Fakten
Theodor Eschenburg und die Plünderung jüdischer Vermögen
Rainer Eisfeld
Die intensivierte Judenverfolgung
Monate vor dem Novemberpogrom 1938 unternahm die deutsche Regierung den zweiten und den dritten Schritt, die den Weg zur Vernichtung der deutschen wie der österreichischen Juden bereiteten.
In einer beklemmend nüchternen Sprache, die manchem den Umgang mit seiner Darstellung erschwerte, hat Raul Hilberg die Schritte aufgelistet, derer es bedarf, wenn eine gesellschaftliche Gruppe vernichtet werden soll: erstens Definition (Reichsbürgerund „Blutschutz“-Gesetz von 1935); zweitens Kennzeichnung; drittens Entzug der materiellen und kulturellen Existenzbasis. Die vierte Stufe hieß dann Konzentration – Ghettoisierung. Die 1938 verordnete Etikettierung und Ausplünderung ließen eine exponierte, ohnmächtige Gruppe zurück, auf die der beliebige Zugriff mit dem Ziel ihrer Ausschaltung möglich war. 1938/39 sollte das Ziel noch durch eine forcierte Auswanderungspolitik erreicht werden. Dem Angriff auf Polen und dem Überfall auf die Sowjetunion folgte die Inangriffnahme der „Endlösung“.
Nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 entlud sich der virulente Wiener Antisemitismus in einer Welle pogromartiger Drangsalierungen von Juden, die wochenlang andauerten. „Gleichzeitig traten reichsdeutsche Bürokraten auf den Plan, deren Ehrgeiz darin bestand, den Wienern zu zeigen, wie man die Judenverfolgung von Staats wegen effizient organisierte.“ Unter Druck von „unten“ wie von „oben“ nahmen soziale Diffamierung und Entrechtung der österreichischen Juden in kürzester Zeit drastisch zu. Die Gründlichkeit und die Schnelligkeit, mit der das Bündnis – um Hannah Arendt zu variieren – aus österreichischem Mob und deutscher Verwaltungs-„Elite“ die Wiener Juden drangsalierte und ausraubte, lieferte eine Blaupause für die rasche Folge von Maßnahmen, mit denen während der nächsten Monate im „Altreich“ jüdische Deutsche entrechtet und in die Armut getrieben wurden. Mit den Worten Hans Safrians, der die Verfolgung und Beraubung der Juden Österreichs als „Modell“ der weiteren antijüdischen Politik des NS-Regimes analysiert hat:
- Die „räuberische Dynamik“, die „Tausend[e] beutegierige[r] ‚Parteiund Volksgenossen' in Österreich“ entfalteten,
- wurde durch nationalsozialistische Funktionäre mittels „pseudolegale[r] Prozeduren“ und „neuartige[r] Institutionen“ zu kanalisieren versucht. Diese „Anstöße“
- wurden durch zentrale Instanzen aufgegriffen und „trugen zur Beschleunigung antijüdischer Politik“ im ganzen Reich bei.
Am nächsten kam den Wiener Ausschreitungen die Mischung aus staatlichen Verfolgungsmaßnahmen und Gewalttaten, die sich Mitte Juni im Rahmen der zweiten „Aktion Arbeitsscheu Reich“ in Berlin (ähnlich aber auch in Frankfurt a. M., Breslau und anderen Städten) abspielte. Auf Anweisung Hitlers wurden in die von Himmler und Heydrich befohlene reichsweite Verhaftung sogenannter „Asozialer“ jüdische Männer einbezogen, die – aus welchen Gründen immer – als vorstraft galten. Die meisten festgenommenen Juden, rund 2000 allein in Berlin, lieferte die Kripo in Konzentrationslager (hauptsächlich Buchenwald und Sachsenhausen) ein. Eine zusätzliche Hetzrede von Goebbels vor Berliner Polizeioffizieren („Nicht Gesetz ist die Parole, sondern Schikane“) ging der gleichzeitigen Inszenierung antisemitischer Übergriffe voraus, bei denen Geschäfte jüdischer Inhaber beschmiert, teilweise geplündert und verwüstet wurden.
Ebenfalls im Juni wurde in München, der „Hauptstadt der Bewegung“, die Synagoge abgerissen. Im August folgte die Nürnberger, im Oktober die Dortmunder Synagoge. Stets wurde behauptet, die Synagogen „störten“ das Stadtbild.
Mitte August wurde die zweite Namensänderungsverordnung erlassen, verfasst von Hans Globke. Deutsche Juden mussten ab Januar 1939 „Sara“ beziehungsweise „Israel“ als zusätzliche Vornamen führen. Die Regelung galt ebenso ab Januar 1939 wie zwei weitere Verordnungen: Kennkartenzwang für jüdische Deutsche, deren Kennkarten ein deutlich sichtbares „J“ erhielten, sowie Stempelung eines „J“ in ihre Reisepässe.
Den vorläufigen Abschluss diskriminierender Maßnahmen bis zum Novemberpogrom bildeten im September das Erlöschen der Approbation für alle jüdischen Ärzte sowie der Entzug der Zulassung für jüdische Rechtsanwälte, denen als „Konsulenten“ nur noch die Vertretung jüdischer Mandanten gestattet blieb.
Die beiden letzten Eingriffe zielten bereits darauf, die wirtschaftliche Existenz der Betroffenen zu vernichten. Sie werden deshalb von Hilberg dem Komplex „Enteignung“ zugerechnet, der vorrangig den systematischen Raub jüdischer Vermögen bezweckte. „Arisierungen“ – so der NS-Jargon – sollten dem akuten Devisenmangel des NS-Staats abhelfen. Sie sollten ebenso, als Konsequenz der sukzessiven „Entjudung“ immer weiterer Wirtschaftszweige, Juden aus ganz Deutschland „herausdrängen“, es ihnen unmöglich machen, weiter in Deutschland zu leben.
„Materielle und ideologische Motive… trieben einander an.“ Die Opfer gerieten in ein lähmendes Dilemma, definierten sie sich doch „mehr über ihr ‚Deutschtum' als über ihr Judentum“. Zerrissen „von Zweifeln und widerstreitenden Gefühlen, [versuchten] sie sich von einem Tag zum nächsten zu hangeln.“ Als sie aus ihrer Unentschlossenheit erwachten, war es für viele „schon zu spät“.