Wer ist die extreme Rechte?
Auch der Begriff der extremen Rechten sieht sich Angriffen ausgesetzt, weil er sich nicht grundsätzlich vom Konzept des Extremismus verabschiedet, sondern lediglich dessen limitiertes Demokratieverständnis ablehnt. Es ist absolut zutreffend, dass ein Festhalten an der wissenschaftlichen Kategorie des "Extremen" nur sinnvoll sein kann, wenn eine nachvollziehbare Abgrenzung vom Durchschnittlichen, Gewöhnlichen oder Normalen, kurz dem "Nicht-Extremen" möglich ist. [1]
Die Herausgeber orientieren sich am Extremismusmodell von Richard Stöss, das zwischen demokratischer Mitte, radikalen Grenzbereichen und extremistischen Teilen des politischen Spektrums unterscheidet, die sich außerhalb des verfassungskonformen Spektrums der freiheitlichen-demokratischen Grundordnung bewegen (vgl. Stöss 2005: 15). Gleichzeitig unterstreichen sie, dass auch innerhalb der so genannten "Mitte der Gesellschaft" nachweislich Einstellungsmuster existieren, die sozialwissenschaftlich anerkannte Indikatoren für Rechtsextremismus sind und versuchen, diese Perspektiven zusammenzuführen.
Politisch rechtes Denken betont die grundsätzliche Ungleichheit der Menschen und leitet daraus unterschiedlich weit reichende, normative Konsequenzen für die Ausgestaltung der gesellschaftlichen Ordnung ab. Radikal rechte Positionen unterscheiden sich von gemäßigten dort, wo zur Betonung der Ungleichheit die Idee einer fundamentalen Ungleichwertigkeit tritt (vgl. Pfahl-Traughber 2006: 14), die eine soziale und politische Hierarchie begründet und festigt.
"Such institutionalized social and political inequality may be based on a number of different criteria, but those overwhelmingly favoured by parties and movements of the extreme right have been nationality, race, ethnic group and/or religious denomination. This, to a great extent, helps explain why nationalism, xenophobia, racism and ethnocentrism appear in so many of the existing definitions of right-wing extremism. It remains the case, however, that although these features may help characterize and describe the extreme right, they do not help define it. They are mere manifestations of the principle of fundamental human inequality, which lies at the heart of right wing extremism." (Carter 2005: 17)
Wo sich diese Ideologie der Ungleichwertigkeit in fundamentaler Systemopposition manifestiert, beginnt der Bereich des Rechtsextremismus, wie ihn die Verfassungsschutzbehörden umreißen und bearbeiten. Der Begriff des Rechtsradikalismus schließt "demgegenüber auch Kräfte oder Bestrebungen ein, die die geltende demokratische Ordnung nicht als solche in Frage stellen, jedoch durch Rückgriff auf den ultranationalistischen Mythos eine Radikalisierung nach rechts und damit eine Revision der Verfassungswirklichkeit bzw. einzelner Normen anstreben" (Minkenberg 1998: 34). Aus dieser Perspektive stellt sich Rechtsradikalismus als ein Versuch dar, gesellschaftliche Modernisierung durch die "Überbetonung oder Radikalisierung von Bildern gesellschaftlicher Homogenität" (Minkenberg 2013: 11) zu bekämpfen bzw. rückgängig zu machen. Das solchen Versuchen zugeneigte Spektrum reicht vom Neonazismus bis in die soziologische Mitte der Gesellschaft und schließt sowohl die Verhaltensals auch die Einstellungsebene ein (Grumke 2013: 26).
Insofern erscheint es geboten, auch abseits der Verfassungswidrigkeit und ihrer behördlich im Sinne der Gefahrenabwehr zu beobachtenden Vorstufen in den Blick zu nehmen, welche Strategien sich hinter den entsprechenden Kräften bzw. Bestrebungen identifizieren lassen und wo sich auch auf der reinen Einstellungsebene Gemeinsamkeiten und Schnittmengen zwischen Rechtsextremismus und Rechtsradikalismus finden. Wohl wissend, dass den Sicherheitsbehörden bei deren präventiver Ausforschung aus gutem Grund sehr enge Grenzen gesetzt sind.
Die extreme Rechte umfasst im vorliegenden Werk die Akteure und Institutionen des Rechtsextremismus im Sinne des Verfassungsschutzes ebenso wie das rechtsradikale Spektrum und jene Teile der so genannten "Neuen Rechten", die verfestigte inhaltliche und strukturelle Bindungen an diese Kreise vorweisen bzw. durch ihre Aktivitäten gezielt zur Verbreitung der im sozialwissenschaftlichen Sinne relevanten rechtsextremen Einstellungsmuster beitragen.
Das extrem rechte Spektrum wird somit insgesamt im Sinne der Bewegungsforschung interpretiert, wobei die extreme Rechte als soziale Bewegung die Neue Radikale Rechte (vgl. Minkenberg 1998) und das in Teilen mit ihr deckungsgleiche extremistische Spektrum umfasst. Diese Perspektive bietet sich vor allem deshalb an, weil sie am ehesten in der Lage ist, die seit den 1980er Jahren zu beobachtenden Modernisierungsphänomene der gewählten Aktionsund Organisationsformen sowie der dahinter stehenden Ideologieelemente zu erfassen und weil sie der Heterogenität der unterschiedlichen Akteure am besten Rechnung trägt (vgl. Klärner/Kohlstruck 2006: 30 f.). Unter sozialen Bewegungen sind dabei gesellschaftliche Strömungen zu verstehen, die von gemeinsamen Ideen und Vorstellungen getragen werden. Sie wirken als Sammelbecken für höchst unterschiedliche Menschen, die sich in vielfältigen Aktionsund Organisationsformen zusammenfinden. Hinter diesen Zusammenschlüssen steht jedoch das gemeinsame Ziel, grundlegende soziale Veränderungen herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen (vgl. Raschke 1988).
Geht man von Ansätzen aus, die den modernen Rechtsextremismus als bewegungsmäßig (vgl. Klandermanns/Meyer 2006) organisierte soziale Strömung begreifen, rückt notwendigerweise auch der Strategiebegriff [2] in den Mittelpunkt der Betrachtung.
"Die Strategien des Rechtextremismus erstrecken sich zum einen auf die Popularisierung seiner Ziele und zum anderen auf entsprechende taktisch-organisatorische Gesichtspunkte. Zur Popularisierung der Ziele werden in der Regel Kampagnen durchgeführt, womit notwendigerweise taktische Überlegungen verbunden sind, wie die vorhandenen Ressourcen effektiv für die Gefolgschaftswerbung eingesetzt und wie Bündnispartner gewonnen werden können." (Stöss 2005: 29)
An dieser Stelle setzt der vorliegende Band an und versucht, durch die perspektivische Vielfalt der Beiträge, ein sich ergänzendes Gesamtbild der aktuellen Entwicklungen innerhalb der extremen Rechten zu zeichnen und Konzepte vorzustellen, mit denen die demokratische Mehrheitsgesellschaft den entsprechenden Strategien entgegenzuwirken sucht. Der Band bezieht dabei unterschiedliche – teilweise sogar kontroverse – Standpunkte aus Wissenschaft, Publizistik, der politischen Praxis und der Zivilgesellschaft ein.
Das folgende Schaubild verdeutlicht das von den Herausgebern gewählte analytische Modell. Es soll zur Differenzierung unterschiedlicher Nuancen der deutschen Rechten dienen und eine Diskussionsgrundlage für eine klarere begriffliche Tren-
Abbildung 2 Differenzierungen des rechten Spektrums
gemäßigte Rechte extreme Rechte |
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Neue Rechte |
|||
Ausrichtung |
(wert-)konservativ |
rechtsradikal |
rechtsextremistisch (im Sinne des Verfassungsschutzes) |
Argumentationen |
zuwanderungsskeptisch "traditionelles" Familienverständnis kulturell orientierter Patriotismus ("Leitkulturdebatte") |
ethnopluralistisch demokratiekritisch xenophob islamophob nationalistisch historisch relativistisch |
kämpferisch antidemokratisch offen rassistisch antisemitisch/ antiislamisch völkisch-nationalistisch offen revisionistisch |
mögliche Strategien |
Rechtspopulismus rechte Globalisierungs-/Modernisierungskritik Mimikry-Strategien Anleihen aus dem politisch linken Spektrum |
nung zwischen den in diesem Band angesprochenen Phänomenen, Akteuren und Strategien bieten.
Es bleibt festzuhalten, dass durchaus ein analytischer Gewinn darin bestehen kann, Gemeinsamkeiten und Wechselwirkungen zwischen den unterschiedlichen Teilspektren der extremen Rechten in den Blick zu nehmen und ihren Austausch mit der "gemäßigten" gesellschaftlichen Mitte näher zu untersuchen. Ein allzu statisch auf Ähnlichkeiten unterschiedlicher Formen von Demokratiefeindlichkeit fokussierter Extremismusansatz neigt dazu, die entsprechenden ideologischen Schnittmengen und ihre gesamtgesellschaftlichen Wirkungen auszublenden, da sie je nach Perspektive durch das analytische Raster der Systemkompatibilität fallen und folglich konsequenterweise auszuklammern wären. Berechtigt ist der Einwand, dass in der Unterscheidung zwischen demokratischer und radikaler Rechter ein logischer Bruch angelegt ist, der die Existenz und Transmission extrem rechter Ideologieelemente innerhalb der Mitte negiert. Diesem Punkt wurde damit Rechnung getragen, dass in der schematischen Darstellung nun nicht mehr auf das Demokratiekriterium abgestellt wird, sondern eine gemäßigte Rechte ihren radikalen und behördlich als extremistisch eingestuften Widerparts gegenübersteht, welche gemeinsam das Spektrum der extremen Rechten bilden.
An der Bedeutsamkeit der behördlichen Einstufung festzuhalten stellt insofern sogar einen Gewinn dar, da hiermit ein empirisch überprüfbares Kriterium eingeführt wird, das die forschungsethischen Problemen im Umgang mit Parteien und Organisationen im Grenzbereich zwischen Radikalismus und Extremismus entschärfen könnte. Zurück bleibt der unbefriedigende Zustand, dass die extreme Rechte und der in ihr enthaltene Bereich des Rechtsextremismus zu begrifflichen Verwechslungen einladen. Bis ein besserer "Brückenbegriff" zwischen sozialwissenschaftlichen und staatlichen Perspektiven auf das Thema Rechtsextremismus gefunden ist, stellt er ein Angebot dar, innerhalb eines umgrenzten Rahmens – und unter Verzicht auf irreführende Gleichsetzungen – Gemeinsamkeit und Unterschiede herauszuarbeiten, ähnlich wie der unter anderen Vorzeichen stehende Gegenentwurf einer (differenziert betriebenen) Extremismustheorie (vgl. Pfahl-Traughber 2013: 47).
Vor diesem Hintergrund vereint der vorliegende Sammelband Analysen und Betrachtungen unterschiedlicher Autorinnen und Autoren, die sich mit unterschiedlichen Herangehensweisen verschiedenen Phänomenen und Akteuren widmen, deren Strategien das Feld der extremen Rechten in seiner ganzen Bandbreite prägen.
- [1] Ob eine solche Abgrenzung aber nur aus der normativen bzw. metapolitikwissenschaftlichen Perspektive einer als "Demokratiewissenschaft" verstandenen Politikwissenschaft im Geiste Ernst Fraenkels zu treffen ist, wie es beispielsweise Brodkorb suggeriert, darf angesichts der dominant empirisch-analytischen Ausrichtung der Disziplin zumindest kritisch hinterfragt werden.
- [2] "Strategien sind erfolgsorientierte Konstrukte, die auf situationsübergreifenden Ziel-Mittel-UmweltKalkulationen beruhen. Erfolgsorientierte Konstrukte werden hier als auf wirksame Zielverfolgung gerichtete, praxissteuernde Handlungsanleitungen verstanden. Ziel-Mittel-Umwelt-Kalkulationen bezeichnen auf gewünschte Zustände (Ziele) gerichtete, systematisierende und berechnende Denkoperationen (Kalkulationen) für zielführende Handlungsmöglichkeiten (Mittel), mit dem Blick auf den situationsübergreifend relevanten Kontext." (Raschke/Tils 2013: 542)