Vom Anti-Parlamentarier zum „kalten Arisierer“ jüdischer Unternehmen in Europa Theodor Eschenburg in Weimarer Republik und Drittem Reich

[Erstveröffentlichung: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 63 (2015), S. 33-58. Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung der Verfasserin und der Redaktion (Hans Woller und Jürgen Zarusky).]

Wie man den Faden verliert – Nachdenken über Theodor Eschenburg

„Der Faden ist gerissen“, lautet der Titel eines 1977 erschienenen Werks, in dem die französischen Philosophen, Kollegen und Freunde Gilles Deleuze und Michel Foucault aufeinander Bezug nehmen. Der Bruch des „Ariadnefadens“, mit dem Foucault die überlieferte griechische Mythologie umschreibt und sich in Anspielung auf Deleuze gegen die Tradition des abendländischen Denkens wendet, versinnbildlicht die Absage an Identität und Einheit des Subjekts, dieser aus „Erinnerung und Wiedererkennung verliebt geflochtenen Schnur“. Vor allem Deleuze dekonstruiert in seiner Philosophie radikal die seiner Meinung nach überkommenen Denkweisen der westlichen Moderne, die auf Repräsentation, ganzheitlicher Identität und Repetition beruhten. Durch eben jene Verdinglichung des Denkens werde das zu Denkende bereits vorweggenommen und vorausgesetzt und damit gleichzeitig auch bestimmt, was nicht gedacht werden soll. Deleuze setzt dieser Verdinglichung eine Ethik des Ereignisses entgegen, in der Denken als Geschehen eigenen Rechts gilt. Philosophie im Sinne von Deleuze wäre demnach nicht auf Wissenszuwachs und die Aufdeckung der Wahrheit gerichtet, sondern orientierte sich an einem Denken, das einer Okkasion des Möglichkeitszuwachses verpflichtet ist, also eine Verschiebung von Wahrnehmungen anstrebt und die Öffnung von Perspektiven im Sinne eines Zugewinns an Differenz herbeiführen will.

Der Faden, den die Prinzessin Ariadne für Theseus knüpfte und diesen damit aus dem Labyrinth führte, scheint im Falle Theodor Eschenburgs aus besonders festem Garn zu bestehen. Die Biografie des Politikwissenschaftlers und Historikers wurde bislang als stabiles identitäres Gebäude präsentiert, in dem alles „draußen vor der Tür“ bleiben musste, das der narrativ konstruierten, harmonischen Statik des Objektes hätte abträglich sein können. Einwänden, die diesem Denken andere Optionen im Sinne des von Deleuze formulierten Möglichkeitszuwachses an die Seite zu stellen versuchten, traten die Architekten und Türhüter dieses Gebäudes, allen voran die Journalistin Sibylle Krause-Burger, der Historiker Gerhard Lehmbruch und der Kulturwissenschaftler und Journalist Hans-Joachim Lang, mit Heftigkeit entgegen.

Doch ist der Faden, der Interpretation und Repräsentation verknüpfte, der Identität als Kontinuität und Einheit herstellte, trotz aller Abwehrversuche zerrissen. Das auf Kohärenz ausgelegte Bild Theodor Eschenburgs, die Erfindung des harmonischen, ganzheitlichen Ichs, das sich ausgesprochen gut mit der die gesamte deutsche Bildungsgeschichte durchziehenden Konstruktion der Persönlichkeit verträgt, ist nicht mehr aufrechtzuerhalten. Doch was soll an seine Stelle treten? Die nachfolgenden Ausführungen verstehen sich in Anlehnung an Deleuze und unter Rückgriff auf bislang unerschlossene Quellen aus Archiven in Prag, Stockholm, Berlin, München, Graz, Stuttgart und Sankt Augustin als neue und bislang ausgeschlossene Möglichkeit des wissenschaftlichen Nachdenkens über Theodor Eschenburg

Ziel dieses Aufsatzes ist es, die bisherige Erzählung über Theodor Eschenburg, die mehr über das Autoritätsverhältnis zwischen akademischen Lehrern und Schülern sowie die damit zusammenhängende Offenheit der historischen Forschung als über Eschenburg selbst aussagt, um ein paar Punkte zu bereichern. Mein Diskussionsbeitrag ist in drei Kapitel gegliedert. Ein erster Teil beschäftigt sich mit dem hegemonialen Narrativ der bisherigen Debatte, dem ich im zweiten Abschnitt eine alternative Lesart zur Seite stellen möchte. Im dritten und letzten Teil werde ich unter Rückgriff auf Deleuze mögliche weitere Entwicklungen der zukünftigen Forschung skizzieren.

 
< Zurück   INHALT   Weiter >