Die Gestalt narrativer Interviews

An biographische Daten gelangen Forscherinnen und Forscher vornehmlich durch narrative Interviews im Sinne Fritz Schützes (vgl. Friebertshäuser 2006, S. 298; Alheit und Dausien 2006, S. 443). Narrative Interviews können als monologische Interviewform klassifiziert werden. Laut Helfferich (2009, S. 48) sind sie recht weit entfernt von der natürlichen Alltagskommunikation, und damit weitaus artifizieller, d.h. konstruierter als alltägliche Unterhaltungen, (teilnehmende) Beobachtungen oder dialogische Gesprächssituationen. Schütze, der als Begründer des narrativen Interviews gilt (vgl. Jakob 2010, S. 219), hat das narrative Interview im „Kontext der Erforschung kommunaler Entscheidungsund Machtstrukturen entwickelt“ (Mey 2000, S. 4). Innerhalb narrativer Interviews geben „autobiographische Stegreiferzählungen“ Auskunft über „die zeitlichen Verhältnisse und die sachliche Abfolge der von ihnen repräsentierten lebensgeschichtlichen Prozesse“ (Schütze 1983, S. 285). Diese Stegreiferzählungen – oder auch einfach nur Erzählungen – sind für Schütze von zentraler Bedeutung für die Rekonstruktion von Biographien.

Schütze ging davon aus, dass es zwischen dem gelebten und dem erzählten Leben Analogien gibt (als ‚Homologiethese' bezeichnet[1]; vgl. Schütze 1984, S. 78). Da Biographieträgerinnen und -träger ihre Geschichten während des Erzählens für Zuhörende plausibilisieren, also die Erzählung stimmig und konsistent gestalten müssen, kommen sie nicht umhin, auch solche Passagen zu schildern, die sie ggf. aussparen wollen. Diesen Mechanismus bezeichnet Schütze als Erzählzwänge (vgl. Mey 2000, S. 4). Schütze (1983, S. 285) teilt das narrative in „drei zentrale Teile“ (vgl. auch Schütze 1987, S. 49f.).

Am Anfang steht die durch den Interviewenden zu formulierende Erzählaufforderung. Jakob (2010, S. 225) bezeichnet die Anfangssituation des Interviews als „Aushandlungsprozess, in dem der/die Interviewer/-in die Anforderungen und Besonderheiten eines narrativen Interviews erläutern muss“ (vgl. auch Fuchs-Heinritz 2009, S. 259ff.). Besteht hierüber Konsens zwischen den Interviewten und Interviewenden, kann eine „offen gehaltene Erzählaufforderung formuliert werden, die vom/von der Erzähler/-in ratifiziert werden muss“ (Jakob 2010, S. 225). Die Erzählaufforderung soll dabei einen „zeitlichen Anfangspunkt für das Erzählte vorgeben und zur Erzählung des danach folgenden Ablaufs des Geschehens auffordern“ – mit Hilfe einer „temporalen Strukturierung“ sei es für die erzählende Person einfacher „in einen Fluss des Erinnerns zu gelangen“ – und im Vorfeld „sorgfältig geplant werden“ (Rosenthal 2011, S. 158; vgl. auch Fuchs-Heinritz 2009, S. 56ff.). Sie kann ganz offene Formen annehmen und dazu auffordern, die Lebensgeschichte zu erzählen oder beschränkend bereits verknüpft sein mit „einem thematischen Schwerpunkt“ (Rosenthal 2011, S. 159), dabei aber unbedingt autonom durch die Interviewte bzw. den Interviewten gestaltet werden (vgl. Hopf 2010, S. 356).

Innerhalb der Erzählung – die im Gegensatz zum Bericht oder zur Argumentation den tatsächlich erlebten Handlungen am nächsten sind und (vgl. Rosenthal 2011, S. 153) die die Biographieträgerin bzw. den -träger vor die Anforderung stellt, sich Erfahrungen, Ereignisse und Erlebnisse zu vergegenwärtigen und diese zur Sprache zu bringen – werden, wie schon angedeutet, „Zugzwänge des Erzählens“ wirksam (Schütze 1976, S. 224). Erforderlich ist die Darstellung einer bestimmten Gestalt der Erzählung, um das Erzählte in seiner Struktur für Dritte nachvollziehbar und verständlich zu machen („Gestaltschließungszwang“) und sich dabei auf das Kondensat der Ereignisabfolge zu beschränken („Kondensierungszwang“), wobei die Darstellung sich an der tatsächlichen erlebten Abfolge orientiert und dabei „Übergänge zwischen den Ereignisknotenpunkten detailliert werden“ („Detaillierungszwang“; ebd., S. 224f.). Daraus folgt, dass auch schambehaftete,‚unangenehme' Passagen, die mit den Tatsachen verknüpft sind und ohne die die Ereignisabfolge nicht verstehbar wäre, zur Sprache kommen und das „System der Indexikalitäten“ aufrecht erhalten wird, welches „in der perspektivischen Rückbezogenheit aller Handlungen und Handlungserzeugnisse auf den je aktuellen, soziohistorisch eindeutig verorteten Existenzpunkt des je Handelnden bzw. in Interaktionen auch: des die jeweilige Handlung je Interpretierenden“ besteht (ebd., S. 226) oder einfacher als „die Kontextgebundenheit, die Bezugnahme auf eine konkrete Situation“ beschrieben werden kann (Rosenthal 2011, S. 153). „Am Grade der Indexikalisierung einer Sachverhaltsdarstellung, also am Grade der Narrativität lässt sich [auch, d. Verf.] ablesen, wie nahe der Erzähler dem damals erlebten und handelnd mitvollzogenen Geschehensverlauf ist“ (Fuchs-Heinritz 2009, S. 198).[2] Allerdings sind „bewertende und argumentative Elemente in einer Erzählung […] geradezu notwendige Elemente“ (Fuchs-Heinritz 2009, S. 201), um „die erzählte Geschichte nachvollziehbar, verständlich und akzeptabel“ zu machen (Straub 1989, S. 148f. zit. n. Fuchs-Heinritz 2009, S. 201).

Interviewerinnen und Interviewer sind angehalten, die Erzählende bzw. den Erzählenden „durch parasprachliche Bekundungen wie „mhm“ […], durch Blickkontakt und andere leibliche Aufmerksamkeitsbekundungen“ in seiner Erzählung zu unterstützen, was bei den vorliegenden Interviews stets auch gemacht wurde, insbesondere durch eine deutliche körperliche Zuwendung und einen so gearteten konstanten Blickkontakt, dass dieser möglichst wenig als aufdringlich empfunden werden sollte (vgl. Rosenthal 2011, S. 160; vgl. auch Fuchs-Heinritz 2009, S. 269ff.). Zudem wurden kurze, schlagwortartige Notizen gemacht (vgl. ebd., S. 161). Im Idealfall folgt am Ende der Haupterzählung [3] eine Erzählkoda, die den Abschluss der Erzählaufforderung markiert. Es folgt ein Nachfrageteil, der zum Ziel hat, das „tangentielle Erzählpotential“ hervorzuholen an Stellen, die uneindeutig, gerafft oder verkürzt dargestellt wurden (Schütze 1983, S. 285). Dieser Teil „ist von erheblicher […] Bedeutung“, denn mit den Nachfragen wird Interesse vermittelt und Interviewte bei „für sie bedeutsamen Klärungen des bereits Erwähnten“ unterstützt (Rosenthal 2011, S. 161). Auch die Nachfragen sollten sich am thematischen Verlauf der Haupterzählung orientieren (vgl. ebd., S. 162). Schwierigkeiten entstehen dann, wenn durch die Nachfragen neue Erzählstränge eröffnet oder neue thematische Bereiche erschlossen werden. Dem Prinzip der Kommunikation folgend wurde in der vorliegenden Arbeit das Gespräch von neuen Strängen aus weitergeführt, was dabei jedoch mitunter zu thematischen Brüchen führen musste, die aber in Kauf genommen wurden.

Abschließend werden Abstraktionen einzelner Passagen und Zusammenhänge erfragt und „Warum-Fragen“ argumentativ beantwortet (Schütze 1983, S. 285). Der Interviewschluss wurde in jedem Interview damit beendet, dass die Interviewten um resümierende oder ergänze Informationen gebeten wurden, um ihnen das letzte Wort zu geben (vgl. Rosenthal 2011, S. 165). Schütze (1983, S. 285f.) meint, dass mit diesem Dreischritt – Haupterzählung, immanente und exmanente Nachfragen –„Ereignisverstrickungen und die lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtung des Biographieträgers“ reproduziert werden können und zudem „Relevanzsetzungen“ und weniger bewusste „Stümpfe der Erfahrung von Ereignissen und Entwicklungen“ deutlich werden; dabei treten nicht nur der „"äußerliche" Ereignisablauf, sondern auch die "inneren Reaktionen"“ zu Tage.

  • [1] Hierzu gibt es gegenteilige Meinungen (vgl. Fuchs-Heinritz 2009, 203ff.)
  • [2] Dazu Schütze: „Ob noch erzählt und nicht bereits in allgemeinen Formulierungen kommuniziert wird, die von der angesprochenen Handlungswirklichkeit detachiert sind und manipulativen Verzerrungen offenstehen, kann besonders leicht und bequem an den Indizes des kognitiv orientierenden Bezugsrahmens festgestellt werden; Beispiele für derartige explizit indexikale Sprachformen sind Kennzeichnungen, Namen, Demonstrativa, Pronomina, Raumund Zeitbezüge, exophorische deiktische Partikeln (wie: hier, dort, jetzt, damals usw. […]). Das mehr oder weniger systematische und relevante Vorkommen explizit indexikaler Sprachformen kann mithin als Indikator für den Narrativitätsgrad der retrospektiven Aufbereitung eigenerlebter Erfahrungen aufgefaßt [sic] werden“ (Schütze 1976, S. 226)
  • [3] Die Dauer der Haupterzählung stellte bei verschiedenen Interviews ein Problem dar, insbesondere das erste Interview zeugt davon. Hier werden sehr gerafft Informationen ohne Erzählcharakter dargestellt. Rosenthal (2011, S. 161) schreibt dazu, dass eine Haupterzählung zwar mehrere Stunden dauern, aber auch „in nur wenigen Minuten“ ‚abgehandelt' werden kann. Eine so deutliche Raffung einer zeitlich langen Phase mag der Bedeutung der Haupterzählung wiedersprechen. Hier können aber andere Probleme zum Tragen kommen. So kann die Erwartung seitens der bzw. des Interviewten entstehen, man wolle nicht langweilen, die Anforderungen der Erzählaufforderung werden nicht klar und / oder wurden nicht klar formuliert, der thematische Fokus wurde bei der Akquise der zu Interviewenden und in der Erzählaufforderung unterschiedlich kommuniziert, was zu Irritationen führen mag (im ersten Interview scheint dies mit ein Grund für die verkürzte Darstellung zu sein), die Interviewsituation ist für eine oder beide Seiten ungewohnt und es fehlt an Ruhe – verschiedenste Gründe sind denkbar (vgl. dazu auch die Ausführungen zur Interviewsituation in Kap. 4.2.4). Mey (2000, S. 3) fasst solche Gründe mit dem Begriff der Kontextspezifität zusammen, indem er auch Beispiele nennt, bei denen Befragte ihr Erzählverhalten ändern, je nachdem, wer als Interviewerin resp. Interviewer fungiert (vgl. ebd., S. 13). Zudem sind manche„gute Erzähler und schlagen uns für Stunden in den Bann ihrer Lebenserinnerungen“, während andere „nur ein sprödes und knappes Raster ihrer Lebensdaten“ anbieten (Fuchs-Heinritz 2009, S. 181), zudem können menschliche Eigenschaften wie Verschlossenheit, Schüchternheit oder Zurückhaltung die Dichte, Länge und Qualität von Lebensgeschichten beeinflussen (vgl. ebd., 263). Hier wird die These vertreten, dass ein allzu dogmatischer Umgang mit den Einzelnen idealtypischen Anforderungen zwar ein erstrebenswertes Ziel darstellen kann, dabei jedoch nicht unbedingt zwingend erforderlich ist für qualitativ hochwertige und insbesondere brauchbare Daten (dies zeigen etwa das erste und vierte Interview; vgl. Kap. 5.1 und 5.2)
 
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