliche Erkenntnisse können vielleicht der Historie Anhaltspunkte bieten, sie aber nicht bestimmen. Warum sonst das Mehrheitsvotum im Urteil für den Freispruch Weizsäckers?“ Wie Eschenburg auf „Mehrheitsvotum“ und „Freispruch“ verfallen konnte, ist unverständlich: Einer von drei Richtern gab ein Minderheitsvotum ab; Weizsäcker wurde verurteilt. Anschließend beharrte Eschenburg: „Die Vorgänge im Auswärtigen Amt kann man nicht allein aus Akten – auch nicht Geheimakten – rekonstruieren.“ Köhler hatte im Gegenteil darauf hingewiesen, dass Döscher gerade infolge „der Kombination der exakten dokumentarischen Unterlagen mit der Befragung und Interpretation dieses Materials durch Zeitzeugen… ein Bild von einer Dichte“ entworfen hatte, „das dem Gedächnis jedes Zeitgenossen weit überlegen ist.“
Hinzuzufügen bleibt lediglich jenes jüngste Urteil über Ernst von Weizsäcker, das dem Stand der Forschung entspricht:
„Weizsäcker war ein zentraler Mit-Denker jener nationalistischen, großmachtambitionierten, regelmäßig auch antisemitischen Führungsgruppe im Gefüge der nationalsozialistischen Herrschaft, die diesem Regime überhaupt erst administrative Stabilität verlieh.“
Gegenüber Ehemaligen, die sich in aller Öffentlichkeit „uneinsichtig“ verhielten, gab es für Eschenburg – wie ich in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft gezeigt habe - Grenzen des Wohlwollens. Das bewies seine, 1960 gleichfalls in der Zeit geführte, Auseinandersetzung mit dem damaligen Bundesverkehrsminister Hans-Christoph Seebohm. Ihm warf er wegen Seebohms öffentlicher Äußerungen zur Schuld am 2. Weltkrieg „Geschichtsverfälschungen“ sowie „Ansätze zu einer beängstigenden Renaissance nationaler Hybris“ vor. Als Seebohm auf der Bundespressekonferenz konterte, Eschenburg habe „sich zu[m] Handlange[r] der Sowjets erniedrigt“, stellte Eschenburg gegen ihn Strafanzeige wegen Beleidigung. Immunitätsausschuß und Bundestagsmehrheit lehnten jedoch ab, eine Strafverfolgung Seebohms zu ermöglichen.
Allerdings – in Übereinstimmung mit Susanne Heims Beobachtung, die diesem Buch vorangestellt ist – sobald es in die Details ging, und das hieß, sobald Auseinandersetzungen mit der braunen Vergangenheit durch Nennung von Roß und Reiter „näher“ rückten, waren sie Eschenburg unwillkommen. Einer Anregung der Tübinger AStA-Vorsitzenden Christel Lörcher folgend, organisierten Rektor Hermann Diem und eine Reihe anderer Professoren, darunter Eschenburg, im Winter 1964/65 eine Ringvorlesung – die erste ihrer Art an einer westdeutschen Universität – zum Thema Deutsches Geistesleben und Nationalsozialismus.„Ebenso geschlossen wie vehement aber weigerten sie sich, bei der Vorbereitung die Entnazifizierungsakten zu Rate zu ziehen.“
Vorausgegangen war an der Universität Tübingen im Frühjahr 1964 jener Konflikt, der den Chefredakteur der Studentenzeitung Notizen und Eschenburg-Doktoranden Hermann L. Gremliza veranlasste, die Universität zu wechseln. Er findet sich in nachfolgenden Beiträgen dieses Bandes dargestellt, so dass wenige Hinweise ausreichen. In einem „Die Braune Universität – Tübingens unbewältigte Vergangenheit“ betitelten Artikel hatte Gremliza sich mit zwei Professoren auseinandergesetzt, die weiter im Amt waren, obwohl sie sich als NS-Ideologen hervorgetan hatten: dem Germanisten und ehemaligen Gleichschaltungsbeauftragten Gustav Bebermeyer sowie dem Juristen Georg Eisser. „Die Notizen sind ein Misthaufen, gegen den man nicht anstinken kann“, hatte Theodor Eschenburg in seiner Hauptvorlesung vor dreibis vierhundert Anwesenden die Studentenzeitung beschimpft. Nach der Erklärung, so Gremliza, „brauchte ich nicht mehr zu fragen, ob vielleicht der Doktorand Gremliza noch erwünscht sei.“
Zu diesem Zeitpunkt hatte Eschenburg bereits Iring Fetscher habilitiert (1959, Rousseaus politische Philosophie) und Ekkehart Krippendorff promoviert (im selben Jahr mit einer Arbeit über die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands in der SBZ). Frieder Nascholds Promotion bei ihm folgte zwei Jahre später (Kassenärzte und Krankenversicherungsreform: Zu einer Theorie der Statuspolitik). Wenige Jahre später habilitierten sich sowohl Naschold wie Krippendorff bei Eschenburg mit Studien (Organisation und Demokratie; Die Amerikanische Strategie), die – wie beider Dissertationen – keine Spur aufwiesen von dessen staatszentriertem Denken. Dass vor diesem Hintergrund die „Entfaltungsmöglichkeiten“ gerühmt worden sind, die Eschenburg weit jüngeren Wissenschaftlern mit abweichenden Orientierungen bot, sein „generöse[r] Umgang mit radikal anderen Ansichten“, nimmt nicht Wunder, und es gibt keinen Grund, diesen Charakterzug in Frage zu stellen. In die Reflexion einbezogen werden muss jedoch, erstens, der Umstand, dass Eschenburg weder Interesse zeigte an der Erarbeitung eines eigenen theoretischen Zugangs zur Disziplin, noch – anders als beispielsweise Bergstraesser – an der Bildung einer „Schule“. Und, zum zweiten, illustrierte Gremlizas Erfahrung die offenkundige Kehrseite – dass es neuralgische Themenbereiche gab, welche Eschenburgs Generosität nicht einschloss.
Krippendorff hat auch vermerkt, dass Diskussionen mit Eschenburg über konträre Positionen „auf Augenhöhe“ abgelaufen seien. Er fügte freilich hinzu, das gelte für den „übersichtlichen Raum seiner Seminare“. Wie entscheidend dieser Zusatz ist, belegen Krippendorffs Lebenserinnerungen. Dort schilderte er, wie Eschenburg ihn bei einer schüchternen Anfrage drei Monate nach Abgabe seines Dissertationsmanuskripts abfahren ließ und, nachdem Krippendorff sich auf Anraten des Institutssekretariats wegen seiner „Zudringlichkeit“ schriftlich entschuldigt hatte, ihn beschied: „Ich wollte Ihnen nur eine Lektion erteilen.“
Krippendorff beurteilte die „feudale Struktur“ der Ordinarienuniversität mit ihren persönlichen Abhängigkeiten zutreffend als „fatal“ und schrieb, Eschenburg habe „die Rolle des Ordinarius voll internalisiert“. Im Zusammenhang mit dem Einfluß, den Historiker wie Rothfels oder auch Erdmann sich über Jahrzehnte zu sichern verstanden, wurde die Bedeutung der Ordinarienuniversität mit ihrer privilegierten Position der Lehrstuhl“inhaber“ bereits weiter oben betont. Wie weit im Falle Eschenburgs die von Krippendorff diagnostizierte „Internalisierung“ der Ordinarienrolle reichte, verdeutlicht jener Vorgang, den die 2011 verstorbene Barbara Görres Agnoli in einer biografischen Skizze über ihren Mann mitgeteilt hat. Johannes Agnoli hatte 1957 in Tübingen über ein philosophisches Thema promoviert und war beim Rigorosum im Nebenfach Politikwissenschaft von Eschenburg geprüft worden. Als eine Neuausgabe von Alexis de Tocquevilles Über die Demokratie in Amerika erscheinen sollte, bat der Verlag Eschenburg um einen Beitrag zu „Tocquevilles Wirkung in Deutschland“. Für die – laut Barbara Görres Agnoli unbezahlte – Vorarbeit wandte er sich „an Agnoli und übernahm dann (1959) Agnolis Skript fast wortwörtlich“, ohne dessen Leistung auch nur mit einer Zeile zu erwähnen.
Agnolis Forschungsbericht zum Thema, angefertigt von März – Mai 1959 und betitelt „Tocquevilles Einwirkung auf das politische Denken in Deutschland“, umfasste 63 Schreibmaschinen-, der unter Eschenburgs Namen erschienene Text 50 Druckseiten. Ein Abgleich beider Fassungen ergibt, dass Eschenburgs Version zwar zu Anfang und am Ende einige Zusätze enthält, dass sich auch Kürzungen, Satzumstellungen, Veränderungen im Ausdruck finden, dass aber Agnolis komplette Gedankenführung und der größte Teil seiner Formulierungen von Eschenburg übernommen wurden. Selbst in Anbetracht der universitären Bedingungen der 1950er Jahre, unter denen Mitarbeiter sich nicht selten zu sprichwörtlichen „Aktentaschenträgern“ der Ordinarien degradiert sahen, stellte das schon damals eine Zumutung dar. Heute wäre es ein Fall für die Ethikkommission der DVPW. Agnoli führte den Beitrag später regelmäßig in seiner Publikationsliste auf, nahm den Vorgang aber im übrigen mit Humor, denn er verhalf ihm zu einer Assistentenstelle bei Ossip K. Flechthim an der Freien Universität Berlin: Rudolf Wildenmann, der sich mit Eschenburg überworfen hatte, hatte „überall herumerzählt“, dass der Text – den Otto Heinrich von der Gablentz bereits in einer Besprechung gelobt hatte – von Agnoli stammte.
Aus derartigen Hinweisen schälen sich die Konturen eines abgewogeneren, weniger hagiographischen, darum realistischeren Eschenburg-Bildes heraus. Wie zu erwarten, finden sich in diesem Bild bezüglich Person und Werk sowohl Licht als auch Schatten. Das gilt, so wurde gezeigt, nicht anders für Eschenburgs frühere Lebensabschnitte. „Seltsam unentschieden“ sei Eschenburgs Haltung zur Weimarer Republik geblieben, urteilten Hans Karl Rupp und Thomas Noetzel vor zweieinhalb Jahrzehnten sehr allgemein, um dann über mögliche Gründe einer „Lähmung seines Engagements bei der Verteidigung der Republik“ zu spekulieren. Mittlerweile lassen sich, wie aus den einführenden Angaben und aus mehreren nachfolgenden Beiträgen zu diesem Band hervorgeht, die Etappen seines Wegs während der 1920er Jahre genauer rekonstruieren.
Zum Vorsitzenden des nationalistisch-völkischen Hochschulrings deutscher Art gewählt, agierte er während seines Tübinger Studiums als Gegner der Republik. Gustav Stresemann und Alfred Weber „bekehrten“ ihn zum „staatskonservativen“ Modell einer „unegalitären Führerdemokratie“, dem er für den Rest seines Lebens anhängen sollte. Nach Stresemanns Tod beteiligte er sich an Plänen für eine neue „Republikanische Reichspartei“, die, solchen Vorstellungen entsprechend, als „nationale Partei“ DDP, DVP sowie DNVP ersetzen sollte. Die Initiative zur Gründung der Deutschen Staatspartei, der Eschenburg sich letztlich anschloß, machte die Pläne zunichte.
Nach 1945 bildete seine Dissertation, für die Stresemann ihm den Zugang zu den Quellen ermöglicht und zu deren Buchausgabe er ein Vorwort verfaßt hatte, die Grundlage für Eschenburgs Berufung als Hochschullehrer, wiederum gefördert von einem Politiker (Carlo Schmid). Anfang der 1930er Jahre jedoch ließen sich weder eine politische noch eine wissenschaftliche Karriere realisieren. Eschenburg ging in die Wirtschaft.
Im Zuge seiner Tätigkeit als Industrieverbandsfunktionär in den Branchen Bekleidung und Holzverarbeitung war Theodor Eschenburg seit 1938 mit der wirtschaftlichen Ausplünderung der Juden durch das NS-Regime befasst. Erst allmählich erschließen sich die Dimensionen seiner Beteiligung. Eschenburg ließ sich nicht angelegen sein, bei der Ausübung seiner entsprechenden Beraterfunktionen äußerste Zurückhaltung zu wahren. Die im Dokumententeil dieses Buchs wiedergegebenen Schreiben aus den Jahren 1938, 1939 und 1941, welche sich auf Firmen erst in Deutschland, dann in Österreich, schließlich im besetzten Dänemark beziehen, vermitteln stattdessen den Eindruck eines umtriebigen Interessenvertreters, der bei NS-Behörden gemäß eigener Lagebeurteilung „vorsorglich“ tätig werden oder insistierend nachhaken konnte – jeweils zu Lasten jüdischer Unternehmer:
- „Vorsorglich“ unterrichtete er 1938 das Reichswirtschaftsministerium von seiner „Vermutung“, der von „Arisierung“ bedrohte jüdische Inhaber der Firma Wilhelm Runge & Co. schaffe sich „unter Benutzung deutscher Devisen“ im Ausland eine neue Existenzbasis, obwohl solches Handeln als Kapitalflucht galt, die durch Gesetz von 1936 mit der Todesstrafe bedroht war.
- Auf viereinhalb Seiten begründete Eschenburg 1939, wiederum gegenüber dem Reichswirtschaftsministerium, warum der „zweckmäßigste“ Weg zur „Entjudung“ der Wiener Firma Alfred Auerhahn deren „Liquidation“ als „lebensunfähiger Betrieb“ wäre.
- Zweimal im Abstand von vier Monaten beharrte er 1941 gegenüber der Reichsstelle für den Außenhandel auf „nochmalige[r] Nachprüfung“, ob es sich bei der dänischen Firma Knap-Union nicht um die Tarnfirma „eines emigrierten Juden“ handle, die „deutschen Ausführern Konkurrenz“ auf Drittmärkten mache und von der Zuliefererliste für deutsche Firmen gestrichen werden müsse.
Derartige Vorschläge überschreiten die Grenzen bloßen „Mitläufertums“, von dem Ralf Dahrendorf im Eschenburg-Abschnitt seines Buchs Versuchungen der Unfreiheit gesprochen hat. Insbesondere die beiden Schreiben von 1941 wird man als – im Wortsinn – „Verfolgung“ eines Juden werten müssen, die zum zweiten Mal auf dessen wirtschaftliche Existenzbasis zielte, nachdem er bereits in Deutschland seiner Firma beraubt worden war. Spätestens dieses Vorgehen stempelt Eschenburg zum Mittäter – zu einem vergleichsweise unbedeutenden Mittäter, gewiß, aber eben doch zum Täter.
Das Argument, Eschenburg habe keineswegs aus eigenem Antrieb, sondern in seiner Rolle als Verbandsgeschäftführer gehandelt, verfängt dabei nicht als Entlastung. Beamte der Finanzbehörden, Beschäftigte bei Industrieund Handelskammern, bei Lebensversicherungsgesellschaften, selbst Mitarbeiter evangelischer Landeskirchen trieben die wirtschaftliche Verdrängung und Beraubung jüdischer Deutscher voran. Der bei weitem größte Teil der Verfolgungsmaßnahmen gegen die Juden wurde von „ganz normalen Deutschen“ als Mitgliedern „ganz normaler Organisationen“ durchgeführt. Mit dem Untergang des Regimes „zerfiel“ dieser Teil ihrer Persönlichkeit. Übrig blieb „der Privatund Zivilbürger, der keinen Anlass sah, sich etwas vorzuwerfen.“ Hatte er denn nicht „für die Familie gelebt und gesorgt, nicht selten sogar – persönlich – dem Nachbarn, dem Bekannten geholfen, wenn der in Bedrängnis geriet?“
Christian Graf von Krockow, von dem diese Beschreibung des Vorgangs stammt, hat das vergangene Jahrhundert das „deutsche“ genannt und ihm zu Recht sowohl Meriten als auch Abgründe bescheinigt. Mit den Verwerfungen und den Brüchen, den Taten wie den Untaten der Deutschen in „ihrem“ Jahrhundert einher gingen und gehen bis heute Schweigen, Beschönigungen, Lügen. Theodor Eschenburg spiegelt dieses deutsche Jahrhundert.