Die erweiterte Sicht der Sozialwissenschaften

Eben hier setzt die erweiterte Perspektive vieler Sozialwissenschaftler an, die versuchen, Extremismus als ein Zusammenspiel spezifischer politisch-kultureller Einstellungsmuster zu umreißen, die in konkretem Handeln (wie Wahlentscheidungen, Parteioder Organisationsmitgliedschaft, Beteiligung an politischen Aktionen oder Straftaten) münden können – aber nicht müssen. [1]

Die gemeinsame Schnittmenge der hierbei diskutierten Ansätze lässt sich anhand des Ergebnisses einer Konsenskonferenz darstellen, deren Ziel es war, einen einheitlichen Zugang zur sozialwissenschaftlichen Behandlung des Themas zu finden:

"Der Rechtsextremismus ist ein Einstellungsmuster, dessen verbindendes Kennzeichen Ungleichwertigkeitsvorstellungen darstellen. Diese äußern sich im politischen Bereich in der Affinität zu diktatorischen Regierungsformen, chauvinistischen Einstellungen und einer Verharmlosung bzw. Rechtfertigung des Nationalsozialismus. Im sozialen Bereich sind sie gekennzeichnet durch antisemitische, fremdenfeindliche und sozialdarwinistische Einstellungen." (Decker/Weißmann/Kiess/Brähler 2010: 18)

Auf dieser Grundlage wurden in den vergangenen zwölf Jahren in zweijährigem Abstand Daten erhoben, die einen Überblick über die Verteilung rechtsextremer Einstellungsmuster innerhalb der deutschen Bevölkerung geben sollten. Die jüngste dieser Untersuchungen ergab in allen Dimensionen einen Rückgang rechtsextremer Einstellungsmuster. Allerdings stellen sich nach wie vor rund ein Fünftel der Bevölkerung als ausländerfeindlich dar, über 13 Prozent der für die Studie Befragten tendierten zur chauvinistischen Überhöhung der eigenen Nation und rund jeder Zwanzigste zum Antisemitismus (vgl. Decker/Brähler/Kiess 2014). Die ermittelte Quote jener Menschen, die ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild pflegen, hat mit 5,2 Prozent in Westdeutschland und 7,4 Prozent in Ostdeutschland den im Gesamtdurchschnitt (5,6 Prozent) niedrigsten Wert seit Beginn der Untersuchungsreihe 2002 erreicht. Gleichzeitig deuteten die Ergebnisse der Befragung aber an, dass sich in der Bevölkerung vorhandene Vorurteilsmuster zuungunsten von Sinti und Roma, Muslimen und Flüchtlingen verschoben haben (ebd.: 48 f.).

  • [1] Wie Klärner und Kohlstruck (2006: 28 f.) kritisieren, habe diese Hinwendung zu einem "soziologischen Rechtsextremismusbegriff" zu einer konzeptionellen ›Übervereinheitlichung‹ von rechtsextremen Phänomenen geführt und "zu einer – nun wissenschaftlich legitimierten – Entgrenzung des Rechtsextremismusbegriff und in seiner Folge einer reduzierten Trennschärfe sowie einer Ausdehnung des Referenzbereichs beigetragen". Auch aus diesem Grunde plädieren die Herausgeber für eine differenzierende Betrachtungsweise rechtsradikaler und rechtsextremer Einstellungsund Verhaltensmuster, welche durch konkurrierende Begrifflichkeiten wie Minkenbergs "radikale Rechte" tendenziell nivelliert werden.
 
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