In der Selbstdarstellung „apologetisch getönt“: Eschenburgs Rolle bei der Kampagne gegen Emil Julius Gumbel

Bemühen um eine angemessene Würdigung jenes Mannes, der bereits 1932 durch Entzug der Lehrbefugnis von der Universität Heidelberg vertrieben wurde und dessen Bücher NSDStB-Studenten und Korporierte knapp ein Jahr später auf die Scheiterhaufen warfen, lässt sich bei Theodor Eschenburg auch im Nachhinein nicht erkennen. „Ein Heidelberger Privatdozent, Emil Julius Gumbel“, so Eschenburg, habe „erklärt, die Toten des Weltkriegs seien auf dem ‚Feld der Unehre' gefallen, und damit Empörung bei den Studenten, aber auch bei einem großen Teil der Professorenschaft provoziert. Die Empörung war echt, denn viele Angehörige der Hochschulen waren Soldaten gewesen.“

Unerwähnt ließ Eschenburg, dass Gumbel sich 1914 selbst als Kriegsfreiwilliger gemeldet und als Frontsoldat am Ersten Weltkrieg teilgenommen, aus der erlebten „Schauderhaftigkeit“ (Gumbel) jedoch andere Konsequenzen gezogen hatte als die übergroße Mehrzahl seiner Standeskollegen. Auch Eschenburgs Wiedergabe des Vorgangs, der Gumbel 1924 ein erstes Disziplinarverfahren samt vorläufiger Suspendierung eingetragen hatte, fiel verkürzt aus: Auf einer „Nie wieder Krieg“-Kundgebung in Heidelberg hatte Gumbel die Teilnehmer aufgefordert, „sich zu Ehren der Toten, die – ich will nicht sagen, auf dem Felde der Unehre – gefallen sind, von den Plätzen zu erheben“.

Verständnis für Gumbels Haltung war von dem Burschenschafter Eschenburg, Mitglied der schlagenden Verbindung Germania, kaum zu erwarten, zumal er als Tübinger Vorsitzender des Hochschulrings deutscher Art gerade „zur militärischen Ausbildung ein Kleinkaliberschießen“ organisiert hatte, „an dem sich alle Verbindungen beteiligten“. „Wir sollten uns hüten, wieder wehrfeindlich zu werden“, hatte er noch 1932 auf einer Vorstandssitzung der Deutschen Staatspartei erklärt und hinzugefügt: „Es läßt sich doch nicht leugnen, daß die Reichswehr sich in den letzten 10 Jahren sehr zu ihrem Vorteil verändert hat.“

Auch dieses Fehlurteil war für Eschenburg jedoch kein Grund, später selbstkritisch zurückzublicken auf sein eigenes Verhalten, nachdem Gumbel von der Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Akademiker, „eine[r] kleinen, kaum zwanzig Köpfe zählende[n] Gruppe von Studenten“, Mitte 1925 zu einem Vortrag nach Tübingen eingeladen worden war. Glaubt man seinen Memoiren, rief er als HdA-Vorsitzender „durch ein Plakat an den Anschlagsäulen“ lediglich dazu auf, „aus Protest der Versammlung mit Gumbel fernzubeiben“. Tatsächlich lautete der Text des Plakats, für dessen Verbreitung Eschenburg verantwortlich war: „Nach der allgem. Verurteilung seiner Rede an der Universität Heidelberg bedeutet sein Vortrag hier eine starke Beleidigung eines jeden teutschen Studenten. Wir erwarten auf das Bestimmteste, daß Herr Dr. Gumbel von seinem Vorhaben absieht.“

Zur Charakterisierung des nationalistischen, antisemitischen Hochschulrings deutscher Art bemerkte Eschenburg später gewissermaßen entschuldigend, in Tübingen sei der Verband nicht völkisch geprägt gewesen, sondern habe „der Deutschnationalen Volkspartei nahe[gestanden]“. Im Übrigen habe er im HdA versucht, „politische Bildung“ zu betreiben, den Verband also gewissermaßen „umzufunktionieren“ (von Kleinkaliberschießen ist bei Eschenburg keine Rede). Seine Einladung Gustav Stresemanns zu einem Vortrag nach Tübingen löste zwar in seiner Burschenschaft, der Germania, Einwände aus, „erstaunlicherweise gab es im Hochschulring in Tübingen [aber] keinen Einspruch“. Die „zeitliche Nähe“ des Vortrags, den Gumbel halten sollte, zu dem für Stresemanns Rede vorgesehen Termin („Unruhen“ mit der Folge einer eventuellen „Absage“ Stresemanns seien „nicht auszuschließen“ gewesen) habe ihn veranlasst, so Eschenburg später, zunächst erfolglos ein Verbot der mit Gumbel geplanten Veranstaltung zu betreiben und dann die Plakataktion zu unternehmen.

Doch Eschenburgs Darstellung ist „unverkennbar […] apologetisch getönt“. Die Erklärung, die auf dem Plakat stand, war von den „teutschen Studenten“ des HdA-Vorstands am 1. Juli 1925 beschlossen worden. Und sie forderte nicht die Studentenschaft zum Boykott, sondern Gumbel zur Absage seines Vortrags auf. Stresemann sollte über deutsche Außenpolitik sprechen, Gumbel über „Deutschland und Frankreich“. Aber Redefreiheit für „den eingewanderten Ostjuden“ – so die Tübinger Zeitung drei Tage später – schloss „politische Bildung“ beim HdA nicht ein.

Eschenburg war nach eigenem Bekunden anwesend, als die Veranstaltung mit Gumbel am 2. Juli von Studenten gewaltsam gesprengt wurde, noch ehe Gumbel zu Wort kam. Unter dem Schutz der Polizei „verließen Veranstalter und Anhänger den Saal“. Der Vortrag wurde in eine Gaststätte des Tübinger Vororts Lustnau verlegt und zur geschlossenen Veranstaltung erklärt. Als Hunderte von Studenten, die sich mit Latten, Holzscheiten, Steinen und Bierflaschen bewaffnet hatten, das Gasthaus belagerten und dessen Fensterscheiben einwarfen, gingen Bürger, Feuerwehr sowie Angehörige des Reichsbanners gegen sie vor. Die „Lustnauer Schlacht“ forderte mehr als ein Dutzend Verletzte.

Auch Eschenburg hatte sich auf den Weg nach Lustnau begeben. Als er die gewalttätigen Auseinandersetzungen erblickte, „machte ich kehrt und ging nach Hause“. Da er das HdA-Plakat gegen Gumbels Vortrag zu verantworten hatte, wurde er von der Stuttgarter Kripo vorgeladen. „Die Vernehmung dauerte zwei Stunden, und damit war die Sache erledigt.“

Als „nicht sehr rühmlich“ hat Eschenburg unumwunden sein späteres Intermezzo bei der SS bezeichnet. Die Feststellung passt auch auf seine Rolle als HdA-Vorsitzender bei der Kampagne gegen Gumbel wie auf deren spätere Wiedergabe. Bereits 1956 sprach das Kultusministerium Baden-Württembergs, des Landes also, an dessen Aufbau Eschenburg nach dem Krieg maßgeblich mitwirkte, Gumbel eine Wiedergutmachung zu. In der Begründung hieß es, der Entzug der Lehrbefugnis wäre nicht erfolgt, wenn „die Entwicklung des politischen Kampfes gegen Dr. Gumbel seit den 20er Jahren unter rein sachlichen Gesichtspunkten [ge] würdigt“ worden wäre.

 
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