Eschenburgs Rückblicke auf das NS-Regime
Der bekannte Philosoph Hermann Lübbe veröffentlichte 1983 einen Aufsatz über den „Nationalsozialismus im deutschen Nachkriegsbewusstsein“440. Darin arbeitet er heraus, dass und warum die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus in der deutschen Gesellschaft in den 1950er Jahren nicht so ausgeprägt war wie seit dem Ausgang der 1960er Jahre. In Bezug hierauf spricht er von einem „Schweigen der Väter“, das er aber nicht als Bestätigung der „Verdrängungs-These“ verstanden wissen will. Seine zentrale These lautet, „daß die gewisse Zurückhaltung in der öffentlichen Thematisierung individueller oder auch institutioneller Nazi-Vergangenheiten, die die Frühgeschichte der Bundesrepublik kennzeichnet, eine Funktion der Bemühung war, zwar nicht diese Vergangenheiten, aber doch ihre Subjekte in den neuen demokratischen Staat zu integrieren“. Dass Eschenburg das Problem der NS-Funktionseliten in den 1950er Jahren nicht thematisierte, ist vor diesem Hintergrund nachvollziehbar. Das änderte sich erst 1961. In diesem Jahr befasste er sich erstmals mit Hans Globke, im Dritten Reich zuletzt Ministerialrat im Reichsinnenministerium und seit 1949 engster Mitarbeiter Adenauers im Bundeskanzleramt, zuerst als Ministerialdirektor und dann ab 1953 bis zu Adenauers Demission 1963 als Staatssekretär.
Hans Globke ist nach 1945 in die Kritik geraten, weil er in seiner dienstlichen Eigenschaft im Dritten Reich zusammen mit seinem Staatssekretär Wilhelm Stuckart einen Kommentar zu den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 verfasst hatte. Zwar hat eine ganze Reihe von Zeugen, denen man Einsicht in die damaligen Verhältnisse bescheinigen kann, nach 1945 darauf hingewiesen, dass der Kommentar Stuckart/ Globke im Unterschied zu anderen „besonders für sogenannte Mischlinge günstige Interpretationen enthielt“442. Des weiteren wurde Globke vorgeworfen, dass er trotz seiner angeblichen Gegnerschaft zum Nationalsozialismus im Amt geblieben sei. Dies begründete Globke im Nachhinein damit, dass allein „die Informationsund Hilfsmöglichkeiten seiner Stellung“ ihm die Möglichkeit gegeben habe, im Interesse von Verfolgten zu handeln. Dies gestand ihm übrigens auch der führende Rechtspolitiker der SPD-Bundestagsfraktion, Adolf Arndt, zu, der jedoch monierte, dass Globke objektiv seinen Namen „mit der Unmenschlichkeit“ verbunden habe und daher für eine führende Position in der Bundesregierung „absolut ungeeignet“ sei. Weniger differenziert ging die DDR-Führung mit dem Fall um. Ihr Interesse an Globke war allein dadurch begründet, dass er einer der engsten Mitarbeiter Adenauers war. Mit dem Angriff auf Globke versuchte sie daher den Bundeskanzler zu treffen. Eine gute Gelegenheit gegen Globke vorzugehen, glaubte sie im Eichmann-Prozess von 1961 in Jerusalem gefunden zu haben. Globke wurde von der DDR-Propaganda als „Eichmann Bonns“ attackiert und ihm wurde vorgeworfen, im Dritten Reich Eichmann Liquidierungslisten übergeben zu haben. Obwohl es hierfür keine Beweise gab, sah die Bundesregierung Handlungsbedarf. Wie schon vor einigen Jahren von einem israelischen Historiker herausgearbeitet worden ist, verständigten sich die Bundesregierung und die israelische Regierung darauf, „Globkes Verwicklung in den Eichmann-Prozess zu verhindern“. Sie vereinbarten eine Strategie, sich im Prozess „auf Eichmann zu konzentrieren“.
Ergänzend zu diesem Vorgehen glaubte die Bundesregierung aber auch, die Angriffe auf Globke innenpoltisch abfangen zu müssen. Der Staatssekretär im Justizministerium, Walter Strauß, zu dieser Zeit auch Mitglied im Kuratorium des Instituts für Zeitgeschichte, schickte zu Beginn des Jahres 1961 an dessen Generalsekretär Helmut Krausnick eine Aufzeichnung, die in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte veröffentlicht werden sollte. Der Verfasser des Dokuments war Bernhard Lösener, der wie Globke im Reichsinnenministerium als Ministerialrat tätig gewesen war. Im Unterschied zu Globke war Lösener, obwohl Parteimitglied, 1943 aus dem Innenministerium ausgeschieden. „Wegen Verrat an Führer und Volk“ wurde er Anfang 1945 aus der NSDAP ausgeschlossen. Zu dieser Zeit saß Lösener schon im Gefängnis. Da Lösener im Innenministerium als Rassereferent tätig gewesen, aber am Ende des Dritten Reiches verfolgt worden war, hatte Strauß ihn bereits 1948 gebeten, eine Aufzeichnung über diese Tätigkeit anzufertigen. Diese lag bereits im Juni 1950 vor. Hierin schilderte Lösener seine Beteiligung an der „Judengesetzgebung“ als Kampf um die Einschränkung des Betroffenenkreises, in dem er sich mit Globke einig gewesen sei .
Dass es Strauß und wohl auch der Bundesregierung bei der Veröffentlichung der Aufzeichnung Löseners um eine Aktion zugunsten Globkes ging, erhellen zwei Schreiben des Staatssekretärs. So hatte er in dem bereits erwähnten Schreiben an Krausnick von Anfang Januar 1961 nachdrücklich gebeten, das Dokument „möglichst bald“ zu veröffentlichen, „da die Vorgänge um die Judenfrage nach wie vor von sehr aktuellem Interesse sind“ . Deutlicher wurde Strauß dann in einem Schreiben vom 20. März 1961. Im Hinblick darauf, dass die Herausgeber der Vierteljahrshefte eine Veröffentlichung im Oktoberheft 1961 vorsahen, ließ Strauß wissen: „Mit Rücksicht auf den Eichmann-Prozess und seine Auswirkungen halte ich es nach wie vor für dringend erwünscht, dass wir an dem Juli-Termin festhalten.“ Diesem Appell haben sich die Herausgeber nicht entzogen. Wohl aber hat Theodor Eschenburg, der die Betreuung der Dokumentation übernommen hatte, auf den Text der Einführung von Walter Strauß Einfluss genommen. Auf seine Intervention hin wurden an deren Beginn und Ende allzu pathetische Formulierungen über den als Kronzeugen für Globkes kritische Einstellung gegenüber der Judenpolitik der Nationalsozialisten aufgebotenen Lösener gestrichen. Sätze wie Löseners „Verhalten zeigt exemplarisch, was ein von moralischem Mut erfüllter Beamter sogar auf einem so gefährlichen Arbeitsgebiet wie dem von Dr. Lösener verwalteten an Widerstand zu leisten vermochte“ oder „wenngleich die Veröffentlichung der Aufzeichnungen von Dr. Bernhard Lösener in erster Linie der zeitgeschichtlichen Forschung dient, so soll sie auch die Erinnerung an einen tapferen, in seinem Handeln von seinem Gewissen bestimmten Mann bewahren“, passten Eschenburg zufolge nicht in eine Einführung zu einer Dokumentation in den Vierteljahrsheften, für die sich „im Lauf der Jahre […]ja ein gewisser Stil […] herausgebildet“ habe .
Aus der kurzen Vorbemerkung von Hans Rothfels zum Bericht Löseners in den Viertelsjahrsheften lässt sich eine gewisse Distanz der Herausgeber zum publizierten Dokument ableiten. Denn hierin heißt es, dass es sich um ein „persönliches Dokument“, einen „Rechtfertigungsbericht“ handele, der aber „zugleich doch von großem sachlichen Interesse“ sei. Die Herausgeber hielten jedoch die „ergänzende Einordnung des Dokuments in die größeren Zusammenhänge des Verhältnisses von innerer Verwaltung und nationalsozialistischer Führung sowie die weiterführende, quellenkritisch und historisch vertiefte Auseinandersetzung mit dem Bericht und seinem Gegenstand“ für erforderlich und kündigten eine entsprechende Studie des Instituts für Zeitgeschichte an . Das Institut hat diese Zusage nicht eingehalten. Wohl aber sind bis in die jüngste Zeit Beiträge erschienen, die den exkulpatorischen Charakter der Denkschrift Löseners herausgearbeitet haben. Das gilt insbesondere für das Buch von Cornelia Essner.
Als Kolumnist der Wochenzeitung Die Zeit zeigte Eschenburg deutlich weniger Zurückhaltung, wenn es um die Verteidigung Globkes ging. Gerade in den Wochen, als über die Aufzeichnung Löseners unter den Herausgebern der Vierteljahrshefte debattiert wurde, erhielt Eschenburg ein Schreiben des SPD-Politikers und Bundestagsvizepräsidenten Carlo Schmid, der wie Eschenburg nach dem Krieg der Landesregierung von Württemberg-Hohenzollern angehört hatte. Darin bat Schmid Eschenburg, sich öffentlich, „etwa in der Zeit“, gegen die „Verleumdungskampagne“ gegen Willy Brandt im aufziehenden Bundestagswahlkampf zu äußern. Eschenburg kam diesem Wunsch auf etwas eigenartige Weise nach, indem er zwar die Angriffe gegen Brandt, die dessen Emigrationszeit in Norwegen und Schweden zum Inhalt hatten, in einer Kolumne in der Zeit zurückwies, doch dies nur en passant im Rahmen eines großen Artikels über Hans Globke tat. Warum er so verfuhr, geht aus seinem Antwortschreiben an Carlo Schmid nicht hervor. Denn hierin bestätigte er Schmid, dass auch er die „Propaganda gegen Brandt mit der Aufdeckung seiner angeblichen Vergangenheit äußerst peinlich“ empfinde, um dann fort zu fahren, dass er „auch die Propaganda gegen Globke nicht für fair“ erachte. Obwohl er die Bemerkung anschloss, dass die DDR-Dokumente über Globke „so wenig gravierendes Material“ enthielten, dass es sich nicht lohne, „diesem Beachtung zu schenken“, veröffentlichte er wenige Tage später eine Kolumne in der Zeit, in der – wie bereits gesagt – viel über Globke und wenig über Brandt zu lesen war. Das hatte wohl nicht nur damit zu tun, dass Eschenburg Globke seit den 1930er Jahren – wenn auch oberflächlich – kannte, sondern ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass Eschenburg in der Ära Adenauer im Bundeskanzleramt einund ausging und dabei nicht wenige Gespräche mit Globke führte. Außerdem hatte Eschenburgs eigene Vergangenheit wenig mit der von Willy Brandt gemeinsam, wohl aber viel mit der von Globke. Eschenburg, der stets betonte, ein Gegner des NS-Systems gewesen zu sein, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass er schon im Dritten Reich gewusst habe, dass Globke ebenso zu den Gegnern des NS-Regimes gehört habe wie er selbst. Aufgrund seiner Tätigkeit als Mittelsmann der katholischen Kirche sei Globke „bei der scharfen Bewachung durch die Gestapo in all diesen Jahren permanent der Gefahr einer Verhaftung ausgesetzt“ gewesen. Den Kommentar zu den Nürnberger Gesetzen kommentierte Eschenburg mit den Worten: „Wir dachten freilich in ganz anderen Abwehrkategorien, als es heute jene tun, die nicht unmittelbare Zeugen der Verhältnisse und Vorgänge des nationalsozialistischen Regimes gewesen sind.“ Der „innere Widerstand gegen ein totalitäres Regime“ habe „eben besondere Verhaltensweisen“ verlangt, „die man nicht isoliert beurteilen“ dürfe. Am Ende der Kolumne steht die Forderung, „die Tatbestände genau und einwandfrei festzustellen und sie aus den damaligen Verhältnissen heraus zu sehen“. Dieser Appell wurde im Folgenden zum ceterum censeo Eschenburgs, der seine Kolumne schließlich mit dem Satz beendete: „Manche, die heute leichtfertig und demagogisch ihr Urteil hinausschreien, waren diesen Verhältnissen vielleicht weniger gewachsen als gerade Brandt und Globke.“
Als sich Eschenburg zwölf Jahre später nach dem Ableben Globkes noch einmal öffentlich über diesen äußerte, fand dessen Vergangenheit im NS-Staat nur beiläufige Erwähnung. Selbstverständlich ging es um den Kommentar zu den Nürnberger Gesetzen, über dessen Verfasser Hans Globke er schrieb: „Er war selbst nicht Parteimitglied und tat es im Auftrag, um Schlimmeres zu verhüten, was später auch von jüdischer Seite anerkannt wurde.“ Nach der Publikation dieses Nachrufs auf Globke ist eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Beiträgen erschienen, die den von Stuckart und Globke verfassten Kommentar deutlich kritischer beurteilen. So hat z. B. Lothar Gruchmann darauf hingewiesen, dass der Kommentar zu einer Verschärfung der Verfolgung von sogenannter Rassenschande geführt habe. Andere Wissenschaftler haben sich diesem Urteil angeschlossen. Zwei im Jahr 2009 erschienene Biographien über Hans Globke machen jedoch deutlich, dass dessen Tätigkeit im Dritten Reich in der Forschung nach wie vor unterschiedlich beurteilt wird454. Unabhängig hiervon ist zu konstatieren, dass Globke bis heute in weiten Kreisen der Öffentlichkeit der „vergangenheitspolitische Gottseibeiuns der Bundesrepublik“ geblieben ist, wie es Sven Felix Kellerhoff etwas salopp ausgedrückt hat. Dies hat dazu geführt, dass selbst Schüler Eschenburgs, die für die aktuellen Angriffe auf ihren akademischen Lehrer wenig Verständnis aufbringen, bis heute nicht verstehen, wieso sich Eschenburg nach 1945 so eindeutig für Globke in die Bresche geworfen hat.
Als Ministerialrat nahm Globke im Reichsinnenministerium eine vergleichsweise niedrige Position ein. Immerhin gab es nicht weniger als 40 Beamte, die diesen Rang bekleideten. Ihre Aufgabe war die Mitarbeit an Gesetzund Verordnungsentwürfen und – wie im Fall Globkes – die Ausarbeitung eines Kommentars zu einem Gesetz. Damit war sicherlich die Chance verbunden, Maßnahmen der Regierung zu verzögern oder zumindest teilweise auch zu entschärfen. Daneben hatten die Referenten noch die Möglichkeit, in Einzelfällen Bedrohten zu helfen. All dies getan zu haben, hat Globke im Nachhinein für sich reklamiert und Eschenburg hat ihm dies zugestanden. Der Tübinger Politologe hat aber auch für andere Beamte des Dritten Reiches Partei ergriffen, die höhere Positionen eingenommen haben. Dabei handelt es sich um Lutz Graf Schwerin von Krosigk und die Spitzendiplomaten Bernhard von Bülow und Ernst von Weizsäcker.
Lutz Graf Schwerin von Krosigk hatte im Reichsfinanzministerium Karriere gemacht. Nach seinem Eintritt zu Beginn der 1920er Jahre stieg er bis 1929 zum Ministerialdirektor auf. Aus dieser Stellung heraus ernannte ihn Reichskanzler Franz von Papen 1932 zum Reichsfinanzminister. Auf diesem Posten verblieb Schwerin von Krosigk bis 1945. In der Regierung Dönitz war er mit der Leitung des Reichsfinanzministeriums und des Auswärtigen Amtes betraut und hat die Kapitulationsurkunde unterschrieben. Im Wilhelmstraßenprozess wurde er im April 1949 u. a. wegen der Plünderung des Eigentums deportierter Juden durch die Finanzämter als Kriegsverbrecher zu zehn Jahren Haft verurteilt, aber bereits Ende Januar 1951 amnestiert. Im Jahr 1977, kurz nach dem Erscheinen seiner Erinnerungen, ist er gestorben. In welchem Ausmaß Schwerin von Krosigk für die antijüdischen Maßnahmen des Finanzministeriums verantwortlich war, ist noch nicht ganz geklärt. Es ist richtig, dass er in erster Linie für den Haushalt zuständig war und der Steuerbereich und damit auch die Enteignung der Juden von Staatsekretär Fritz Reinhardt geleitet wurden. Aber die von Schwerin von Krosigk vorgenommene Unterzeichnung der Verordnung über eine Buße der Juden in Höhe von einer Milliarde Reichsmark nach der „Reichskristallnacht“, für die er in Nürnberg als Kriegsverbrecher verurteilt wurde, belegt zumindest eine Beteiligung an der Judenpolitik des Reichsfinanzministeriums.
Das Erscheinen der Erinnerungen Schwerin von Krosigks nahm Eschenburg zum Anlass für einen „Rückblick auf die Diktatur“. Darin schildert er Schwerin von Krosigk als einen hervorragenden Beamten, der – wie andere auch – „frei von reaktionären Tendenzen, nicht aus Tradition oder Ideologie, sondern um ihrer amtlichen Funktion willen, eben der ‚Regierbarkeit' wegen, zum Autoritären“ neigte. Eschenburg konstatiert, dass der Nationalsozialismus für Schwerin von Krosigk „eine völlig fremde Welt“ gewesen sei, „zu der er keinen Zutritt haben wollte, wenn er sich auch vielen Entscheidungen anpassen mußte“. Eschenburg ist der Ansicht, dass Schwerin von Krosigk die erwähnte Verordnung über eine Buße der Juden „in der vergeblichen Hoffnung“ unterschrieben habe, „eine ‚Nacht der langen Messer' gegen die Juden zu verhindern“. Obwohl ihm dies nicht gelungen sei, habe Schwerin von Krosigk trotzdem weiter gehofft, „manches zu mildern, wenn nicht sogar abzuwehren“. Zum Widerstand habe Schwerin von Krosigk nicht gehört und er habe sich nach den anfänglichen Erfolgen im Krieg „von der allgemeinen Begeisterung“ anstecken lassen. Es spricht viel dafür, dass Eschenburg mit dieser Feststellung auch das eigene Erleben in den Blick nimmt, wenn er schreibt: „Vielen ist es damals nicht anders ergangen, auch wenn sie es nicht eingestanden haben wie Schwerin.“ Am Ende seiner Ausführungen hält Eschenburg wiederum fest, dass für die „Amtsund Dienstvorstellungen“ Schwerins in der NS-Diktatur, die von nicht wenigen Amtsträgern geteilt worden seien, kaum jemand Verständnis aufbringen könne, „der die grauenhafte Periode durch eigenes Erleben nicht gekannt hat“.
Diesen Vorwurf musste sich auch Hans-Jürgen Döscher gefallen lassen, der 1987 eine Studie über das Auswärtige Amt im Dritten Reich veröffentlichte. In einer ausführlichen Rezension für die Wochenzeitung Die Zeit setzte sich Eschenburg mit diesem Buch, einer Dissertation, auseinander und konzentrierte sich dabei auf die beiden damaligen Staatssekretäre Bernhard von Bülow (Amtsinhaber von 1930 bis zu seinem Tod 1936) und Ernst von Weizsäcker (Amtsinhaber von 1938 bis 1943). Ernst von Weizsäcker war in Nürnberg insbesondere wegen seiner Mitwirkung am Transport französischer Juden nach Auschwitz zu fünf Haft verurteilt worden. Gleichwohl ist das „Ausmaß der Schuld“ dieses „konservativen leitenden Beamten […] nach wie vor umstritten“. Dasselbe gilt für das Handeln von Bülows, dessen Tätigkeit im Auswärtigen Amt kürzlich eine angemessene Würdigung gefunden hat. Eschenburgs Verteidigung der Tätigkeit dieser beiden Spitzendiplomaten, die wie im Fall von Schwerin von Krosigk starke apologetische Züge aufweist, wirft Döscher eine „Unkenntnis des ‚Ambiente'“ des Auswärtigen Amtes vor, die die ganze Darstellung durchziehe. Die fehlende Kenntnis des damaligen Umfeldes oder Milieus führt Eschenburg darauf zurück, dass Döscher „aus eigenem Erleben das damalige ‚Ambiente' nicht kennen“ könne und er daher „wie manche andere, vierzig Jahre nach dem Ende der braunen Diktatur trotz reichen Materials die Verhaltensweisen in einer totalitären Diktatur nach rechtsstaatlichen und demokratischen Begriffen mißt“. Dieses Urteil ist insofern bemerkenswert, als Eschenburg, der nicht nur Politikwissenschaftler, sondern als langjähriger Herausgeber der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte und Mitglied des Kuratoriums bzw. Wissenschaftlichen Beirats des Instituts für Zeitgeschichte auch eine wichtige Rolle für die zeitgeschichtliche Forschung in der Bundesrepublik spielte, hiermit eine Vetoposition des Zeitzeugen bzw. der Erlebnisgeneration für die Zeitgeschichtsschreibung reklamierte.
Als die Rezension zu Döschers Buch erschien, hatte Eschenburg bereits begonnen, sich intensiver mit seiner eigenen Vergangenheit zu beschäftigen. So hatten Wolf Jobst Siedler und Joachim Fest in den Jahren 1984 und 1985 „umfangreiche Gespräche“ mit Eschenburg geführt und darüber Aufzeichnungen angefertigt. Diese waren später weitgehend die Grundlage für die beiden Bände der Erinnerungen, deren zweiter erst nach Eschenburgs Tod erschienen ist. Im Jahr 1986 hatte wiederum Ingeborg Malek-Kohler ihre Memoiren veröffentlicht, die ein Vorwort von Theodor Eschenburg enthalten. Bei der Verfasserin handelt es sich um eine
„Halbjüdin“, die 1937 mit einer Sondergenehmigung, an deren Zustandekommen wohl auch Globke mitgewirkt hatte, Herbert Engelsing geheiratet hatte. Engelsing war Justitiar bzw. Herstellungsgruppenleiter von Tobis, einer großen Filmproduktionsgesellschaft, die wesentlichen Anteil an der NS-Filmproduktion gehabt hat. Das Büro dieser Gesellschaft befand sich im selben Gebäude wie die von Eschenburg geleitete Kartellbehörde. So lernten sich die beiden Männer kennen und fanden sich sympathisch. Hieraus entwickelte sich eine enge Freundschaft, in die auch die Ehefrauen einbezogen waren. Eschenburgs waren die Trauzeugen bei der Hochzeit der Engelsings, und Frau Engelsing wurde 1939 Patentante der zweiten Tochter der Eschenburgs. Den Beitritt zur NSDAP als „Märzgefallener“ im Jahr 1933 habe Engelsing Eschenburg gegenüber mit den Worten begründet: „Man müsse sich einem solchen Regime äußerlich anpassen, um die eigene Substanz zu wahren.“ Das Vorwort Eschenburgs ist nicht nur deshalb von besonderem Interesse, da es über einen Mann handelte, dessen Lebensweg Eschenburg nicht nur sehr gut kannte, sondern der auch in einer vergleichbaren Situation wie er selbst im Dritten Reich gelebt hat. Diese beschrieb Eschenburg mit den Worten: „Das Leben in wirtschaftlich, beruflich und gesellschaftlich gehobener Position wird erzählt, über einen Ehemann, der nicht im Zentrum der Politik gestanden, wohl aber in einem wichtigen Randgebiet der damaligen Politik gewirkt hat. An dem Leben dieser Familie, deren Freundesund Bekanntenkreis, eben deren gesellschaftlicher Umgebung, ist das Charakteristische, dem Nationalsozialismus nahesein zu müssen und ihm doch fernzubleiben, um in einer getarnten inneren Emigration auszuharren.“466 Diese Bewertung leitet Eschenburg aus der eigenen Erfahrung, also der Zeitzeugenschaft, ab, wenn er ausführt: „Nicht weniges“, was die Verfasserin ausbreite, „habe ich in Kummer, aber auch in Glück miterlebt. Nicht nur aus dem, was man unbewältigte Vergangenheit nennt, und aus fehlendem Interesse ist diese Zeit so schwer zu verstehen. Vieles ist nicht aus geschriebenen oder gedruckten Papieren zu entnehmen, auf die der Historiker angewiesen ist.“
Dass sich Eschenburg in den 1980er Jahren intensiver als zuvor mit der NSVergangenheit zu befassen und damit auch über sein eigenes Leben in diesen zwölf Jahren Rechenschaft abzulegen begann, hatte selbstverständlich damit zu tun, dass er mittlerweile das 80. Lebensjahr überschritten hatte und mit Bitten um Stellungnahmen von Dritten, sich hierüber zu äußern, konfrontiert wurde. Es war aber auch darauf zurück zu führen, dass sich die Einstellung der Gesellschaft zur NS-Vergangenheit in diesen Jahren zu ändern begonnen hatte. So hat Hermann Lübbe in dem bereits erwähnten Aufsatz von 1983 bereits festgestellt, dass die „Position des Nationalsozialismus […] im Vergangenheitshorizont der Deutschen emotional an Aufdringlichkeit gewonnen“ habe, je tiefer er „chronologisch in diesen Vergangenheitshorizont zurückgesunken“ sei. Ernst Nolte hat diesen Zusammenhang in die Formel von der „Vergangenheit, die nicht vergehen will“ gefasst. Weniger spektakulär, aber in die gleiche Richtung zielend, hat Andreas Wirsching in seiner monumentalen Darstellung über die Geschichte der Bundesrepublik von 1982 bis 1990 eine „Rückkehr der Geschichte“ konstatiert, in deren Zentrum der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit gestanden habe.
In diesem Kontext sind die Kapitel über die NS-Diktatur im zweiten Band der Erinnerungen Eschenburgs zu lesen, wobei konstatiert werden muss, dass Dritte in den Text eingegriffen haben. Insgesamt entsprechen aber seine Äußerungen in diesem Werk den Aussagen und Bewertungen, die wir bisher von ihm im Hinblick auf andere Akteure bereits kennen gelernt haben. Eschenburg besteht darauf, ein „Gegner des Regimes“ gewesen zu sein, der aber um des „Berufes und des Überlebens willen“ sein „Auskommen mit den Machthabern und ihren Funktionären“ suchen musste. Sein damaliges Leben beschreibt er als ein „Versteckspielen in einem totalitären Staat“, das „unweigerlich etwas Deformierendes“ gehabt und „sehr viel Kraft“ gefordert habe, „um unbeschädigt daraus hervorzugehen“. Eschenburg bekennt, dass ihn „die Angst vor Folter und Prügelstrafe“, die durch umlaufende Gerüchte über die Konzentrationslager ausgelöst worden sei, „nie ganz verlassen“ habe. Wenn es brenzlig wurde und die Gefahr bestand, als politischer Gegner enttarnt zu werden, machte sich Eschenburg aus dem Staub, so z. B. anlässlich des 50. Geburtstages des Verlegers Ernst Rowohlt, als einer der Anwesenden mit „Geist und Galle“ über das Regime herzog. „Nicht aufzufallen und schon gar nicht zu provozieren“, war Eschenburgs Devise.
Eschenburg haben wegen seiner Vergangenheit im NS-Regime, in dem er Kompromisse gemacht und am Funktionieren des Systems mitgewirkt hat, nach 1945 anscheinend kaum Gewissensbisse geplagt. Dies erhellt zum Beispiel sein später Bericht über seine kurze Mitgliedschaft in einem Motorsturm der SS zu Beginn des Dritten Reiches, den er mit dem lakonischen Satz beschließt: „Es war eine Episode, nicht sehr rühmlich, aber ich fühlte mich durch sie auch nicht sehr belastet.“ Da er Widerstand für aussichtslos hielt, blieb nach seinem Dafürhalten nur ein Arrangement mit dem Regime übrig. Es hat ihn geärgert, wenn Historiker die Zwangslagen, die für Eschenburg und für diejenigen, die im Dritten Reich lebten und überleben wollten, offensichtlich waren, nicht in ihre Betrachtungen einbezogen und auf der Grundlage schriftlicher Dokumente Alternativen des Handelns der damaligen Akteure behaupteten. Deshalb betonte er die Vetoposition des Zeitzeugen, die aus wissenschaftlicher Sicht mehr als problematisch ist. Gleichwohl ist Eschenburg zuzugestehen, dass sein Anliegen, die Spezifik eines totalitären Regimes bei der Beurteilung des Handelns der in ihm agierenden Akteure zu berücksichtigen, gerechtfertigt war. Dass dieser Forderung in der Geschichtsschreibung über das Dritte Reich nicht immer Rechnung getragen wurde und wird, ist offensichtlich. Das heißt aber nicht, dass Geschichtsschreibung nicht in der Lage ist, das „Ambiente“ – um mit Eschenburg zu sprechen – einer Zeit zu erkennen und in die Betrachtung einzubeziehen. Jeder Akteur, der an der politischen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Gestaltung einer Gesellschaft beteiligt ist, muss sich gefallen lassen, dass sich die Geschichtsschreibung mit ihm auseinandersetzt und sein Handeln kritisch unter die Lupe nimmt. Das gilt auch für Theodor Eschenburg, dem auch vorzuwerfen ist, dass seine Betrachtungen über das NS-Regime nicht frei von Exkulpationsbemühungen waren.